Als ich mich entschied, statt 15 Monaten bei der Bundeswehr lieber 20 beim Zivildienst zu verbringen, spielten dabei die in der Darlegung der Gewissensgründe angeführten pazifistischen Motive durchaus eine Rolle - viel dringlicher und auch konkreter allerdings war die Furcht davor, mit den falschen "Kameraden" in einer Kasernensituation festzusitzen. Aus mündlichen Erzählungen und einschlägiger Literatur hatte ich ja eine Vorstellung davon destilliert, dass nach den drei Monaten Grundwehrdienst eine endlose Ödnis beginnt, die grundsätzlich mit Saufen, Pornos, lautem Furzen und gnadenlosem Mobbing eines jeden, der nicht ständig Puffwitze erzählt und homophobe Sprüche durch die Gegend gröhlt (und was man unter Jungmännern sonst noch so zu tun hat), sondern vielleicht mal ein Buch liest, totgeschlagen wird. Eine Vorstellung übrigens, die mir später vielfach von Bekannten bestätigt wurde und die ja auch nicht so weit hergeholt ist.
Schon auf Klassenfahrten konnte man ja in manchen Herbergszimmern die bizarren Demütigungsrituale der Junggorillas verfolgen, in den Schulbussen - auch so eine unentrinnbare Situation - wurden Kinder und Jugendliche psychisch gebrochen, Gott, war ich froh, dass ich nicht auf dem Dorf wohnte! Denn bei meinen sehr wenigen Fahrten mit einem solchen Bahn- oder Postbus (wo hatte die Post damals eigentlich noch überall ihre Finger drin?), wenn ich nach der Schule mal jemanden in Lenglern oder Bovenden besuchte und also mitfahren musste, erstarrte ich innerlich immer mehr, als ich mitbekam, wie die kleinsten, blassesten, schüchternsten Mitschüler auf entsetzliche Weise gedemütigt wurden, sie schlichen durch den Gang nach hinten und wurden unter lautem Gelächter von jedem Sitz aus geohrfeigt, mit Müll beworfen, bedroht und verhöhnt, man stellte ihnen das Bein und boxte sie in die Rippen, spuckte sie an, riss ihre Kleidungsstücke ab oder beschädigte ihre Schulranzen, und während die Fahrt über die Dörfer sich hinzog, taten vor allem jene, deren eigener Status eher prekär war, sich durch besonders brutales und gehässiges Verhalten gegenüber den sogenannten "Omega-Tieren" hervor - ja, den Begriff hatte man im Biologieunterricht aufgeschnappt, ihn gleich fröhlich weiterverwendet und den bedauernswerten Mobbing-Opfern angeheftet. Diese Langeweile auf den täglichen Fahrten will ja irgendwie vertrieben werden.
Was mich auch an den verbitterten Menschen beim Zoll erinnert, der sich entsetzlich zu langweilen schien. Jedesmal, wenn ich ihn aufsuchen musste, um mich inquisitorisch über den Inhalt einer Lieferung ausländischer Comics ausfragen zu lassen, dann vor seinen Augen das mit dickem Klebeband umhüllte Paket mit bloßen Händen öffnen und den Müll hinterher mitnehmen musste, schien es mir ganz folgerichtig, dass er so war - Langeweile gepaart mit noch so kleiner Macht über andere Menschen scheint nun mal aus vielen Mitbürgern das Schlechteste hervorzuholen.
Gedanken dieser Art machte ich mir im Revier der Stadt Dijon, während ich in einer Einzelzelle herumstand und mein Gepäck durchsucht wurde. Man hatte uns mit insgesamt fünf uniformierten und bewaffneten Beamten, einem Hund und zwei Autos von unserer Trampstelle dorthin verbracht, keine Gründe genannt, böse angesehen, keine Fragen beantwortet (etwa die, ob das Trampen generell oder aber an der von uns gewählten Stelle verboten sei), dann voneinander getrennt und das Gepäck abgenommen. Nach langer Zeit, in der ich zu befürchten begann, man wolle mir etwas anhängen und "finde" plötzlich dieses oder jenes in meinem Rucksack, trat grinsend einer der jüngeren Uniformträger zu mir in die Zelle und bedeutete mir, die Kleidung abzulegen. Und bevor ich nicht komplett entkleidet war und dazu eine demütigende Haltung eingenommen hatte, war der junge Mann, der unterdessen an seiner Zigarette zog und mich triumphierend ansah, auch nicht fertig.
