Was mich zu Tode langweilen kann, sind Berichte von Leuten über irgendwelche Computerprobleme.
Ich z.B. habe seit Jahren einen Firmenlaptop, den ich zu Hause und am Arbeitsplatz nutze. Um nicht täglich Netzteil, Tastatur, Maus, Netzwerk, Monitor, Kamera, Headset und weitere Peripherie an- und abstöpseln zu müssen, verwende ich im Büro eine Dockingstation: Nicht so ein plumpes Ding wie früher, in das man den Laptop mechanisch eingerastet hat - nein, ein schlankes Kästlein liegt da, welches über ein einziges USB-C-Kabel den Laptop mit Strom versorgt und zugleich sämtliche Daten all dieser anderen Anschlüsse hin- und herschickt. Da habe ich anfangs schon gestaunt, ernsthaft: So ein schlankes Kabelchen mit solch einem winzigen Stecker schleust den gesamten Netzwerkverkehr durch, auch wenn große Dateien gestreamt werden, beschickt die zahlreichen Monitorpixel mit ihren Grafikdaten und überträgt in umgekehrter Richtung noch das eigene Kamerabild in eine Videokonferenz. Bemerkenswert! Und dass man höllisch aufpassen muss, damit sich dieser DÄMLICHE Stecker nicht auch nur einen Mikrometer in seiner Buchse bewegt und somit sämtliche Verbindungen unterbricht, z.B. weil man seine Kaffetasse vorsichtig am anderen Ende des Schreibtisches abstellt, oder ans Telefon geht, oder hustet, oder sich irgendwie im Stuhl bewegt, daran gewöhnt man sich.
Mich interessieren derlei Geschichten nicht die Bohne. Dieses Lamentieren, als hätte man das alles nicht schon tausendmal gehört! "Bei mir im Büro hat was nicht funktioniert! Und dann hat es der Support nicht hinbekommen!" Ja, Wahnsinn. Auf Partys unbedingt das Weite suchen, wenn jemand so anfängt. Mein Tipp.
Jahrein, jahraus tippe ich also zufrieden vor mich hin, wechsele zwischen den verschiedenen Programmen und Fenstern routiniert mit Alt+Tab, habe meine Taskleiste voll im Griff und nutze gerne den größeren Desktop auf dem flachen Bildschirm im Büro, komme aber auch mit dem geringeren Platzangebot zurecht, wenn ich das Gerät tatsächlich als Laptop nutze. Lediglich im Hinterkopf stellt sich manchmal die Frage, ob so ein zweiter Monitor nicht doch von Nutzen wäre, aber früher hatten wir sowas auch nicht.
Kaum sind ein paar Jahre vergangen und alle anderen Kollegen haben längst zwei oder drei Monitore, ordert man also auch einen zusätzlichen Bildschirm und gewöhnt sich so schnell daran, dass man sich nach wenigen Tagen fragt, wie man jemals mit nur einem Monitor arbeiten konnte, schau!, wie viel angenehmer ist es doch, diese Exceltabelle zu sehen, während du in dem anderen Programm arbeitest! Und das Copypasten ist so viel schöner, wenn du direkt vergleichen kannst und nicht noch mal hin- und zurückwechseln musst, weil du doch nie ganz sicher sein kannst, ob du den letzten oder den vorletzten Wert in der Zwischenablage hattest.
Aber da geht es auch schon los, ein Monitor geht aus und dann der andere, erst nur für Sekunden, dann auch mal Minuten, dann beide zugleich, dann ist wieder alles in Ordnung, dann passiert es öfter und länger und eines Tages stehst du lachend da, holst die anderen und zeigst ihnen das Geflacker: Uuuuund Obacht!, hier, diese Sekunde muss ich erwischen, um den Rechner wenigstens noch geordnet herunterzufahren.
Nur wenige Monate später, in denen du dein Nervenkostüm ruinierst, täglich eine halbe Stunde Arbeitszeit vergeudest, permanent unter deinem Schreibtisch herumkletterst und Kabel umsteckst, andere Dockingstationen ausprobierst, immer wieder alles stromlos machst, neu startest, Monitore tauschst und versuchst, auch nur irgendeine Logik zu finden, regelmäßigen Besuch vom technischen Support bekommst, der wiederum Kabel, Monitore und Dockingstationen über Kreuz tauscht, dabei am Ende nur noch etwas von "schlechtem Karma in diesen Räumen" murmelt, wird beschlossen, dass es Zeit für einen neuen Laptop ist: Der alte kann wohl auf Dauer doch nicht so viele Pixel gleichzeitig beschicken, oder ist es die Dockingstation, oder sind es die Monitore, weil drüben an dem anderen Platz ging es doch, oder?
Ich mag mein neues Gerät, es ist ein schöner und robuster Laptop, und wenn man ihn an die neue Dockingstation anschließt und ein wenig wartet, zeigt oft einer der Monitore irgendwann ein Bild, bzw. manchmal auch der zweite, nur dass dann das Bild vom ersten total unscharf wird, und der technische Support sich das nicht erklären kann, schlechtes Karma!, aber lass uns mal willkürlich alle Tasten an den Monitoren ein paarmal drücken und die beiden Monitorkabel vertauschen, guck mal, jetzt geht es, aber frag mich nicht warum.
