Gerne denke ich an das Jahr zwischen Zivildienst und Studium zurück. Also dem ersten, bald wieder abgebrochenen Studium; dann kam ja noch dieses andere und dann das dritte, aber darum soll es heute nicht gehen - lediglich eine gewisse Plan- und Ideenlosigkeit mag dadurch als Hintergrund angedeutet sein, vor dem diese Geschichte, oder ist es mein ganzes Leben, spielt.
Lange hatte ich geglaubt, wenn man diese ewige Schulzeit hinter sich gebracht hätte, käme man endlich wieder zurückin den davorliegenden, quasi natürlichen Zustand: Morgens aufstehen und mal schauen, was der Tag so bringt. "Geglaubt" im Sinne von darüber nachgedacht natürlich nicht - die Frage hatte sich mir einfach nie gestellt; es war aber eine zugleich unscharfe und völlig eindeutige Vorstellung, dass die dreizehn Jahre eine enervierend lange, am Ende aber doch vorübergehende Unterbrechung einer eigentlichen, natürlichen Daseinsform bedeuteten.
Also wunderte ich mich, als die anderen irgendwas von "Maler" oder "Rechtsanwältin" erzählten. Die Lehrerin hatte gefragt, was wir denn nach der Schule so machen wollten, und ich antwortete völlig entgeistert: Na, gar nichts!
Es folgte ein Vortrag mit seltsamen Begrifflichkeiten wie "jemandem auf der Tasche liegen" etc., und mir wurde klar, dass dem Thema auf Dauer nicht auszuweichen wäre; jedoch bildete sich auch in den kommenden Jahren keinerlei Vorstellung heraus, und ich konnte froh sein, dass ich nach dem Abitur erst mal 20 Monate Zivildienst ableisten durfte.
Während ehemalige Mitschülerinnen ihr Vordiplom ablegten, fasste ich eines Tages den Entschluss, eine Karriere als Fahrer überladener Kleintransporter zu beginnen. Der in Finanznöten steckende Subunternehmer eines sogenannten Pressegrossisten war dafür genau die richtige Adresse. Ich wurde gründlich eingearbeitet und saß zehn Minuten später als Fahranfänger am Steuer eines weißen Ford Transit L2H2.
Oder, nein, erst musste ja gebündelt und geladen werden, und das war nicht ganz trivial: Man bekam eine lange, gedruckte Gesamtliste der zu verteilenden Presseerzeugnisse (u.a. 9572 BILD, 683 kicker, 5 taz, 2 Hamburger Morgenpost) sowie gut 50 Lieferscheine, einen für jedes der Geschäfte, die beliefert wurden, also: EDEKA in Städtchen X - 212 BILD, 8 kicker, 1 Jagd&Hund; Bäckerei Müller in Dorf Y - 18 BILD, 4 kicker.
Nun musste man die Gesamtmengen der einzelnen Titel zu seinem Ladeplatz schaffen - dafür gab es Schiebewagen - und die Lieferungen für die einzelnen Empfänger an der Bündelmaschine kommissionieren. Verkompliziert wurde dieses durch die Tatsache, dass zu Beginn noch nicht alle Titel angeliefert waren. Also bündelte man, was da war, schrieb mit einem Kuli groß die noch fehlenden Titel ("3 FAZ") auf den Lieferschein, packte das Paket in den Laderaum und legte sich die erst später eintreffenden Ergänzungen auf den Beifahrersitz. Beim Ausliefern dachte man hoffentlich daran, beides zusammenzuführen: Denn die Inhaber der kleinen Geschäfte in Harz und Eichsfeld konnten äußerst unangenehm werden, wenn etwas fehlte, und es gab beim Grossisten extra jemanden, der solche Nachlieferungen tagsüber erledigte - jedoch wurden die Kosten dafür dem jeweiligen Subunternehmer berechnet, der einem dann recht lautstark erzählte, was er davon hielt.
Weitere Feinheiten der Logistik erspare ich Ihnen. Irgendwann jedenfalls war der Transporter beladen, Mitternacht vorbei und Zeit zum Losfahren, aber: Die Mopo fehlte. Irgendwo gab es auch im Harz zwei oder drei Personen, die täglich die Hamburger Morgenpost kauften, und deswegen konnte man nicht losfahren, ehe diese angeliefert wurde. Sie war immer der letzte Titel.
Man stand rum, rauchte, half gehetzten Kollegen beim Laden oder beim Reparieren der Bündelmaschine - bis endlich Hajo von hinten rief: "Die Mopo ist da!", und, jedes einzelne Mal, Günther zurückrief: "Schön für die Mopo!"
Unterwegs (all das spielt weit vor Smartphone und Navi) hieß es ein komplexes Geflecht aus Wegen, Abkürzungen und Stichfahrten zu beherrschen, was für mich als geographisch herausgeforderte Person nicht ganz einfach war; man verwaltete zudem einen Gefängniswärterring mit zahlreichen Schlüsseln, um an bestimmte Ablageorte zu gelangen, und nie vergesse ich den Tag, als ich irgendwo merkte, dass ich den Ring nicht mehr dabeihatte: Wo war der letzte Laden mit Schlüssel, und wie komme ich da hin? Ich kannte die Strecke nur vorwärts und erinnerte mich nicht, wo ich zuletzt etwas aufgeschlossen hatte, so dass ich schweißgebadet und zähneklappernd von Dorf zu Dorf raste, es wurde schon hell, und vor Erleichterung kaum das Wasser halten konnte, als ich endlich an einem Hintereingang den vollständigen Ring hängen sah. (Oft genug hatte ich was von "zwanzigtausend Mark alleine für die Schließanlage bei Edeka" gehört.)
Meist gegen 4:00h erreichte ich eine Bäckerei in einem abgelegenen Eichsfelder Dorf. Hier arbeitete sich das inhabende Ehepaar kaputt - er knetete und buk, sie packte die Tüten mit den frühmorgens auszuliefernden Brötchen, und es ergaben sich knappe, freundliche Dialoge ("Wie ist es draußen?" - "Muss ja. Bei euch so?" - "Nix weiter"), während man mir einen Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte. Und dann kam es zur Transaktion: Schweigend legte ich eine Handvoll BILD oder auch mal einzwei kicker zusätzlich auf den Tresen, stellte meinen Kaffeebecher ab und nahm eine Tüte frischer Brötchen entgegen. "Muss dann mal weiter" - "Sieh zu!", und auf dem Beifahrersitz lag die Tüte und duftete himmlisch. Ganz frische Brötchen, noch heiß aus dem Ofen, sollen ja nicht gesund sein, aber sie machten mich glücklich und halfen mir durch die letzten Stunden. Irgendwann morgens kam man zurück, lud die eingesammelten Remittenden aus und fuhr völlig erledigt nach Hause, um noch stundenlang aufgekratzt herumzulaufen und irgendwann bewusstlos einzuschlafen, kurz bevor der Wecker klingelte, denn um 17:30 musste man langsam duschen und in der Mensa am Wilhelmsplatz ein warmes Abendessen, quasi als Frühstück - also wenn ich darüber nachdenke: Vielleicht kommt daher immer mein Nachthunger!