Ohne weitere Erklärung ließ man uns nach Stunden unsere zerwühlten Sachen wieder einpacken und warf uns hinaus. Eher schweigsam steuerten wir die Ortsmitte an, kauften einige Croissants, tranken einen Kaffee und stellten uns wiederum zum Trampen auf. Ein LKW hielt. Der Fahrer ließ uns einsteigen. Er fuhr sehr langsam, die Richtung stimmte nicht, er musste eine Stichfahrt machen, alles egal, bloß weg aus Dijon, dann schon lieber in der Pampa auf einem Schlachthof herumstehen. Es war ein Tiertransporter.
Als der Fahrer so gemütlich rauchend und plaudernd mit dem blutüberströmten Schlachter neben dem Transporter stand, während wir eine knappe Stunde im Führerhaus verharrten, lachten wir zum ersten Mal wieder und versicherten uns gegenseitig, dass dies ja kein so optimaler Beginn der Tramptour gewesen sei, aber immerhin, nun seien wir unterwegs und es könne ja nur noch besser werden.
Dachten wir wirklich.
Hö. Hö.
[Könnte evtl. irgendwann weitergehen]
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Wenn man Anfang der 90er in Bremen startete und dann etwa 900 km, das entsprach damals immerhin fast 7 mio. hintereinandergelegten 10-DM-Scheinen, in Richtung Süd-Süd-West fuhr, erreichte man eine französische Senfstadt, und diejenigen, die noch zur Senfgeneration gehören (mir legte nämlich jüngst jemand seine Theorie dar, dass sich die deutsche Bevölkerung anhand der zur Bratwurst gewählten Geschmackszutat, Senf oder Ketchup, ganz hervorragend in zwei Alterskohorten aufteilen lasse), werden wissen, dass damit nur Dijon gemeint sein kann - allen anderen, also der jungen, der Ketchupgeneration sei es hiermit nebenbei mitgeteilt. Dijon also war das Fahrtziel des jungen und auf mich für sein Alter zu konventionell, um nicht zu sagen: bieder, wirkenden Pärchens, auf dessen Rücksitz wir viele Stunden verbrachten, des Pärchens, dem ich anzumerken meinte, es bereue längst seine Entscheidung, zwei unbekannte junge Männer auf so langer Strecke mitzunehmen, sicherlich würden sie dies nicht noch einmal tun, auch wenn es leicht verdiente 50.- DM waren, so dachte ich, zumal sie bei jedem Halt Abstand suchten, miteinander tuschelten, zu uns herübersahen und dann schweigend weiterfuhren. Nun, dachte ich, es "passt" eben nicht immer, ein wenig freundlicher könnten sie dennoch sein, ein wenig mehr Mühe sich geben, die machen ja keinen Hehl daraus, dass sie es kaum erwarten können, uns endlich loszuwerden, und tatsächlich, kaum hatten wir die Stadt erreicht, räusperte sich der Fahrer und sprach: "Wir haben uns überlegt, dass ihr gerne in unserem Auto schlafen könnt, wenn ihr das wollt. Es ist ja sehr kalt und mitten in der Nacht, da braucht ihr nicht sonstwo herumzulaufen. Wenn ihr morgen früh losgeht, drückt einfach die Verriegelung runter."
Das sei doch nicht nötig, protestierten wir halbherzig, freuten uns aber doch sehr darüber, die nächsten Stunden auf heruntergekurbelten Autositzen verbringen zu können, allerdings wurde es dann innerhalb weniger Minuten nach dem Abstellen des Motors kalt, da das Auto schlecht isoliert war, zudem war die Sitz- bzw. Liegehaltung eher unbequem so ohne Kissen, Füße und Beine vereisten langsam und der Morgen dämmerte herauf. Während mein Sitznachbar zumindest ab und zu tief und regelmäßig atmete, konnte ich keinen Schlaf finden, der Rücken zwackte doch zu arg, und reichlich steifgefroren und übernächtigt verließen wir am frühen Morgen den alten Mercedes, um loszumarschieren und eine brauchbare Tramp-Stelle zu suchen.