Auf eine Art ist ja beruhigend, dass diese durchrationalisierte Welt ihre letzten Geheimnisse nicht preisgeben will, und ich bin durchaus hoffnungsvoll, nur dass dieser VERDAMMTE Stecker genauso wacklig in seiner Buchse steckt wie eh und je, ich meine, halloooo, vielleicht auch mal zuhören!? Hallooo!? Ich bin doch noch gar nicht bei der Stelle mit den Updates angekommen, weil Windows 11 hat, hallloooo? Jemand zu Hause? Ich erzähle sonst gerne noch mal von vorne!
Pff. Manche Leute. Da fällt mir ein, damals auf Klassenfahrt
Ich z.B. habe seit Jahren einen Firmenlaptop, den ich zu Hause und am Arbeitsplatz nutze. Um nicht täglich Netzteil, Tastatur, Maus, Netzwerk, Monitor, Kamera, Headset und weitere Peripherie an- und abstöpseln zu müssen, verwende ich im Büro eine Dockingstation: Nicht so ein plumpes Ding wie früher, in das man den Laptop mechanisch eingerastet hat - nein, ein schlankes Kästlein liegt da, welches über ein einziges USB-C-Kabel den Laptop mit Strom versorgt und zugleich sämtliche Daten all dieser anderen Anschlüsse hin- und herschickt. Da habe ich anfangs schon gestaunt, ernsthaft: So ein schlankes Kabelchen mit solch einem winzigen Stecker schleust den gesamten Netzwerkverkehr durch, auch wenn große Dateien gestreamt werden, beschickt die zahlreichen Monitorpixel mit ihren Grafikdaten und überträgt in umgekehrter Richtung noch das eigene Kamerabild in eine Videokonferenz. Bemerkenswert! Und dass man höllisch aufpassen muss, damit sich dieser DÄMLICHE Stecker nicht auch nur einen Mikrometer in seiner Buchse bewegt und somit sämtliche Verbindungen unterbricht, z.B. weil man seine Kaffetasse vorsichtig am anderen Ende des Schreibtisches abstellt, oder ans Telefon geht, oder hustet, oder sich irgendwie im Stuhl bewegt, daran gewöhnt man sich.
Mich interessieren derlei Geschichten nicht die Bohne. Dieses Lamentieren, als hätte man das alles nicht schon tausendmal gehört! "Bei mir im Büro hat was nicht funktioniert! Und dann hat es der Support nicht hinbekommen!" Ja, Wahnsinn. Auf Partys unbedingt das Weite suchen, wenn jemand so anfängt. Mein Tipp.
Jahrein, jahraus tippe ich also zufrieden vor mich hin, wechsele zwischen den verschiedenen Programmen und Fenstern routiniert mit Alt+Tab, habe meine Taskleiste voll im Griff und nutze gerne den größeren Desktop auf dem flachen Bildschirm im Büro, komme aber auch mit dem geringeren Platzangebot zurecht, wenn ich das Gerät tatsächlich als Laptop nutze. Lediglich im Hinterkopf stellt sich manchmal die Frage, ob so ein zweiter Monitor nicht doch von Nutzen wäre, aber früher hatten wir sowas auch nicht.
Kaum sind ein paar Jahre vergangen und alle anderen Kollegen haben längst zwei oder drei Monitore, ordert man also auch einen zusätzlichen Bildschirm und gewöhnt sich so schnell daran, dass man sich nach wenigen Tagen fragt, wie man jemals mit nur einem Monitor arbeiten konnte, schau!, wie viel angenehmer ist es doch, diese Exceltabelle zu sehen, während du in dem anderen Programm arbeitest! Und das Copypasten ist so viel schöner, wenn du direkt vergleichen kannst und nicht noch mal hin- und zurückwechseln musst, weil du doch nie ganz sicher sein kannst, ob du den letzten oder den vorletzten Wert in der Zwischenablage hattest.
Aber da geht es auch schon los, ein Monitor geht aus und dann der andere, erst nur für Sekunden, dann auch mal Minuten, dann beide zugleich, dann ist wieder alles in Ordnung, dann passiert es öfter und länger und eines Tages stehst du lachend da, holst die anderen und zeigst ihnen das Geflacker: Uuuuund Obacht!, hier, diese Sekunde muss ich erwischen, um den Rechner wenigstens noch geordnet herunterzufahren.
Nur wenige Monate später, in denen du dein Nervenkostüm ruinierst, täglich eine halbe Stunde Arbeitszeit vergeudest, permanent unter deinem Schreibtisch herumkletterst und Kabel umsteckst, andere Dockingstationen ausprobierst, immer wieder alles stromlos machst, neu startest, Monitore tauschst und versuchst, auch nur irgendeine Logik zu finden, regelmäßigen Besuch vom technischen Support bekommst, der wiederum Kabel, Monitore und Dockingstationen über Kreuz tauscht, dabei am Ende nur noch etwas von "schlechtem Karma in diesen Räumen" murmelt, wird beschlossen, dass es Zeit für einen neuen Laptop ist: Der alte kann wohl auf Dauer doch nicht so viele Pixel gleichzeitig beschicken, oder ist es die Dockingstation, oder sind es die Monitore, weil drüben an dem anderen Platz ging es doch, oder?