Sie aber wollen viel eher wissen: Woher kamen denn die zusätzlichen Exemplare BILD und kicker für den Bäcker? Alles war doch genau abgezählt!? Und hier kommen die Spitze und das Zupfen ins Spiel.
In dieser Branche spricht man in Vollpaketen und Spitzen. Bei der BILD z.B. bestand ein Vollpaket aus 250 Exemplaren, jeweils in 50er-Einheiten geschichtet, und wenn ein Geschäft 537 BILD bekam, waren das zwei Vollpakete und eine "Spitze" aus 37 Zeitungen. Geprüft wurde meist nur die Spitze: Ah, zwei Vollpakete und 37 als Spitze - passt! Jedoch war es möglich, und ich möchte fast sagen: gängige Praxis, Vollpakete beim Packen zu öffnen, einzelne Exemplare herauszuzupfen und neu zu bündeln.
Mancher machte das für kleine Deals wie ich mit meinem Bäcker, andere taten es aus purem Spaß an der Freude: "Der Händler X geht mir so auf die Nerven mit seinen Reklamationen, der soll jeden Tag den ganzen Stapel zählen und sich eine einzelne BILD nachliefern lassen, harhar!"
Nebenbei lernte ich Autofahren und widersprach empört, als jemand nach einem Unfall behauptete: Das war sein vierter! Dabei war es erst der dritte, und bei dem Wetter ohne Schneeketten im Harz ja wohl auch kein Wunder! Und erst neulich hatte ich mich auf spiegelglatter Bahn um 360 Grad gedreht und war dennoch nicht in das Schaufenster gefahren, was völlig legitim gewesen wäre, sondern knapp davor zum Stehen gekommen! Also erzähl mal nichts von vierter Unfall, Freundchen!
Aber natürlich war mir das peinlich, zumal wir als eingeschworene Gemeinschaft zu unserem Subunternehmer hielten, der die Fahrzeuge leaste und inzwischen so hohe Schulden bei der Tankstelle hatte, dass er dort Umschläge mit Bargeld hinterlegen musste. "Das ist betriebswirtschaftlich unmöglich!", hörte ich eines Tages einen anderen Subunternehmer aus dem Grossistenbüro rufen, und ich fürchte, er hatte recht: Trotz der Hinzunahme von Apothekenbelieferungen (eine Geschichte für sich) und Fotoarbeiten war eines Tages Schluss, Insolvenz, und irgendein anderer armer Kerl übernahm die Touren.
Schlecht bezahlt war das, ungesund und gefährlich. Und so richtig Zukunft hatte es dann doch nicht. Aber komischerweise, wenn ich mich frage: Welche Arbeit hat dir eigentlich richtig Spaß gemacht, dann denke ich als erstes an diese Zeit. So - ich muss los. Die Mopo ist da!
Lange hatte ich geglaubt, wenn man diese ewige Schulzeit hinter sich gebracht hätte, käme man endlich wieder zurückin den davorliegenden, quasi natürlichen Zustand: Morgens aufstehen und mal schauen, was der Tag so bringt. "Geglaubt" im Sinne von darüber nachgedacht natürlich nicht - die Frage hatte sich mir einfach nie gestellt; es war aber eine zugleich unscharfe und völlig eindeutige Vorstellung, dass die dreizehn Jahre eine enervierend lange, am Ende aber doch vorübergehende Unterbrechung einer eigentlichen, natürlichen Daseinsform bedeuteten.
Also wunderte ich mich, als die anderen irgendwas von "Maler" oder "Rechtsanwältin" erzählten. Die Lehrerin hatte gefragt, was wir denn nach der Schule so machen wollten, und ich antwortete völlig entgeistert: Na, gar nichts!
Es folgte ein Vortrag mit seltsamen Begrifflichkeiten wie "jemandem auf der Tasche liegen" etc., und mir wurde klar, dass dem Thema auf Dauer nicht auszuweichen wäre; jedoch bildete sich auch in den kommenden Jahren keinerlei Vorstellung heraus, und ich konnte froh sein, dass ich nach dem Abitur erst mal 20 Monate Zivildienst ableisten durfte.
Während ehemalige Mitschülerinnen ihr Vordiplom ablegten, fasste ich eines Tages den Entschluss, eine Karriere als Fahrer überladener Kleintransporter zu beginnen. Der in Finanznöten steckende Subunternehmer eines sogenannten Pressegrossisten war dafür genau die richtige Adresse. Ich wurde gründlich eingearbeitet und saß zehn Minuten später als Fahranfänger am Steuer eines weißen Ford Transit L2H2.
Oder, nein, erst musste ja gebündelt und geladen werden, und das war nicht ganz trivial: Man bekam eine lange, gedruckte Gesamtliste der zu verteilenden Presseerzeugnisse (u.a. 9572 BILD, 683 kicker, 5 taz, 2 Hamburger Morgenpost) sowie gut 50 Lieferscheine, einen für jedes der Geschäfte, die beliefert wurden, also: EDEKA in Städtchen X - 212 BILD, 8 kicker, 1 Jagd&Hund; Bäckerei Müller in Dorf Y - 18 BILD, 4 kicker.
Nun musste man die Gesamtmengen der einzelnen Titel zu seinem Ladeplatz schaffen - dafür gab es Schiebewagen - und die Lieferungen für die einzelnen Empfänger an der Bündelmaschine kommissionieren. Verkompliziert wurde dieses durch die Tatsache, dass zu Beginn noch nicht alle Titel angeliefert waren. Also bündelte man, was da war, schrieb mit einem Kuli groß die noch fehlenden Titel ("3 FAZ") auf den Lieferschein, packte das Paket in den Laderaum und legte sich die erst später eintreffenden Ergänzungen auf den Beifahrersitz. Beim Ausliefern dachte man hoffentlich daran, beides zusammenzuführen: Denn die Inhaber der kleinen Geschäfte in Harz und Eichsfeld konnten äußerst unangenehm werden, wenn etwas fehlte, und es gab beim Grossisten extra jemanden, der solche Nachlieferungen tagsüber erledigte - jedoch wurden die Kosten dafür dem jeweiligen Subunternehmer berechnet, der einem dann recht lautstark erzählte, was er davon hielt.
Weitere Feinheiten der Logistik erspare ich Ihnen. Irgendwann jedenfalls war der Transporter beladen, Mitternacht vorbei und Zeit zum Losfahren, aber: Die Mopo fehlte. Irgendwo gab es auch im Harz zwei oder drei Personen, die täglich die Hamburger Morgenpost kauften, und deswegen konnte man nicht losfahren, ehe diese angeliefert wurde. Sie war immer der letzte Titel.