An einer Ausfallstraße pflanzten wir uns auf, hielten abwechselnd das mit "SUD" beschriftete Schild, sahen hunderte von Autos an uns vorüberfahren und wollten nach einigen Stunden, es war inzwischen fast zehn Uhr, gerade beginnen, uns ein paar Gedanken über die Mitnahmefreudigkeit der Franzosen zu machen, als dann doch ein Golf neben uns hielt, besetzt mit zwei Personen und einem Schäferhund. Freudig liefen wir hin, die Insassen stiegen beide aus, sie hatten Uniformen an, der Hund beschnüffelte uns, sie hatten Funkgeräte, sie riefen Verstärkung.
[Geht irgendwann weiter]
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Malindi ist eine kenianische Küstenstadt mit etwa 70000 Einwohnern, die ich allerdings, obwohl ich später sogar selbst mal in Kenia, aber trotzdem nicht, und aber jedenfalls hieß damals auch diese Kneipe in der Admiralstraße so. Um eine Reise in einen kleinen Ort an der Costa Brava sollte es gehen, ganz nahe der spanisch-französischen Grenze, und zu den Vorbereitungstreffen verabredete man sich in jener Kneipe; zehn, fünfzehn Studenten und -innen waren es, die Interesse an dem freundlichen Angebot eines Dozenten bekundet hatten, in den Semesterferien vollkommen fachfremd und in keinerlei Zusammenhang mit dem, was er da lehrte, zum Selbstkostenpreis einige Tage in seinem Haus in jenem katalanischen Dörfchen zu verbringen und dort unter anderem ein wenig Spanisch zu lernen. Das klang durchaus sympathisch, man organisierte dann auch recht schnell die Fahrgemeinschaften, stellte beim Durchzählen allerdings fest, dass insgesamt zu wenige Kraftfahrzeuge zur Verfügung standen, so dass zwei Personen übrig blieben, die irgendwie anders - kein Problem, merkte ich an, ich sei ja ein erfahrener Tramper und hätte wohl Lust, das Abenteuer schon zwei Tage früher zu beginnen und per Anhalter nach Spanien zu reisen. Ein Komilitone stand bereit, diese Unternehmung gemeinsam anzugehen und dabei nicht zuletzt auch ordentlich Geld zu sparen. Alle waren zufrieden, man wünschte sich gegenseitig eine gute Reise und wir sehen uns dann ja am soundsovielten in Spanien.
Gut, überlegte ich, für die 1600 km sollten wir sicherheitshalber drei Tage veranschlagen, sonst wird das noch stressig, Rucksack, Lederjacke, etwas Geld und diese coolen neuen Schuhe - ach, und ein paar Zettel sowie den dicken Edding, um damit "Spanien" daraufschreiben zu können.
Kurz bevor es losgehen sollte, rief ich aus einem Impuls heraus noch mal die Mitfahrzentrale an - nein, keine MFG* nach Katalanien, aber immerhin eine nach Frankreich, DM 25.- pro Nase plus Vermittlungsgebühr, gut, das ist auch Geld, aber, so überlegten mein Reisegefährte und ich, man hätte schon mal ein gutes Stück Strecke hinter sich und das wäre ja kein schlechter Anfang. Was auch stimmte, denn bei diesem Schneeregen Anfang März wäre es nicht so schön an dieser Tramperstelle in der Vahr gewesen, statt dessen fuhren wir mit einem Pärchen mit, das ein wenig verwundert die Pläne der Mitfahrer zur Kenntnis nahm, und während man bereits kurz hinter Bremen den skurrilen Anblick eines nahezu senkrecht im Boden steckenden Autos bestaunte, dessen Schleuderweg und anschließende Flugbahn man anhand der frischen Spuren im tiefen Schneematsch noch gut rekonstruieren konnte, streckte man behaglich die Beine im Fond des Wagens aus, beteuerte, dass es kein Problem sei, wenn der französische Zielort um etwa 2:00 morgens erreicht würde, man wolle dann einfach ein wenig herumlaufen und eine gute Tramperstelle suchen, äußerte sich ("ja, schlimm!") mitfühlend zum Thema Straßenverhältnisse und freute sich schon auf das wesentlich wärmere Frankreich.
[Wird fortgesetzt - nützt ja nichts!]
--
*Das Wort muss man kennen
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Einer anderen sozialen Schicht gehörte sicherlich jener junge Mann an, der mich mit aufgemotztem Opel, tropfenförmiger Spiegelsonnenbrille, Vokuhila-Frisur und Schnurrbart vor der Mitfahrzentrale aufgabelte. "Mann, ey, cool, ey, die haben mir gesagt, dass du mir dafür sogar Geld gibst, ey, das ist ja geil, ey, gib mal gleich, isn Zwanziger okay, ey, super!", wurde ich begrüßt, es ging in entsetzlichem Tempo und mit gelegentlichen, mir willkürlich erscheinenden Vollbremsungen auf die Autobahn, wir schwiegen eine knappe Stunde, bis der gute Mann unvermittelt das Steuer herumriss, einen Parkplatz ansteuerte, scharf bremste, mich ansah und sagte: "Kiffst du?"