Ich mag mein neues Gerät, es ist ein schöner und robuster Laptop, und wenn man ihn an die neue Dockingstation anschließt und ein wenig wartet, zeigt oft einer der Monitore irgendwann ein Bild, bzw. manchmal auch der zweite, nur dass dann das Bild vom ersten total unscharf wird, und der technische Support sich das nicht erklären kann, schlechtes Karma!, aber lass uns mal willkürlich alle Tasten an den Monitoren ein paarmal drücken und die beiden Monitorkabel vertauschen, guck mal, jetzt geht es, aber frag mich nicht warum.
Auf eine Art ist ja beruhigend, dass diese durchrationalisierte Welt ihre letzten Geheimnisse nicht preisgeben will, und ich bin durchaus hoffnungsvoll, nur dass dieser VERDAMMTE Stecker genauso wacklig in seiner Buchse steckt wie eh und je, ich meine, halloooo, vielleicht auch mal zuhören!? Hallooo!? Ich bin doch noch gar nicht bei der Stelle mit den Updates angekommen, weil Windows 11 hat, hallloooo? Jemand zu Hause? Ich erzähle sonst gerne noch mal von vorne!
Pff. Manche Leute. Da fällt mir ein, damals auf Klassenfahrt
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nnier | 14. Juli 2024 | Topic Margaretha
Anlässlich zweier freundlicher Verlinkungen, die gerade einige neue Gäste hereinspülen, ersetze ich die veraltete "Über"-Seite aus Anfangstagen - falls jemanden interessiert, was das hier ist.
Es gab mal eine Zeit, in der gebloggt wurde. Gerne erinnere ich mich daran. Ich war spät dran, 2008, aber das ist normal für mich. Einige Jahre war es noch recht lebendig im Bloggerdorf, dann verebbte alles, und ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die meisten inzwischen zu Twitter weitergezogen waren.
Das übersprang ich, schaute immer seltener hier vorbei, vergaß zwischendurch mein Passwort - freute mich aber alle paar Monate, dass es doch noch Leute gab, die hier oder anderswo weiterbloggten, und ganz gelegentlich schrieb ich auch noch etwas. Wenn mir etwas einfällt, kann das heute noch vorkommen.
Schauen Sie sich gerne um, ich verlinke für erste Eindrücke beispielhaft:
- 71@71, eine kleine Serie über die Musik eines Herrn, der mir etwas bedeutet
- Barfuß zum Nordpol, ein Reisebericht
- Was über Socken
- Erinnerungen an Personen
Seit einem Weilchen spiele ich mit ein paar Schnipseln auch bei Mastodon mit. Aber eigentlich erfahren Sie schon im Erstgespräch alles über mich.
(Ach, und einmal durfte ich in der FAZ bloggen, woraus sich eine interessante Diskussion ergab. Leider sind die Kommentare nicht erhalten. Aber so was gab's tatsächlich, damals, Blogs in Zeitungen!)
Es gab mal eine Zeit, in der gebloggt wurde. Gerne erinnere ich mich daran. Ich war spät dran, 2008, aber das ist normal für mich. Einige Jahre war es noch recht lebendig im Bloggerdorf, dann verebbte alles, und ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die meisten inzwischen zu Twitter weitergezogen waren.
Das übersprang ich, schaute immer seltener hier vorbei, vergaß zwischendurch mein Passwort - freute mich aber alle paar Monate, dass es doch noch Leute gab, die hier oder anderswo weiterbloggten, und ganz gelegentlich schrieb ich auch noch etwas. Wenn mir etwas einfällt, kann das heute noch vorkommen.
Schauen Sie sich gerne um, ich verlinke für erste Eindrücke beispielhaft:
- 71@71, eine kleine Serie über die Musik eines Herrn, der mir etwas bedeutet
- Barfuß zum Nordpol, ein Reisebericht
- Was über Socken
- Erinnerungen an Personen
Seit einem Weilchen spiele ich mit ein paar Schnipseln auch bei Mastodon mit. Aber eigentlich erfahren Sie schon im Erstgespräch alles über mich.
(Ach, und einmal durfte ich in der FAZ bloggen, woraus sich eine interessante Diskussion ergab. Leider sind die Kommentare nicht erhalten. Aber so was gab's tatsächlich, damals, Blogs in Zeitungen!)
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Als ich ein Kind war, hast du mit mir Spatzen gefangen. Der Vogelkäfig ohne Boden, der Holzstab, die Körner, die lange Schnur: So aufregend konnte das Leben sein, die Spatzen im Käfig waren langweilig, wir ließen sie schnell wieder frei, aber das Fangen!
Einmal bautest du mir eine Schaukel aus dem, was gerade da war: Irgendein Brett, ein paar alte Kabel. Ich schaukelte gerne am großen Kirschbaum. Noch toller war, dass du einfach so eine Schaukel bauen konntest.
Hundert wolltest du werden, hast du in den letzten Jahren oft gesagt: Weil dir zweimal zehn Jahre genommen wurden, so hast du erklärt, erst Krieg und Gefangenschaft, dann die Pflege deiner Frau nach ihrem Schlaganfall.