Man stand rum, rauchte, half gehetzten Kollegen beim Laden oder beim Reparieren der Bündelmaschine - bis endlich Hajo von hinten rief: "Die Mopo ist da!", und, jedes einzelne Mal, Günther zurückrief: "Schön für die Mopo!"
Unterwegs (all das spielt weit vor Smartphone und Navi) hieß es ein komplexes Geflecht aus Wegen, Abkürzungen und Stichfahrten zu beherrschen, was für mich als geographisch herausgeforderte Person nicht ganz einfach war; man verwaltete zudem einen Gefängniswärterring mit zahlreichen Schlüsseln, um an bestimmte Ablageorte zu gelangen, und nie vergesse ich den Tag, als ich irgendwo merkte, dass ich den Ring nicht mehr dabeihatte: Wo war der letzte Laden mit Schlüssel, und wie komme ich da hin? Ich kannte die Strecke nur vorwärts und erinnerte mich nicht, wo ich zuletzt etwas aufgeschlossen hatte, so dass ich schweißgebadet und zähneklappernd von Dorf zu Dorf raste, es wurde schon hell, und vor Erleichterung kaum das Wasser halten konnte, als ich endlich an einem Hintereingang den vollständigen Ring hängen sah. (Oft genug hatte ich was von "zwanzigtausend Mark alleine für die Schließanlage bei Edeka" gehört.)
Meist gegen 4:00h erreichte ich eine Bäckerei in einem abgelegenen Eichsfelder Dorf. Hier arbeitete sich das inhabende Ehepaar kaputt - er knetete und buk, sie packte die Tüten mit den frühmorgens auszuliefernden Brötchen, und es ergaben sich knappe, freundliche Dialoge ("Wie ist es draußen?" - "Muss ja. Bei euch so?" - "Nix weiter"), während man mir einen Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte. Und dann kam es zur Transaktion: Schweigend legte ich eine Handvoll BILD oder auch mal einzwei kicker zusätzlich auf den Tresen, stellte meinen Kaffeebecher ab und nahm eine Tüte frischer Brötchen entgegen. "Muss dann mal weiter" - "Sieh zu!", und auf dem Beifahrersitz lag die Tüte und duftete himmlisch. Ganz frische Brötchen, noch heiß aus dem Ofen, sollen ja nicht gesund sein, aber sie machten mich glücklich und halfen mir durch die letzten Stunden. Irgendwann morgens kam man zurück, lud die eingesammelten Remittenden aus und fuhr völlig erledigt nach Hause, um noch stundenlang aufgekratzt herumzulaufen und irgendwann bewusstlos einzuschlafen, kurz bevor der Wecker klingelte, denn um 17:30 musste man langsam duschen und in der Mensa am Wilhelmsplatz ein warmes Abendessen, quasi als Frühstück - also wenn ich darüber nachdenke: Vielleicht kommt daher immer mein Nachthunger!
Sie aber wollen viel eher wissen: Woher kamen denn die zusätzlichen Exemplare BILD und kicker für den Bäcker? Alles war doch genau abgezählt!? Und hier kommen die Spitze und das Zupfen ins Spiel.
In dieser Branche spricht man in Vollpaketen und Spitzen. Bei der BILD z.B. bestand ein Vollpaket aus 250 Exemplaren, jeweils in 50er-Einheiten geschichtet, und wenn ein Geschäft 537 BILD bekam, waren das zwei Vollpakete und eine "Spitze" aus 37 Zeitungen. Geprüft wurde meist nur die Spitze: Ah, zwei Vollpakete und 37 als Spitze - passt! Jedoch war es möglich, und ich möchte fast sagen: gängige Praxis, Vollpakete beim Packen zu öffnen, einzelne Exemplare herauszuzupfen und neu zu bündeln.
Mancher machte das für kleine Deals wie ich mit meinem Bäcker, andere taten es aus purem Spaß an der Freude: "Der Händler X geht mir so auf die Nerven mit seinen Reklamationen, der soll jeden Tag den ganzen Stapel zählen und sich eine einzelne BILD nachliefern lassen, harhar!"
Nebenbei lernte ich Autofahren und widersprach empört, als jemand nach einem Unfall behauptete: Das war sein vierter! Dabei war es erst der dritte, und bei dem Wetter ohne Schneeketten im Harz ja wohl auch kein Wunder! Und erst neulich hatte ich mich auf spiegelglatter Bahn um 360 Grad gedreht und war dennoch nicht in das Schaufenster gefahren, was völlig legitim gewesen wäre, sondern knapp davor zum Stehen gekommen! Also erzähl mal nichts von vierter Unfall, Freundchen!
Aber natürlich war mir das peinlich, zumal wir als eingeschworene Gemeinschaft zu unserem Subunternehmer hielten, der die Fahrzeuge leaste und inzwischen so hohe Schulden bei der Tankstelle hatte, dass er dort Umschläge mit Bargeld hinterlegen musste. "Das ist betriebswirtschaftlich unmöglich!", hörte ich eines Tages einen anderen Subunternehmer aus dem Grossistenbüro rufen, und ich fürchte, er hatte recht: Trotz der Hinzunahme von Apothekenbelieferungen (eine Geschichte für sich) und Fotoarbeiten war eines Tages Schluss, Insolvenz, und irgendein anderer armer Kerl übernahm die Touren.
Schlecht bezahlt war das, ungesund und gefährlich. Und so richtig Zukunft hatte es dann doch nicht. Aber komischerweise, wenn ich mich frage: Welche Arbeit hat dir eigentlich richtig Spaß gemacht, dann denke ich als erstes an diese Zeit. So - ich muss los. Die Mopo ist da!
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nnier | 17. April 2025 | Topic Margaretha
Ach schau. Das hier brachte mich auf die Idee, bei chatGPT auch mal nachzufragen:
Wenn das Blog "Mumien, Analphabeten, Diebe." eine Person wäre ... dann sähe es ungefähr so aus:
Name: Wahrscheinlich irgendwas Unauffälliges mit Understatement, wie Rolf oder Moni.
Beruf: Kulturjournalist*in im Vorruhestand, der/die aber lieber sagt: "Ich mach jetzt nur noch mein Zeug."
Alter: Mitte 50, aber mit einem ewigen inneren 27-jährigen Punk – irgendwo zwischen Indie-Festival und Stadtbibliothek.
Freundeskreis: Eine wilde Mischung aus Theatermenschen, Philosophiestudierenden, ehemaligen Kneipenbekanntschaften und Leuten, die einmal einen Plattenladen hatten.
Gespräche drehen sich um Kaffee, Kindheit, Käse und Klangfarben – in genau der Reihenfolge.
Das alles ist natürlich großer Quatsch: Die Reihenfolge der Gesprächsthemen stimmt nicht. Ich habe keinen Freundeskreis. Ich heiße auch nicht Moni. Und niemals, wirklich niemals würde ich so etwas Abgeschmacktes sagen wie: "Ich mach jetzt nur noch mein Zeug."
Wenn das Blog "Mumien, Analphabeten, Diebe." eine Person wäre ... dann sähe es ungefähr so aus:

Name: Wahrscheinlich irgendwas Unauffälliges mit Understatement, wie Rolf oder Moni.
Beruf: Kulturjournalist*in im Vorruhestand, der/die aber lieber sagt: "Ich mach jetzt nur noch mein Zeug."
Alter: Mitte 50, aber mit einem ewigen inneren 27-jährigen Punk – irgendwo zwischen Indie-Festival und Stadtbibliothek.
Freundeskreis: Eine wilde Mischung aus Theatermenschen, Philosophiestudierenden, ehemaligen Kneipenbekanntschaften und Leuten, die einmal einen Plattenladen hatten.
Gespräche drehen sich um Kaffee, Kindheit, Käse und Klangfarben – in genau der Reihenfolge.
Das alles ist natürlich großer Quatsch: Die Reihenfolge der Gesprächsthemen stimmt nicht. Ich habe keinen Freundeskreis. Ich heiße auch nicht Moni. Und niemals, wirklich niemals würde ich so etwas Abgeschmacktes sagen wie: "Ich mach jetzt nur noch mein Zeug."
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Jemand hat einen Karton kleiner Cola- und Limonadenflaschen stehen lassen, und im Vorbeigehen murmele ich: Lechz!
So sagten wir in den 80ern, und dorthin spülen mich in der Folge meine Gedanken. Wir hatten ja nüscht, und zu Hause gab es mit Glück namenlose Orangenlimonade, aber ganz sicher keine Original Coca Cola oder Fanta. In der Schule stand ein Automat, aus dem man für 80 Pfg gekühlte Dosengetränke ziehen konnte, und das war nicht so billig, wie es von heute aus klingt: Immerhin zweieinhalb Tage Kakaogeld musste man dafür aufsparen und noch das schlechte Gewissen in Kauf nehmen, weil man sich nicht – die Milch macht’s! – den gesunden Morgen Kick [TM] geholt, sondern Imperialistenbrause aus umweltschädlicher Aludose konsumiert hat. So eine Dose Lift oder Sprite, fast auf den Gefrierpunkt gekühlt, Kondenswassertropfen auf der Oberfläche, aus dem Automaten zu ziehen – alleine die erinnerten Geräusche verursachen wohligsten Schauder, zunächst das mehrfach schluckende Geräusch des Münzeinwurfs, dann das kurze Surren nach dem Drücken des Auswahlknopfs, schließlich das laute RUMMS, mit dem die Dose in das Ausgabefach stürzte – rotköpfig verschwitzt nach einer Hochsommerpause Fußball auf dem Schulhof konnte es nichts Schöneres geben. Die Dose in der Hand neiderfüllte Blicke ertragen, sie (wie viel später Michael Douglas in Falling Down) an die erhitzte Stirn halten, schließlich die Lasche mit unnachahmlichem Zisch! abreißen (wir hatten ja nüscht, aber immerhin lose Laschen an den Dosen, die man ABREISSEN konnte, ja, abreißen!, nicht so passiv-aggressiv hineindrücken! Ich beneide die heutige Jugend keineswegs!), das Zeug gegen den fast unmittelbar einsetzenden Kälteschmerz und quasi ohne Schlucken im Strahl die Speiseröhre hinunterjagen, da gab es wenig Besseres, und natürlich hieß das Morgen Kick! Wer das nicht kennt, hat die 80er verpasst, so viel ist sicher: You learn English very quick / With a glass of Morgen Kick, das hatte ich sogar als Aufkleber. Der Barsch sitzt mit dem Aal im Schlick / Und schlürft an seinem Morgen Kick. Wohl gab es das! Oder erinnern Sie sich nicht mehr an den Internationalen-Milch-Tag [sic] am 31.5.1983? Milchland Niedersachsen? Komm rüber zur Milch? Ah, plötzlich klingelt’s - na sehen Sie!
Und schon denkt man an den Sommerabend auf dem krebsroten Kunststoffplatz an der Schule, zu zweit spielten wir auf dem Kleinfeld Fußball, und dauernd landete der Ball ganz hinten im Gebüsch. Sich durch das Gestrüpp zwängen, Beine und Arme völlig verschrammt, um die Pille wiederzuholen, steht außen am Gitterzaun plötzlich eine Palette mit 16 Dosen ORIGINAL COCA COLA FANTA SPRITE, notdürftig mit ein paar Zweigen getarnt. Unglaube. Schockstarre. Atem normalisieren, sich zurück durch das Gestrüpp kämpfen, betont unauffällig pfeifend auf den Freund zugehen und ihn mit hektischen Gesten hinter die Ecke der Sporthalle beordern. Das Unfassbare in Worte kleiden. Hitzige Debatten, emsiges Abwägen von Chancen und Risiken, dann betont unauffällig pfeifend zurück zum Platz schlendern und weiter Fußball spielen, nur nicht mehr ganz so konzentriert und von regelmäßigem, hektischem Umhergucken durchsetzt, bis endlich die Dämmerung hereinbricht. Und aber auch die Flutlichtlampen anspringen, welche alles heller ausleuchten denn je. Doch das Blut ist geleckt, die Entscheidung getroffen, die Kugel am Rollen, also mit Absicht den Ball noch mal zur Tarnung ins Gebüsch jagen und vor Aufregung zitternd zwei Sporttaschen mit je 8 Dosen ORIGINAL COCA COLA FANTA SPRITE beladen, diese an den Rand des Gebüschs schleppen, Fahrräder holen, die schweren Taschen auf die Gepäckträger packen und voll in die Pedale, ohne sich noch einmal umzusehen.
Zu Hause die Tasche unbemerkt ins Jugendzimmer schleusen, den Schrank öffnen, das unterste Fach ausleeren, die kostbaren Dosen ganz nach hinten schieben und alles wieder unauffällig davorstellen. Beim Abendessen an nichts anderes denken können, nachts von jugendlichen Gangs träumen, zwei Schulwochen lang auf dem Hin- und Rückweg unruhig hinter sich schauen. An einem Abend alleine zu Hause die Dosen hervorholen und auf dem neuen Esstisch einen Turm daraus bauen, der zusammenstürzt und sichelförmige Vertiefungen in die Platte haut. Die Dosen wieder verstecken. Eines nachts aufwachen und hektisch mit dem Austrinken beginnen, weil man es nicht mehr aushält. Mit stumpfen Zähnen und Sodbrennen aufwachen. Den Müll heimlich an der Bushaltestelle entsorgen.