Mein undeutliches Gemurmel schien er als Zustimmung zu deuten, "baute" eine riesige "Tüte", fuhr wieder auf die linke Spur und zog genüsslich an seinem Joint, die linke Handfläche in losem Kontakt mit dem Lenkrad, während ich mich am Haltegriff der Beifahrertür festklammerte, als ob das etwas nützte. Mit einer ruckartigen Bewegung reichte er mir unvermittelt das glimmende Dings herüber, und ich beschloss ("bloß weg mit dem Zeug!"), meinen Teil zum schnellstmöglichen Verbrauch des Rauschmittels beizutragen. Weder seinem Fahrstil noch meiner Wahrnehmung desselben tat das abwechselnde, hektische THC-Inhalieren besonders gut, die Autobahn vor mir schien ganz schreckliche Dinge zu tun, wand sich jäh nach rechts, dann wieder unvermittelt nach links oder oben oder unten, ich versank so tief im Beifahrersitz, dass ich mich zu fragen begann, ob ich jemals wieder würde aussteigen können, jemand musste wohl an den Schwerkrafteinstellungen herumgespielt haben, da bremste mein Chauffeur auf unnachahmliche Weise in einer Nothaltebucht kurz vor der Abfahrt Göttingen, erklärte mir wortreich, dass er mich eigentlich doch nicht, wie vereinbart, am Bahnhof, sondern besser direkt hier aussteigen lasse, "zu viele Bullen da am Bahnhof, weißte, ey", ich fand das auch völlig in Ordnung und kam während des etwa zweistündigen Fußmarschs in die Innenstadt auch soweit wieder zu mir, dass mir dort keine weiteren Fragen gestellt wurden.
Auch als Mitnehmer bemühte ich mich stets, höflich und zuvorkommend zu bleiben, wenn auch die Umstände gelegentlich ungewöhnlich waren, sei es, dass jemand direkt vom Fußballspiel, "gewonnen, aber ich konnte nicht mehr duschen!", kam und man nicht nur Gras-, sondern vor allem auch Körpergerüche auszustehen hatte, gegen die auch die Cassette mit den Oberkrainern nicht mehr geholfen hätte, sei es der Hochsommertag im Stau auf dem Weg nach Köln, an dem man selbst ins Schwitzen geriet und zunächst freundlich, dann deutlich und schließlich sehr bestimmt das wiederholt vorgetragene Angebot der Mitfahrerin ablehnen musste, bei ihr "in Ruhe duschen" zu können.
[Geht irgendwann weiter]
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A., der inzwischen bemerkt hatte, wie ihn alle ansahen, sagte: "Die muss dir jemand geklaut haben!"
Es wurde dann so richtig still.
C. wiederum, der einen wirklich bösartigen Stiefvater hatte, der ihn regelmäßig brutal schlug, handelte sich ebenso regelmäßig noch mehr Ärger ein. So hatte er angesetzt, einer Lehrerin ein schlimmes Wort hinterherzurufen - dieses Vorhaben aber mittendrin abgebrochen, als er bemerkte, dass sie noch gar nicht um die Ecke gebogen war, sondern ihn sehr intensiv anstarrte. Wochen später, als sie dem bösen Stiefvater erzählte, dass C. ja auch mal "ein hässliches Wort" zu ihr gesagt habe, protestierte dieser ganz entschieden: "Stimmt doch gar nicht! Ich habe nur 'ALTE HU' gesagt!"