In der Gefangenschaft habt ihr euch Radios gebaut, die keinen Strom brauchten: Eine Rasierklinge, eine Bleistiftmine, das hat mich endlos fasziniert und ich habe gebettelt, dass wir zusammen auch eins bauen. Es hat dann nur gerauscht, doch für mich war es ein Wunder.
Als du aus der Gefangenschaft zurückkamst, lebtest du in einem Dachgeschoss. In Frankreich hattest du das Tischlern gelernt, und als Mietzahlung bautest du den Eigentümern ein Fenster. "Es ist noch da, ich könnte es dir zeigen", sagtest du 50 Jahre später, und ich hätte es gerne gesehen.
Mäuse hat es da oben gegeben, sie kamen durch die Ritzen, da hast du Konservendosen aufgeschnitten und flachgeklopft auf den Boden genagelt.
Als Bergmann hast du Deputatkohle bekommen und Kernseife. Ein Rest lag noch in der Garage, als wir das Haus ausräumten.
Oma hatte zehn Geschwister, und ihr wart die einzigen, die irgendwann ein eigenes Haus hatten. Oben am Hang, ein abschüssiges Grundstück, die Siedlung der Bergleute. 80 Pfennig der Quadratmeter. Ein eigenes Gemüsebeet, am Anfang Hühner, später ein Taubenhaus, das ich bestimmt mal erben würde, dachte ich als Kind.
Nach der Arbeit im Bergwerk also ausschachten und Fundament gießen, dafür Kies aus dem Fluss holen und mit der Schubkarre den Berg hochschieben, zusammen mit einem Schwager, der im Steinbruch arbeitete.
In dem kleinen Haus wohnten neben- und nacheinander alle möglichen Verwandten, und später fanden darin und im Garten die großen Familienfeiern statt, irgendein runder Geburtstag war immer. Die Musik hast du selbst gespielt, mit deiner Ziehharmonika. (Zerrwanst, Quetschkommode).
Und plötzlich maltest du mit Ölfarben, ich erinnere mich an die sechs oder acht aufgehängten Bilder. Auf einem stand jemand am Fluss und angelte, und ich stellte mir immer vor, dass du das bist. "Das war nur ein Jahr", erfuhr ich auf der Beerdigung, "wir haben ihn immer ermuntert, weiterzumalen, aber er hat es nie wieder gemacht."
Die letzten Jahre, im Altenheim, waren für dich nur vorübergehend. Oft sagtest du, jetzt geht es aber bald nach Hause. Und dass du demnächst Geburtstag hast und hundert wirst.
Mit dem Sprechen wurde es schwierig, und einmal, als ich nach langer Pause wieder zu Besuch war, hieß es, er erkennt uns nicht mehr und verwechselt vieles. Wie ich mich gefreut habe, als ich ins Zimmer kam, und du sagtest auf Anhieb meinen Namen!
Manchmal saß man dann einfach da, hat nicht viel geredet, hat auch nicht mehr viel verstanden, und plötzlich sagtest du klar und deutlich: Also das mit dem Fenster, das gefällt mir nicht!
Es hatte Luftzug gegeben, und Kälte konntest du nicht leiden. Bei uns war dir schnell zu kalt, in eurem Haus hattet ihr endlich eine Ölheizung, ich erinnere mich an den Geruch und wie du über die Tanks und den Brenner ganz genau Bescheid wusstest.
Für die Handwerker warst du kein angenehmer Kunde, standest daneben, schautest genau zu und stelltest viele Fragen. In der Kunststofffirma nannten die Kollegen dich "Vati", wurde mir erzählt, nicht veralbernd, sondern aus Respekt.
Aus Frankreich hattest du Stoff mitgebracht und dir zwei Anzüge genäht. "So einen Feinen hast du", haben die Freundinnen zu Oma gesagt, oder die Schwestern.
Urlaube habt ihr gemacht, sobald ihr konntet, und uns jeden Tag gründlich nacherzählt. Du hast gerne fotografiert und mir später deine Praktica geschenkt, auch die hatte einen ganz besonderen Geruch in ihrer Lederhülle, und drei Schraubobjektive.
Man konnte bei gutem Wetter mit dem Fernglas vom Balkon bis zum Herkules gucken. Den Anbau mit dem Balkon hast du selbst gemauert. Im Spieleschrank Reversi, Roulette, Fang-den-Hut.
Es war einer meiner letzten Besuche, da sagtest du noch mal, dass du ja bald Geburtstag hättest, den hundertsten. Ich habe dir vom Spatzenfangen erzählt, und du hast mit mir gelacht.
Vor ein paar Monaten war ich zuletzt an deinem Grab, du bist 98 Jahre alt geworden. Aber innendrin, für dich selbst, hast du die 100 geschafft, das hat mich gefreut.
Einmal bautest du mir eine Schaukel aus dem, was gerade da war: Irgendein Brett, ein paar alte Kabel. Ich schaukelte gerne am großen Kirschbaum. Noch toller war, dass du einfach so eine Schaukel bauen konntest.