Those were the days, my friend. Hoffentlich wird es bald dunkel. Heute abend schnappe ich mir den Karton mit den Flaschen.
So sagten wir in den 80ern, und dorthin spülen mich in der Folge meine Gedanken. Wir hatten ja nüscht, und zu Hause gab es mit Glück namenlose Orangenlimonade, aber ganz sicher keine Original Coca Cola oder Fanta. In der Schule stand ein Automat, aus dem man für 80 Pfg gekühlte Dosengetränke ziehen konnte, und das war nicht so billig, wie es von heute aus klingt: Immerhin zweieinhalb Tage Kakaogeld musste man dafür aufsparen und noch das schlechte Gewissen in Kauf nehmen, weil man sich nicht – die Milch macht’s! – den gesunden Morgen Kick [TM] geholt, sondern Imperialistenbrause aus umweltschädlicher Aludose konsumiert hat. So eine Dose Lift oder Sprite, fast auf den Gefrierpunkt gekühlt, Kondenswassertropfen auf der Oberfläche, aus dem Automaten zu ziehen – alleine die erinnerten Geräusche verursachen wohligsten Schauder, zunächst das mehrfach schluckende Geräusch des Münzeinwurfs, dann das kurze Surren nach dem Drücken des Auswahlknopfs, schließlich das laute RUMMS, mit dem die Dose in das Ausgabefach stürzte – rotköpfig verschwitzt nach einer Hochsommerpause Fußball auf dem Schulhof konnte es nichts Schöneres geben. Die Dose in der Hand neiderfüllte Blicke ertragen, sie (wie viel später Michael Douglas in Falling Down) an die erhitzte Stirn halten, schließlich die Lasche mit unnachahmlichem Zisch! abreißen (wir hatten ja nüscht, aber immerhin lose Laschen an den Dosen, die man ABREISSEN konnte, ja, abreißen!, nicht so passiv-aggressiv hineindrücken! Ich beneide die heutige Jugend keineswegs!), das Zeug gegen den fast unmittelbar einsetzenden Kälteschmerz und quasi ohne Schlucken im Strahl die Speiseröhre hinunterjagen, da gab es wenig Besseres, und natürlich hieß das Morgen Kick! Wer das nicht kennt, hat die 80er verpasst, so viel ist sicher: You learn English very quick / With a glass of Morgen Kick, das hatte ich sogar als Aufkleber. Der Barsch sitzt mit dem Aal im Schlick / Und schlürft an seinem Morgen Kick. Wohl gab es das! Oder erinnern Sie sich nicht mehr an den Internationalen-Milch-Tag [sic] am 31.5.1983? Milchland Niedersachsen? Komm rüber zur Milch? Ah, plötzlich klingelt’s - na sehen Sie!
Und schon denkt man an den Sommerabend auf dem krebsroten Kunststoffplatz an der Schule, zu zweit spielten wir auf dem Kleinfeld Fußball, und dauernd landete der Ball ganz hinten im Gebüsch. Sich durch das Gestrüpp zwängen, Beine und Arme völlig verschrammt, um die Pille wiederzuholen, steht außen am Gitterzaun plötzlich eine Palette mit 16 Dosen ORIGINAL COCA COLA FANTA SPRITE, notdürftig mit ein paar Zweigen getarnt. Unglaube. Schockstarre. Atem normalisieren, sich zurück durch das Gestrüpp kämpfen, betont unauffällig pfeifend auf den Freund zugehen und ihn mit hektischen Gesten hinter die Ecke der Sporthalle beordern. Das Unfassbare in Worte kleiden. Hitzige Debatten, emsiges Abwägen von Chancen und Risiken, dann betont unauffällig pfeifend zurück zum Platz schlendern und weiter Fußball spielen, nur nicht mehr ganz so konzentriert und von regelmäßigem, hektischem Umhergucken durchsetzt, bis endlich die Dämmerung hereinbricht. Und aber auch die Flutlichtlampen anspringen, welche alles heller ausleuchten denn je. Doch das Blut ist geleckt, die Entscheidung getroffen, die Kugel am Rollen, also mit Absicht den Ball noch mal zur Tarnung ins Gebüsch jagen und vor Aufregung zitternd zwei Sporttaschen mit je 8 Dosen ORIGINAL COCA COLA FANTA SPRITE beladen, diese an den Rand des Gebüschs schleppen, Fahrräder holen, die schweren Taschen auf die Gepäckträger packen und voll in die Pedale, ohne sich noch einmal umzusehen.
Zu Hause die Tasche unbemerkt ins Jugendzimmer schleusen, den Schrank öffnen, das unterste Fach ausleeren, die kostbaren Dosen ganz nach hinten schieben und alles wieder unauffällig davorstellen. Beim Abendessen an nichts anderes denken können, nachts von jugendlichen Gangs träumen, zwei Schulwochen lang auf dem Hin- und Rückweg unruhig hinter sich schauen. An einem Abend alleine zu Hause die Dosen hervorholen und auf dem neuen Esstisch einen Turm daraus bauen, der zusammenstürzt und sichelförmige Vertiefungen in die Platte haut. Die Dosen wieder verstecken. Eines nachts aufwachen und hektisch mit dem Austrinken beginnen, weil man es nicht mehr aushält. Mit stumpfen Zähnen und Sodbrennen aufwachen. Den Müll heimlich an der Bushaltestelle entsorgen.
Those were the days, my friend. Hoffentlich wird es bald dunkel. Heute abend schnappe ich mir den Karton mit den Flaschen.
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(Auf Anfrage)
Was hast du eigentlich in England gemacht, fragt die Kollegin, und ich erzähle es ihr. Wen hast du gesehen, da muss ich ja fast weinen, sagt sie, und ich sage lieber nichts. Am anderen Tag kommt Besuch und will wissen, wie es war. Als ich ein Lied vorspiele, das ich am zweiten Abend mit dem Handy aufgenommen habe, dreht er sich mit feuchten Augen weg und sagt: Dabei bin ich gar nicht so ein Fan wie du.