Wie ja jeder weiß, wird die originale und in der Tat von keinem Nachahmerprodukt geschmacklich auch nur annähernd erreichte Bihunsuppe "Indonesia" seit 1971 in Barterode gefertigt, und zwar im Unternehmen der Gebrüder S.:
Als J. und D. S. 1960 von ihren Schiffsreisen aus Indonesien zurückkehren, ahnen sie nicht, wie wertvoll das Abschiedsgeschenk ihres javanesischen Arbeitgebers für sie werden soll... Im Gepäck haben die Brüder das Originalrezept der Indonesia Bihunsuppe [...] Der Koch und der Steward eröffnen in Göttingen ein indonesisches Restaurant – und keine zwei Jahre nach ihrer Rückkehr ist die Indonesia Bihunsuppe [...] die erfolgreichste Spezialität auf der Speisekarte. Die Nachfrage nach dem köstlichen Gericht übertrifft alle Vorstellungen, und so entschließen sich die Brüder 1971 zur industriellen Produktion der Bihunsuppe in Barterode, nahe Göttingen.Beim Zivildienst lernte ich einen Kollegen kennen, der den Nachnamen S. trug und aus Barterode kam. Die Zahnräder in meinem Kopf griffen ineinander, und ich fragte ehrfürchtig: "Wie? Bist du etwa der Sohn von den Gebrüdern S.?"
- "Na ja. Von einem von den Gebrüdern S.!"
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Neulich wollte ich mal nachdenken, das mache ich manchmal und suche dafür das nächstliegende Mittelgebirge auf. Das zerfallende Herzberg hinter mir lassend steuerte ich also St. Andreasberg an, da es laut meiner Erinnerung außenrum Schnee und dunklen Tannenwald, innendrin schmucke, auf spießige Weise gediegene Touristencafés gibt. Man passiert auf dem Weg dorthin die engen Dörfchen, man gruselt sich vor den dunklen Schieferhäusern, man freut sich, wenn man schließlich die kleinste niedersächsische Stadt erreicht. Hier oben, etwa 700 m über NN, muss doch die Welt noch in Ordnung sein! Und vielleicht kommt man ja auf Gedanken?
Ein erster Rundgang offenbart: Neblige Kälte ist in ausreichender Menge verfügbar, gefrorene Substanz findet sich unter den Füßen - genau das richtige Ambiente, um sich erst mal in einem Biergarten zu stärken. Auf der Piste fährt jemand Ski. Das ist ja toll, wie viel Platz der hat!
Nach einigen Gläsern Schierker Feuerstein beginnt man, sich richtig wohlzufühlen und über ein anderes, ein besseres Leben nachzudenken. Will man auf ewig Flachländer bleiben? Nein, der Anfang ist gemacht, nun gilt es, sich eine neue Zukunft aufzubauen. Warum nicht hier oben? Natürlich muss man sich an seine Umgebung anpassen; würde man bspw. einen Skiverleih eröffnen, so müsste sich dieser stilistisch halbwegs in die historisch gewachsene Umgebung einpassen.
Aber vielleicht muss es ja kein Skiverleih sein. Denn was entdecken wir da auf unserem Rundgang - das sieht doch vielversprechend aus!
"Zu verkaufen", ich kann meine Erregung nur mühsam kontrollieren. Gut, etwas außerhalb gelegen, klar, da kommt nicht groß jemand vorbei, O.K., da muss man ein bisschen was dran machen - aber mit etwas Übergangsgeld und einem Kredit ... ? Schauen wir mal rein: Das gibt's doch nicht! Das ist ja komplett ausgestattet! Da müsste man ja nicht mal die Baumscheibensinnsprüche neu beschaffen: Alles da!
Bevor ich den Blankokaufvertrag in den Briefkasten schmeiße, kommt mir ein kühner Gedanke: Wenn es nun anderswo noch mehr ... ? Am Ende gar mitten im Ort? Schauen wir lieber noch mal nach, kaufen können wir immer noch. Oha! Dieses Objekt für den handwerklich begabten Käufer bietet ja noch ganz andere Perspektiven:
Die Türen gehören im Harz wahrscheinlich so. Trotzdem zögere ich noch. Denn nun stellt sich die Frage: So schön St. Andreasberg ist - wer sagt, dass es nicht anderswo noch schöner ist? Zum Beispiel in diesen namenlosen, dunklen, geduckten Orten, die man auf dem Hinweg achtlos durchfahren hat? Halten wir doch mal die Augen auf! Und tatsächlich:
Dass ich daran vorhin achtlos vorbeigefahren bin, kann ich nun nicht mehr verstehen. Das hat doch nun wirklich Perspektive! Man könnte ein Café darin eröffnen, einen Kindergarten, eine Sauna evtl. oder vielleicht einen gut besuchten und angesagten Club ("Disko")? Aber vielleicht liegt das Glück noch näher: Hier z.B. müsste man nur mal ein wenig aufräumen. Ich sehe die Touristen direkt vor mir!