Hundert wolltest du werden, hast du in den letzten Jahren oft gesagt: Weil dir zweimal zehn Jahre genommen wurden, so hast du erklärt, erst Krieg und Gefangenschaft, dann die Pflege deiner Frau nach ihrem Schlaganfall.
In der Gefangenschaft habt ihr euch Radios gebaut, die keinen Strom brauchten: Eine Rasierklinge, eine Bleistiftmine, das hat mich endlos fasziniert und ich habe gebettelt, dass wir zusammen auch eins bauen. Es hat dann nur gerauscht, doch für mich war es ein Wunder.
Als du aus der Gefangenschaft zurückkamst, lebtest du in einem Dachgeschoss. In Frankreich hattest du das Tischlern gelernt, und als Mietzahlung bautest du den Eigentümern ein Fenster. "Es ist noch da, ich könnte es dir zeigen", sagtest du 50 Jahre später, und ich hätte es gerne gesehen.
Mäuse hat es da oben gegeben, sie kamen durch die Ritzen, da hast du Konservendosen aufgeschnitten und flachgeklopft auf den Boden genagelt.
Als Bergmann hast du Deputatkohle bekommen und Kernseife. Ein Rest lag noch in der Garage, als wir das Haus ausräumten.
Oma hatte zehn Geschwister, und ihr wart die einzigen, die irgendwann ein eigenes Haus hatten. Oben am Hang, ein abschüssiges Grundstück, die Siedlung der Bergleute. 80 Pfennig der Quadratmeter. Ein eigenes Gemüsebeet, am Anfang Hühner, später ein Taubenhaus, das ich bestimmt mal erben würde, dachte ich als Kind.
Nach der Arbeit im Bergwerk also ausschachten und Fundament gießen, dafür Kies aus dem Fluss holen und mit der Schubkarre den Berg hochschieben, zusammen mit einem Schwager, der im Steinbruch arbeitete.
In dem kleinen Haus wohnten neben- und nacheinander alle möglichen Verwandten, und später fanden darin und im Garten die großen Familienfeiern statt, irgendein runder Geburtstag war immer. Die Musik hast du selbst gespielt, mit deiner Ziehharmonika. (Zerrwanst, Quetschkommode).
Und plötzlich maltest du mit Ölfarben, ich erinnere mich an die sechs oder acht aufgehängten Bilder. Auf einem stand jemand am Fluss und angelte, und ich stellte mir immer vor, dass du das bist. "Das war nur ein Jahr", erfuhr ich auf der Beerdigung, "wir haben ihn immer ermuntert, weiterzumalen, aber er hat es nie wieder gemacht."
Die letzten Jahre, im Altenheim, waren für dich nur vorübergehend. Oft sagtest du, jetzt geht es aber bald nach Hause. Und dass du demnächst Geburtstag hast und hundert wirst.
Mit dem Sprechen wurde es schwierig, und einmal, als ich nach langer Pause wieder zu Besuch war, hieß es, er erkennt uns nicht mehr und verwechselt vieles. Wie ich mich gefreut habe, als ich ins Zimmer kam, und du sagtest auf Anhieb meinen Namen!
Manchmal saß man dann einfach da, hat nicht viel geredet, hat auch nicht mehr viel verstanden, und plötzlich sagtest du klar und deutlich: Also das mit dem Fenster, das gefällt mir nicht!
Es hatte Luftzug gegeben, und Kälte konntest du nicht leiden. Bei uns war dir schnell zu kalt, in eurem Haus hattet ihr endlich eine Ölheizung, ich erinnere mich an den Geruch und wie du über die Tanks und den Brenner ganz genau Bescheid wusstest.
Für die Handwerker warst du kein angenehmer Kunde, standest daneben, schautest genau zu und stelltest viele Fragen. In der Kunststofffirma nannten die Kollegen dich "Vati", wurde mir erzählt, nicht veralbernd, sondern aus Respekt.
Aus Frankreich hattest du Stoff mitgebracht und dir zwei Anzüge genäht. "So einen Feinen hast du", haben die Freundinnen zu Oma gesagt, oder die Schwestern.
Urlaube habt ihr gemacht, sobald ihr konntet, und uns jeden Tag gründlich nacherzählt. Du hast gerne fotografiert und mir später deine Praktica geschenkt, auch die hatte einen ganz besonderen Geruch in ihrer Lederhülle, und drei Schraubobjektive.
Man konnte bei gutem Wetter mit dem Fernglas vom Balkon bis zum Herkules gucken. Den Anbau mit dem Balkon hast du selbst gemauert. Im Spieleschrank Reversi, Roulette, Fang-den-Hut.
Es war einer meiner letzten Besuche, da sagtest du noch mal, dass du ja bald Geburtstag hättest, den hundertsten. Ich habe dir vom Spatzenfangen erzählt, und du hast mit mir gelacht.
Vor ein paar Monaten war ich zuletzt an deinem Grab, du bist 98 Jahre alt geworden. Aber innendrin, für dich selbst, hast du die 100 geschafft, das hat mich gefreut.