Seit 35 Jahren weiß ich, wie das ist, und trotzdem hat es mich diesmal vielleicht stärker erwischt als je zuvor - eine geradezu außerweltliche Erfahrung, als würde man seinen Körper verlassen und sich selbst von oben betrachten, wie man da steht und sagt: Das gibt es nicht, das gibt es doch nicht!
Als ich Anfang 1990 bei ein paar Konzerten in London war, wunderte ich mich über das reservierte Publikum. In Deutschland hatte ich ein paar Wochen vorher im Innenraum gestanden, begeisterte Menschen um mich, und saß nun zwischen zurückhaltenden Briten, die nach jedem Stück brav applaudierten und auf dem Weg nach draußen mit steifer Oberlippe sagten, why yes, excellent, brilliant.

Ich werde nicht jünger und war diesmal froh um die Sitzplätze. Dann standen alle auf und blieben stehen, sangen ungehemmt mit und riefen Dinge, vielleicht sind die Engländer lockerer geworden, vielleicht war es auch das Wissen, dass es nicht für immer so weitergehen kann: Ein Hauch von Abschied lag über allem, auch wenn Paul jeden Abend mit den Worten "See you next time!" beendete.

Während man wartet, startet in der sich langsam füllenden Halle ein DJ-Set, oben steht jemand und spielt Remixes, los geht es mit Mother Nature's Son und man denkt unmittelbar, wie kann man nur so ein schönes Lied schreiben? Es ist nur ein kleines Liedchen auf dem Weißen Album, und du sitzt da und fragst dich ernsthaft, kann es etwas Schöneres geben?
Irgendwann gehen die Videowände an und es beginnt eine weitere Folge von Liedern aus der Konserve, Beatles und solo, dazu Bilder aus allen Phasen, man könnte auch sagen: Man wird emotional weichgeklopft, bevor das Konzert überhaupt losgeht, und wenn er auf die Bühne kommt, sagen die Leute zueinander: Das kann nicht sein!