Oder hier: Einmal durchfeudeln, Kaffee kochen, da geht was, ich sag's euch! Und das Schild ("Ferienwohnung ab 10.- Euro") ist auch noch gut. Einmal drüberwischen und den Preis anpassen (nach unten), denn wenn man so hoch rangeht, ist es ja auch kein Wunder, dass die Gäste ausbleiben.
Beschwingt fahre ich zurück, stelle Finanzierungspläne auf, layoute im Geiste die Speisekarte (Comic Sans MS / "Bier 1,60", "Korn 1,20", "Jägerschnitzel mit Pommes 4,50" / Grafiker fragen wg. Rübezahl), rechne aus, dass ich bei angenommen 300 Besuchern am Tag, die je fünf Herrengedecke verzehren, wohl doch noch an die zehn Jahre arbeiten muss, bis ich genug Geld an die Seite geschafft habe, um von den Zinsen zu leben, aber man muss auch mal hart zu sich sein - doch da! Was war das da eben? Dieses einsame, kilometerweit von aller Ziviliation gelegene Schmuckstück? Wir bremsen, wir setzen zurück, wir reiben uns die Augen: Das schlägt ja nun alles.
Ich habe gefunden, was ich immer gesucht habe. Sie werden von mir evtl. weniger hören in nächster Zeit. Ich eröffne im Harz ein Hotel.
[Wird garantiert nicht fortgesetzt.]
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Während wir als Fünftklässler noch begeistert durch die Schneemassen im hochgelegenen St. Andreasberg getobt hatten, war das Echo auf die Fahrt nach Pöhlde schon deutlich bescheidener ("Pöhl-de ist ö-de!", sang mancher eine Woche lang), und auch Zorge, wiewohl direkt an der innerdeutschen Grenze gelegen, über die ganz furchtbar wagemutige Jungs den beturnschuhten Fuß für Sekundenbruchteile ein paar Zentimeter hinüberschoben, um von Mädchen bewundernde Blicke und von Lehrern scharfe Verwarnungen ("das finde ich jetzt aber nicht so gut!") zu ernten - denn wer hatte nicht schon von perfekt getarnten Grenzern gehört, die plötzlich wie aus dem Boden gewachsen bewaffnet dagestanden hatten, um großmäulige Westjugendliche einzufangen und abzuführen, sobald diese einen Zentimeter DDR unter der Sohle hatten - wiewohl auch über eine übergewichtige Herbergsmutter, die die weiße Feinripp-Kochwäsche ihres für sein Gewicht ebenfalls deutlich zu kleinen Sohnes in der Herbergsküche auf dem Herbergsherd im großen Herbergstopf tatsächlich kochte, und nicht zuletzt über einen dauerbesoffenen Nistkastenherstellungsbeaufsichtiger verfügend, der ebenso waldschratig wirkte wie der paramilitärische Herbergsvater, welcher in seine Antrittsrede uns unbekannte Vokabeln wie "Zucht", "Ordnung" und "naturverbundene Erziehung" wie selbstverständlich hatte einfließen lassen, womit er uns Achtklässler natürlich in ekstatische Begeisterung versetzt hatte, auch Zorge also vermochte das Image des Harzes nicht entscheidend zu verbessern, das nahe Mittelgebirge wurde im Gegenteil geistig immer mehr ausgeblendet, wenn man sich mal fragte, wohin man ausflügeln sollte. Weltabgewandt, dunkel und am Rande der Zivilisation liegend, dabei aber auf spießige Weise gediegen, so habe ich ihn, den Harz, als Teenager verschlagwortet und hernach jahrelang höchstens noch mit überladenen Ford Transits in tiefster Nacht durchquert.
Die interessanteren, wilderen, karstigeren Teile des Harzes lagen ohnehin jenseits der Grenze, dies habe ich in den letzten Jahren durch Besteigungen des Brockens und Besuche im Bodetal aufs Eindrucksvollste erfahren, und das eine oder andere Städtchen dort drüben* sieht ganz schön disneylandisch-proper aus.
Wenn man mal von kleinen Abstechern, so etwa einem doch recht irritierenden Besuch im Südharzstädtchen Herzberg vor zweidrei Jahren absieht, ein typisches, verschlafenes, aber prosperierendes Nest in meiner Erinnerung, in dem mich plötzlich leere Schaufenster massenweise angähnten und höchstens noch grelle Ein-Euro-Shops anschrien, ein Ort, der anscheinend gerade seine Infrastruktur verliert und dadurch dermaßen verstörend auf mich wirkte, dass ich lieber wieder weggefahren bin, dann habe ich wirklich lange nichts mehr vom Westharz gesehen und nur ein paar Schauergeschichten gehört.