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Yes we're going to a party party
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Ich muss es gleich zugeben: Mein Herz schlägt für eine andere Band. Seit es die nicht mehr gibt, es sind jetzt auch schon wieder 54 Jahre, ist da diese große Leerstelle, neben der die Rolling Stones einfach weiterexistieren. Und wenn ich so nachdenke, fällt mir ein, dass ich vor vielleicht 15 Jahren sogar mal auf einem Konzert von denen war, das mich jedoch kaum weniger hätte beeindrucken können.
Mein Maßstab ist allerdings verdorben, denn wie ich vielleicht schon mal angemerkt habe, danke ich dem Schöpfer auf Knien für jedes Konzert von Paul McCartney, das ich miterleben durfte. Eine so tiefgreifende emotionale Erfahrung darf man anderswo nicht erwarten, und doch war ich angesichts der Parade klassischer Hits, die da abgespult wurden, ein wenig verwundert, wie egal mir die ganze Veranstaltung war. Es sind ja keine schlechten Lieder, und es kann auch rührend sein, den älteren Herren dabei zuzusehen, wie sie es noch draufhaben, und man hätte sich von der Begeisterung anderer Fans doch irgendwie anstecken lassen können, die auf dem Hin- wie auf dem Rückweg begeistert und in Kopfstimme "Oooh-oooh" sangen, ja, man hörte quasi nichts anderes in der S-Bahn als dieses Melodiefragment aus Sympathy for the Devil.
Aber da geht es schon los, das ist ja fraglos ein flottes Lied, aber es packt mich nicht. Und da fällt mir die Konversation zum Thema vor 20 Jahren im Raucherbüro ein, bei der ich die Ansicht vertrat, bei den Beatles könne ich unter Schmerzen vielleicht 10 Lieder benennen, auf die ich im Notfall verzichten würde; bei den Stones hingegen kämen mit einiger Sucherei wohl 10 Songs zusammen, die ich irgendwie OK finde.
Allerdings muss ich zugeben, dass ich deren Werk längst nicht so gut kenne wie das der Liverpooler. Wenn ich also nun ein paar Songs nenne, die ich akzeptieren kann, ist die Grundlage dafür mehr als lückenhaft.
Fangen wir mal mit meinem aktuellen Ohrwurm Gimme Shelter an, von dem ich theoretisch seit ca. 1969 wissen könnte, wie gut er ist, aber so richtig gemerkt habe ich es erst in den letzten Tagen. Ein super Intro, der Gesang von Mick Jagger ist nicht schlecht, sensationell gut wird das Lied aber erst durch die hohe, zweite Stimme von, Moment!, genau!, Merry Clayton.
Der Film Rushmore ist nicht nur ein guter Film, sondern hat auch einen exquisiten Soundtrack. Darin begegnete ich dem sehr angenehmen Stückchen I Am Waiting vom 1966er Album Aftermath, das lese ich gerade bei Wikipedia und zeigt wieder mal, wie wenig ich mich im Werk dieser Band auskenne, während ich bei einer anderen Band ziemlich genau darlegen könnte, was 1966 passiert ist. Ich mag sie ja tatsächlich gerne ruhig, die Stones, so wie hier, und bin dafür in keinerlei Versuchung, jemals Satisfaction mitzugröhlen.
Schön ruhig ist auch Ruby Tuesday, das ich wirklich sehr geschmackvoll finde, von der Klavierbegleitung über den gestrichenen Kontrabass bis hin zu den Flöten. Es ist für immer verbunden mit dem Uher-Spulentonbandgerät meiner Eltern, auf dem ich es kennenlernte, ohne natürlich zu wissen, von wem es ist. Aber das ist wirklich eine schöne Melodie, die ich seit frühen Kindertagen gerne bei mir habe.
Und das müssten dann auch schon die ca. 10 guten Lieder von den Stones gewesen sein, jetzt muss ich noch mal über die 10 von den Beatles nachdenken, auf die ich notfalls verzichten kann ... aargh ... das wird schwer ... vielleicht doch nur 5, oder 3?
Mein Maßstab ist allerdings verdorben, denn wie ich vielleicht schon mal angemerkt habe, danke ich dem Schöpfer auf Knien für jedes Konzert von Paul McCartney, das ich miterleben durfte. Eine so tiefgreifende emotionale Erfahrung darf man anderswo nicht erwarten, und doch war ich angesichts der Parade klassischer Hits, die da abgespult wurden, ein wenig verwundert, wie egal mir die ganze Veranstaltung war. Es sind ja keine schlechten Lieder, und es kann auch rührend sein, den älteren Herren dabei zuzusehen, wie sie es noch draufhaben, und man hätte sich von der Begeisterung anderer Fans doch irgendwie anstecken lassen können, die auf dem Hin- wie auf dem Rückweg begeistert und in Kopfstimme "Oooh-oooh" sangen, ja, man hörte quasi nichts anderes in der S-Bahn als dieses Melodiefragment aus Sympathy for the Devil.
Aber da geht es schon los, das ist ja fraglos ein flottes Lied, aber es packt mich nicht. Und da fällt mir die Konversation zum Thema vor 20 Jahren im Raucherbüro ein, bei der ich die Ansicht vertrat, bei den Beatles könne ich unter Schmerzen vielleicht 10 Lieder benennen, auf die ich im Notfall verzichten würde; bei den Stones hingegen kämen mit einiger Sucherei wohl 10 Songs zusammen, die ich irgendwie OK finde.