Viel mehr Erinnerungen an den ersten Abend habe ich nicht. Zurück im Appartement tippte ich eine einzige, kurze Nachricht in mein Handy: "Einer der schönsten Abende meines Lebens", und es war genau so gemeint.
Es ist nicht ganz einfach, wenn man sich innerlich noch gar nicht wieder zusammenfügen konnte, gleich am nächsten Tag noch einmal hinzugehen. Aber wie ich meiner freundlichen Sitznachbarin zu erklären versuchte: I couldn't not go, im Konzert sagte sie mehrfach zu mir: Unbelievable. Amazing. This can't be real. Und zum Abschied: Now I know why you had to come again. I would go tomorrow.

Die reinen Fakten sind schnell erzählt, ich hatte mit wenigen Ausnahmen alle Songs schon live gehört, große Überraschungen gibt es da nicht. Dramaturgisch würde ich die Sache etwas anders aufbauen, denn es ist gar nicht nötig, die Show mit Knallern wie A Hard Day's Night oder Can't Buy Me Love zu beginnen, man braucht doch etwas Zeit, um sich an diese irreale Sitution anzupassen, und ich erinnere mich gerne an die 89/90er-Tour, als erst mal zwei aktuelle Midtempo-Solotitel, die noch keiner kannte, und eine Wings-Nummer gegeben wurden, bevor das erste Stück von den Beatles kam.
Inzwischen geht es von Anfang an auf die Zwölf, es folgt mit Junior's Farm ein Fan Favourite, "hart" gespielt und gleich mit E-Gitarren-Solo-Gepose, das würde ich anders einsortieren. Und wenn ich zwischendurch einen Gedanken fassen kann, dann frage ich mich, ob Paul immer noch gegen das alte Vorurteil ankämpft, hauptsächlich seichte Balladen abzuliefern. Und ob deshalb die Gewitter von Live And Let Die und Helter Skelter unverzichtbar dazugehören, während tatsächlich Yesterday nicht mehr im Programm ist.

Die Band spielt knackig und fehlerlos, der Schlagzeuger unterstützt gesanglich, und auf ein paar dieser ganz großen Rock-Gesten könnte ich gut verzichten, wenn z.B. der Schluss eines Liedes noch, Bamm! Bamm! Bamm! Bamm! BAMMMM!, mit ein paar Sekunden zu viel Trommelwirbel und Tusch und E-Gitarren-Feedback hinausgezögert wird.
Denn es geht auch ganz anders, z.B. wenn in der Mitte des Sets quasi "unplugged" das naive Love Me Do gespielt wird: Ganz ohne Fanfaren und Bombast das emotionale Highlight, der Anfang von allem, und man merkt unmittelbar, wie der Welt-Glücks-Index signifikant ansteigt.

Viel wird über seine mangelnde Urteilsfähigkeit spekuliert, er wisse Unerlässliches nicht von Unerheblichem zu scheiden: Es mag etwas daran sein, und doch schmunzele ich bei der Vorstellung, dass er mit Ob-La-Di, Ob-La-Da oder Wonderful Christmastime seinen Kritikern einen dezenten Mittelfinger zeigt. Sollte eines Tages noch We All Stand Together (a.k.a. Frog Song) gegeben werden, würde ich meine These als bewiesen ansehen.
Ein einziges Mal überschreitet er für mich eine Linie - I've Got a Feeling im virtuellen Duett mit John, so etwas muss nicht sein, nur weil es inzwischen technisch möglich ist. Sicher wird es in ein paar Jahren Avatar-Konzerte wie von ABBA geben und vermutlich werde ich dann auch hingehen; aber das muss nicht in ein reales Konzert hinüberschwappen, bei dem, nach allem, was ich mitbekomme, sonst nicht mit Playback oder Autotune getrickst wird. Es sind ja gerade die Momente, in denen seine Stimme nicht mehr mitmacht, die einen berühren können: Here Today und Blackbird alleine auf der Bühne, nur von der eigenen akustischen Gitarre begleitet, vollkommen ungeschützt, und Maybe I'm Amazed ist schon seit Jahrzehnten ein Register zu hoch, man hofft und drückt immer wieder die Daumen, dass er halbwegs unfallfrei durch die klavierbegleiteten ersten Zeilen kommt, bevor der Hintergrundgesang und die anderen Instrumente einsetzen.

Am vierten und letzten Abend wäre ich fast nicht mehr hingegangen, denn die Reise und die Konzertbesuche hatten mich durchaus angestrengt. Mit reichlich Doping schaffte ich es doch und fühlte mich ein wenig beschämt, als der 82-Jährige auf der Bühne von seinem 84-jährigen Kollegen besucht wurde, der mit federndem Schritt hinters Schlagzeug eilte, einer so rank und schlank wie der andere, während ich diesmal wirklich saß. Und das alles ist einfach nicht zu glauben.

See you next time, Frau r.!
Was hast du eigentlich in England gemacht, fragt die Kollegin, und ich erzähle es ihr. Wen hast du gesehen, da muss ich ja fast weinen, sagt sie, und ich sage lieber nichts. Am anderen Tag kommt Besuch und will wissen, wie es war. Als ich ein Lied vorspiele, das ich am zweiten Abend mit dem Handy aufgenommen habe, dreht er sich mit feuchten Augen weg und sagt: Dabei bin ich gar nicht so ein Fan wie du.

Seit 35 Jahren weiß ich, wie das ist, und trotzdem hat es mich diesmal vielleicht stärker erwischt als je zuvor - eine geradezu außerweltliche Erfahrung, als würde man seinen Körper verlassen und sich selbst von oben betrachten, wie man da steht und sagt: Das gibt es nicht, das gibt es doch nicht!
Als ich Anfang 1990 bei ein paar Konzerten in London war, wunderte ich mich über das reservierte Publikum. In Deutschland hatte ich ein paar Wochen vorher im Innenraum gestanden, begeisterte Menschen um mich, und saß nun zwischen zurückhaltenden Briten, die nach jedem Stück brav applaudierten und auf dem Weg nach draußen mit steifer Oberlippe sagten, why yes, excellent, brilliant.