[Wird evtl. fortgesetzt]
---
*Ich weiß.
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Fast wär' schon wieder ein Jahr herum gewesen.
Gerade noch:
Vielleicht hat der Glückskeks recht?
Sonst eben wieder Parkwächter.
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Ich hab's getan. Und es ging ganz einfach.
Auf Ihr Spezielles! Wir sehen uns auf der anderen Seite.
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"Alkohol am Arbeitsplatz! Seid ihr wahnsinnig!?", sagte der eine Kollege, erbleichte und schloss erschrocken die Tür von außen. Dabei hatte ich doch dem anderen Kollegen an diesem Winterabend in unserem damaligen Raucherbüro bloß endlich mal ein paar Flaschen des hervorragenden Göttinger Pilsener (aus der Stadt mit Brautradition seit 1330) und Göttinger Edel-Pils mitgebracht, die wir gegen Feierabend dann auch verkosteten. Schade war nur, dass ich nicht mehr zu sagen vermochte, ob diese Getränke tatsächlich noch etwas mit dem Göttinger Bier der 80er Jahre zu tun hatten - schließlich konnte es uns als Jugendlichen nicht exotisch genug sein: Wir tranken Flens, Jever oder Beck's (man merkt: es ging immer ins Norddeutsche), aber nur in Notfällen die Ortsmarke, wenn sie sich in einem elterlichen Keller irgendwo fand, so dass ich keine zuverlässige Geschmackserinnerung hatte.
Außerdem war schon Jahre vorher die Göttinger Brauhaus AG von der Einbecker übernommen worden, die dann auch prompt die Produktion in die etwas nördlicher gelegene Fachwerk- und Bierstadt verlegte - kurz nachdem in Göttingen ein wunderschöner, ganz neuer großer Kupferkessel angeschafft worden war, der deshalb während der folgenden Jahrzehnte ungenutzt nur noch mahnend in seinem riesigen, extra eingebauten Schaufenster (denn anlässlich dieser Investition hatte die Göttinger Brauhaus AG ihr Sudhaus völlig umgestaltet, so dass man von der Straße aus freien Blick auf das Schmuck- und Herzstück des Betriebes hatte) herumstehen konnte, statt seiner Bestimmung gemäß Hopfen, Malz und Wasser zu verheiraten und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Noch als Grundschüler waren wir durch die Brauerei geführt worden, stolzen Mitarbeitern ehrfürchtig lauschend, welche in die Grundlagen der Braukunst uns einzuweisen sich die Ehre gaben und durchaus ruppig reagierten konnten, wenn ein vorwitziger Viertklässler etwas von "Göttinger Ekel-Pils" flüsterte. Nein, auf ihren Betrieb ließen sie nichts kommen und verkündeten stolz, dass bei ihnen ordentliche Zustände herrschten und nicht solche wie beim dänischen Multi, dessen Produktionsstätte eine Göttinger Abordnung einmal besucht habe und dort auf, Gottseibeiuns, betrunkene Mitarbeiter getroffen sei.
Das Edel-Pils gab's in den typischen, braunen Knubbelflaschen, die mancher auch "Maurergranate" nennt, während das erst Ende der 70er neu eingeführte Pilsener in der schlanken Flasche auch optisch einen auf Premium machen sollte und deshalb vom Kronkorken bis zum Flaschenhals mit der typischen goldenen Kragenfolie überzogen war, die man immer mit den Fingernägeln abknibbelt.
Hatte man zufällig jemanden in der Familie, der Mitglied im Rat der Stadt Göttingen war, dann erhielt man in jenen Jahren monatlich einen Kasten des hervorragenden Göttinger Pilsener, der zunächst sogar frei Haus geliefert wurde, später dann gegen entsprechenden Gutschein im Getränkemarkt abgeholt werden konnte. Historische Hintergründe zu dieser Regelung gab's auch, die mit dem Braurecht und den Göttinger Bürgern und Ratsherren zu tun hatten, vielleicht wollte man sich aber auch nur die Kommunalpolitik gewogen halten, wer weiß - in diesen seligen Zeiten mag dazu ein monatlicher Kasten Bier noch gereicht haben, allein: genützt hat es alles nichts, die Einbecker kamen, stellten die Produktion in Göttingen ein und es blieb fortan nur noch der Name. Eine Dosenabfüllanlage auf dem Gelände nutzten sie noch einige Zeit für dies und das, ansonsten verkamen die schönen Backsteingebäude auf dem großen Gelände nahe der Leine nach und nach.