Allerdings muss ich zugeben, dass ich deren Werk längst nicht so gut kenne wie das der Liverpooler. Wenn ich also nun ein paar Songs nenne, die ich akzeptieren kann, ist die Grundlage dafür mehr als lückenhaft.
Fangen wir mal mit meinem aktuellen Ohrwurm Gimme Shelter an, von dem ich theoretisch seit ca. 1969 wissen könnte, wie gut er ist, aber so richtig gemerkt habe ich es erst in den letzten Tagen. Ein super Intro, der Gesang von Mick Jagger ist nicht schlecht, sensationell gut wird das Lied aber erst durch die hohe, zweite Stimme von, Moment!, genau!, Merry Clayton.
Der Film Rushmore ist nicht nur ein guter Film, sondern hat auch einen exquisiten Soundtrack. Darin begegnete ich dem sehr angenehmen Stückchen I Am Waiting vom 1966er Album Aftermath, das lese ich gerade bei Wikipedia und zeigt wieder mal, wie wenig ich mich im Werk dieser Band auskenne, während ich bei einer anderen Band ziemlich genau darlegen könnte, was 1966 passiert ist. Ich mag sie ja tatsächlich gerne ruhig, die Stones, so wie hier, und bin dafür in keinerlei Versuchung, jemals Satisfaction mitzugröhlen.
Schön ruhig ist auch Ruby Tuesday, das ich wirklich sehr geschmackvoll finde, von der Klavierbegleitung über den gestrichenen Kontrabass bis hin zu den Flöten. Es ist für immer verbunden mit dem Uher-Spulentonbandgerät meiner Eltern, auf dem ich es kennenlernte, ohne natürlich zu wissen, von wem es ist. Aber das ist wirklich eine schöne Melodie, die ich seit frühen Kindertagen gerne bei mir habe.
Und das müssten dann auch schon die ca. 10 guten Lieder von den Stones gewesen sein, jetzt muss ich noch mal über die 10 von den Beatles nachdenken, auf die ich notfalls verzichten kann ... aargh ... das wird schwer ... vielleicht doch nur 5, oder 3?
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Ich habe zwei Bücher, eins ist dick und weiß und eins ist dick und schwarz. Sie passen im Regal gut nebeneinander. Das weiße habe ich vor zehn 15 Jahren angefangen und noch nicht durch, es hat aber ein Lesebändchen, so dass ich alle paar Jahre ein Stück weiterlesen kann. Und es gibt viele Fußnoten darin, dafür ist es, so glaube ich, auch bekannt. Fußnoten gibt es in dem schwarzen Buch auch so einige, ein Lesebändchen aber nicht. Deswegen habe ich es lieber am Stück gelesen.
Ich wäre ohne die Empfehlung einer Kollegin* nicht auf die Idee gekommen, Coming of Karlo zu lesen. "Lisa Kränzler erzählt mit allen Mitteln der Sprache die Geschichte verletzter Menschen in einer desperaten Welt, in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert und einen Charakter befällt", steht auf der Rückseite, und das kann man vielleicht so sehen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man "Charakter" im Deutschen inzwischen so verwendet wie "Character" im Englischen, sonst hätte ich eher "Figur" geschrieben, es sei denn, man interpretiert das so, dass eben speziell der Charakter derselben, also nicht die ganze Figur, von der toxischen Männlichkeit befallen wird.
Tatsächlich muss ich über diesen Satz, der den Roman zusammenfassen? Anteasern? Bewerben? soll, noch weiter nachdenken:
Lisa Kränzler [x]
erzählt [x]
mit allen Mitteln der Sprache [xxx]
die Geschichte verletzter Menschen [x]
in einer desperaten Welt, [x]
in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert [?]
und einen Charakter befällt [?]
Lauern und befallen, da bin ich mir wirklich nicht sicher. Rein auf der Handlungsebene ist es eine Coming-of-Age-Geschichte mit verliebten Teenagern, abwesenden Eltern, exzessiven Partys, Kumpelfreunden und Clubnächten. Also nichts, das ich freiwillig lesen würde. Ich möchte hier auch nicht den Inhalt referieren, kurze Zusammenfassungen und ein paar wenige Rezensionen lassen sich schnell finden.
Was mich tatsächlich beeindruckt, ist die Sprache - nicht diese erzwungen literarische Kunstsprache, und doch literarisch und künstlerisch; die Figuren und ihre Rede, innerlich und äußerlich, sind komplett künstlich und kommen einem, dennoch oder deshalb, nahe wie selten. Die Szenerie, schwäbische Provinz Anfang der 2000er Jahre, wird mit wenigen Strichen plastisch, und zwar ohne dass jemand Dialekt spricht.
Wenn das dann plötzlich doch geschieht, ist die Wirkung so unfassbar komisch, dass ich gleich wieder an das weiße Buch denken muss, S. 507, wenn der "Immigrant" spricht ("Als aine, wo alli Aabeehysli verspritzt, bin ych scho männgs Joor bekannt gse. In de Beize uff de Landstroosse han ych scho lang nimme uff d'Schissi deerfe", Sie erinnern sich bestimmt, man stirbt beim Lesen.)