Aus der herrschaftlichen Villa des Braumeisters, den es nun ja nicht mehr gab, gelegen in einem fantastisch großen Garten direkt neben der Brauerei, wurde ein Studentenwohnheim, in einigen Verwaltungsgebäuden sah man ab und zu noch Licht, sogenannte "Bierverlage" und Festzeltverleihe mieteten sich auf dem Gelände ein, während das große Werbeplakat neben dem ehemaligen Haupteingang stetig verblasste und die Koteletten des darauf abgebildeten Biergenießers immer unmoderner wurden.
Nun ist alles weggerissen worden, das Gelände wurde "einer Nachnutzung zugänglich" gemacht, den großen Garten gibt's nicht mehr, und der Kupferkessel ist vermutlich längst in China. Nie wird also der würzige Geruch mehr aufsteigen, den ich schon als Kind vehement gegen das unbedachte Wort Gestank, geäußert von kulturbanausigen Besuchern, verteidigte ("Was denn! Das riecht doch gut!"). Auch die Witzeleien derselben Besucher, dahingehend, ob man denn angesichts der Nähe einer Brauerei zum eigenen Haus sich schon eine Leitung habe legen lassen, sind Geschichte, vor allem aber: Es gibt keine Brauereifeste mehr!
Diese bildeten während einiger Jahre, sagen wir: Mitte bis Ende der 70er, für mich ein wichtiges strukturierendes Element im Jahreslauf, so wie für anders sozialisierte Menschen womöglich Palmsonntag oder ZDF-Weihnachtsvierteiler. Es konnte jedenfalls durchaus vorkommen, dass man mit seinem Freund an irgendeinem Frühlingstag Steine in die Leine warf und sehnsüchtig darauf wartete, dass doch bald endlich wieder Brauereifest wäre.
Dieses Fest wurde auf dem Gelände der Brauerei gefeiert und zog die Menschen scharenweise an. Es wurde Musik auf Bühnen gespielt, es wurden Plastikfußbälle mit dem Logo des Göttinger Edel-Pils vom Dach der Brauerei aus in die Menge geworfen, als Kind konnte man in einem Zelt Zeichentrickfilme sehen - das war aber alles nichts gegen die eigentliche Attraktion: Freibier! Genauer gesagt: Freigetränke. Nachdem nämlich der freizügige Ausschank der ersten Jahre zu recht hässlichen Ergebnissen in Form von Bierleichen und ganz üblen Kotzereien nächtlich heimtorkelnder Alkoholiker geführt hatte, musste man sich seitens der Brauerei etwas überlegen und kam zu dem Ergebnis, dass der Zugang zu den Getränken irgendwie geregelt werden müsse. Fortan wurden also beim Eingang Karten mit kleinen Abrissen verteilt.
Von diesen Karten gab es drei Sorten. Für Männer: Dreimal Bier, einmal Cola/Fanta/Sprite, einmal Bratwurst. Für Frauen: Einmal Bier, zweimal Cola/Fanta/Sprite, einmal Bratwurst. Für Kinder: Zweimal Cola/Fanta/Sprite, einmal Bratwurst.
Und wenn es dann endlich wieder so weit war, wenn endlich wieder Brauereifest war, wenn man stundenlang in der Schlange gestanden hatte und endlich die ersehnten Kärtchen in Empfang nehmen wollte, fing die Erziehungsberechtigte am Eingang plötzlich an zu diskutieren:
- Warum kriegen Frauen denn andere Karten als Männer?
- Weiß nicht!
- Warum gehen Sie denn davon aus, dass Männer mehr Bier trinken als Frauen?
- Ist doch so!
- Ich finde das nicht in Ordnung, dass da so ein Unterschied gemacht wird.
- Hören Sie, die Leute hinter Ihnen wollen auch rein. Ich verteile die hier nur.
- Warum kriege ich, nur weil ich eine Frau bin, eine andere Karte als ein Mann? Erklären Sie mir das!
- (Seufz) Wenn Sie unbedingt wollen, dann gebe ich Ihnen eben auch so eine Karte wie den Männern.
- Nein, ich will ja gar nicht so eine Karte!
- ???
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