In Coming of Karlo, mitten in den dramatisch kulminierenden Ereignissen und existentiellen Geworfenheiten, berichtet der Gruber Hermann von seinen Beobachtungen am See, und ich muss beim Lesen laut lachen:
Um halb Zwölfe kommt also des Mädle auf de Schteg und fängt's krakeehle a, schreit "KARLO, KARLO!", als ob's brenne dät, schtatt dass se wartet, bis er fertig isch - aber so sind se, die Jonge! Mir waret au it andersch. Koi bissle andersch ...
Zerschd hon i denkt, dass se gar it nei will ins Wasser, d'Weiber sind do zum Doil ja a bissle schreckhaft, hennt Angscht vor de Fisch oder dass a Schlang kommt oder wa woiss I ...
Ich habe das Buch vor allem als Liebesgeschichte gelesen, diese Art von Liebe, die man schon fast vergessen hat, besitzergreifend und gewaltig, toxisch männlich meinetwegen, mit diesen vergrabenen und verleugneten Gefühlen, die so gar nicht sozial erwünscht sind. Es sagt ja niemand, dass so etwas gut ausgehen muss.
Momentan wird das Buch verramscht, ich empfehle es unbedingt!
Lisa Kränzler, Coming of Karlo, Verbrecher Verlag (2019), 624 Seiten
--
*Danke! Danke!
Ich wäre ohne die Empfehlung einer Kollegin* nicht auf die Idee gekommen, Coming of Karlo zu lesen. "Lisa Kränzler erzählt mit allen Mitteln der Sprache die Geschichte verletzter Menschen in einer desperaten Welt, in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert und einen Charakter befällt", steht auf der Rückseite, und das kann man vielleicht so sehen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man "Charakter" im Deutschen inzwischen so verwendet wie "Character" im Englischen, sonst hätte ich eher "Figur" geschrieben, es sei denn, man interpretiert das so, dass eben speziell der Charakter derselben, also nicht die ganze Figur, von der toxischen Männlichkeit befallen wird.
Tatsächlich muss ich über diesen Satz, der den Roman zusammenfassen? Anteasern? Bewerben? soll, noch weiter nachdenken:
Lisa Kränzler [x]
erzählt [x]
mit allen Mitteln der Sprache [xxx]
die Geschichte verletzter Menschen [x]
in einer desperaten Welt, [x]
in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert [?]
und einen Charakter befällt [?]
Lauern und befallen, da bin ich mir wirklich nicht sicher. Rein auf der Handlungsebene ist es eine Coming-of-Age-Geschichte mit verliebten Teenagern, abwesenden Eltern, exzessiven Partys, Kumpelfreunden und Clubnächten. Also nichts, das ich freiwillig lesen würde. Ich möchte hier auch nicht den Inhalt referieren, kurze Zusammenfassungen und ein paar wenige Rezensionen lassen sich schnell finden.
Was mich tatsächlich beeindruckt, ist die Sprache - nicht diese erzwungen literarische Kunstsprache, und doch literarisch und künstlerisch; die Figuren und ihre Rede, innerlich und äußerlich, sind komplett künstlich und kommen einem, dennoch oder deshalb, nahe wie selten. Die Szenerie, schwäbische Provinz Anfang der 2000er Jahre, wird mit wenigen Strichen plastisch, und zwar ohne dass jemand Dialekt spricht.
Wenn das dann plötzlich doch geschieht, ist die Wirkung so unfassbar komisch, dass ich gleich wieder an das weiße Buch denken muss, S. 507, wenn der "Immigrant" spricht ("Als aine, wo alli Aabeehysli verspritzt, bin ych scho männgs Joor bekannt gse. In de Beize uff de Landstroosse han ych scho lang nimme uff d'Schissi deerfe", Sie erinnern sich bestimmt, man stirbt beim Lesen.)
In Coming of Karlo, mitten in den dramatisch kulminierenden Ereignissen und existentiellen Geworfenheiten, berichtet der Gruber Hermann von seinen Beobachtungen am See, und ich muss beim Lesen laut lachen:
Um halb Zwölfe kommt also des Mädle auf de Schteg und fängt's krakeehle a, schreit "KARLO, KARLO!", als ob's brenne dät, schtatt dass se wartet, bis er fertig isch - aber so sind se, die Jonge! Mir waret au it andersch. Koi bissle andersch ...
Zerschd hon i denkt, dass se gar it nei will ins Wasser, d'Weiber sind do zum Doil ja a bissle schreckhaft, hennt Angscht vor de Fisch oder dass a Schlang kommt oder wa woiss I ...
Ich habe das Buch vor allem als Liebesgeschichte gelesen, diese Art von Liebe, die man schon fast vergessen hat, besitzergreifend und gewaltig, toxisch männlich meinetwegen, mit diesen vergrabenen und verleugneten Gefühlen, die so gar nicht sozial erwünscht sind. Es sagt ja niemand, dass so etwas gut ausgehen muss.
Momentan wird das Buch verramscht, ich empfehle es unbedingt!
Lisa Kränzler, Coming of Karlo, Verbrecher Verlag (2019), 624 Seiten
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