Ich werde nicht jünger und war diesmal froh um die Sitzplätze. Dann standen alle auf und blieben stehen, sangen ungehemmt mit und riefen Dinge, vielleicht sind die Engländer lockerer geworden, vielleicht war es auch das Wissen, dass es nicht für immer so weitergehen kann: Ein Hauch von Abschied lag über allem, auch wenn Paul jeden Abend mit den Worten "See you next time!" beendete.

Während man wartet, startet in der sich langsam füllenden Halle ein DJ-Set, oben steht jemand und spielt Remixes, los geht es mit Mother Nature's Son und man denkt unmittelbar, wie kann man nur so ein schönes Lied schreiben? Es ist nur ein kleines Liedchen auf dem Weißen Album, und du sitzt da und fragst dich ernsthaft, kann es etwas Schöneres geben?
Irgendwann gehen die Videowände an und es beginnt eine weitere Folge von Liedern aus der Konserve, Beatles und solo, dazu Bilder aus allen Phasen, man könnte auch sagen: Man wird emotional weichgeklopft, bevor das Konzert überhaupt losgeht, und wenn er auf die Bühne kommt, sagen die Leute zueinander: Das kann nicht sein!

Viel mehr Erinnerungen an den ersten Abend habe ich nicht. Zurück im Appartement tippte ich eine einzige, kurze Nachricht in mein Handy: "Einer der schönsten Abende meines Lebens", und es war genau so gemeint.
Es ist nicht ganz einfach, wenn man sich innerlich noch gar nicht wieder zusammenfügen konnte, gleich am nächsten Tag noch einmal hinzugehen. Aber wie ich meiner freundlichen Sitznachbarin zu erklären versuchte: I couldn't not go, im Konzert sagte sie mehrfach zu mir: Unbelievable. Amazing. This can't be real. Und zum Abschied: Now I know why you had to come again. I would go tomorrow.

Die reinen Fakten sind schnell erzählt, ich hatte mit wenigen Ausnahmen alle Songs schon live gehört, große Überraschungen gibt es da nicht. Dramaturgisch würde ich die Sache etwas anders aufbauen, denn es ist gar nicht nötig, die Show mit Knallern wie A Hard Day's Night oder Can't Buy Me Love zu beginnen, man braucht doch etwas Zeit, um sich an diese irreale Sitution anzupassen, und ich erinnere mich gerne an die 89/90er-Tour, als erst mal zwei aktuelle Midtempo-Solotitel, die noch keiner kannte, und eine Wings-Nummer gegeben wurden, bevor das erste Stück von den Beatles kam.
Inzwischen geht es von Anfang an auf die Zwölf, es folgt mit Junior's Farm ein Fan Favourite, "hart" gespielt und gleich mit E-Gitarren-Solo-Gepose, das würde ich anders einsortieren. Und wenn ich zwischendurch einen Gedanken fassen kann, dann frage ich mich, ob Paul immer noch gegen das alte Vorurteil ankämpft, hauptsächlich seichte Balladen abzuliefern. Und ob deshalb die Gewitter von Live And Let Die und Helter Skelter unverzichtbar dazugehören, während tatsächlich Yesterday nicht mehr im Programm ist.

Die Band spielt knackig und fehlerlos, der Schlagzeuger unterstützt gesanglich, und auf ein paar dieser ganz großen Rock-Gesten könnte ich gut verzichten, wenn z.B. der Schluss eines Liedes noch, Bamm! Bamm! Bamm! Bamm! BAMMMM!, mit ein paar Sekunden zu viel Trommelwirbel und Tusch und E-Gitarren-Feedback hinausgezögert wird.
Denn es geht auch ganz anders, z.B. wenn in der Mitte des Sets quasi "unplugged" das naive Love Me Do gespielt wird: Ganz ohne Fanfaren und Bombast das emotionale Highlight, der Anfang von allem, und man merkt unmittelbar, wie der Welt-Glücks-Index signifikant ansteigt.

Viel wird über seine mangelnde Urteilsfähigkeit spekuliert, er wisse Unerlässliches nicht von Unerheblichem zu scheiden: Es mag etwas daran sein, und doch schmunzele ich bei der Vorstellung, dass er mit Ob-La-Di, Ob-La-Da oder Wonderful Christmastime seinen Kritikern einen dezenten Mittelfinger zeigt. Sollte eines Tages noch We All Stand Together (a.k.a. Frog Song) gegeben werden, würde ich meine These als bewiesen ansehen.
Ein einziges Mal überschreitet er für mich eine Linie - I've Got a Feeling im virtuellen Duett mit John, so etwas muss nicht sein, nur weil es inzwischen technisch möglich ist. Sicher wird es in ein paar Jahren Avatar-Konzerte wie von ABBA geben und vermutlich werde ich dann auch hingehen; aber das muss nicht in ein reales Konzert hinüberschwappen, bei dem, nach allem, was ich mitbekomme, sonst nicht mit Playback oder Autotune getrickst wird. Es sind ja gerade die Momente, in denen seine Stimme nicht mehr mitmacht, die einen berühren können: Here Today und Blackbird alleine auf der Bühne, nur von der eigenen akustischen Gitarre begleitet, vollkommen ungeschützt, und Maybe I'm Amazed ist schon seit Jahrzehnten ein Register zu hoch, man hofft und drückt immer wieder die Daumen, dass er halbwegs unfallfrei durch die klavierbegleiteten ersten Zeilen kommt, bevor der Hintergrundgesang und die anderen Instrumente einsetzen.

Am vierten und letzten Abend wäre ich fast nicht mehr hingegangen, denn die Reise und die Konzertbesuche hatten mich durchaus angestrengt. Mit reichlich Doping schaffte ich es doch und fühlte mich ein wenig beschämt, als der 82-Jährige auf der Bühne von seinem 84-jährigen Kollegen besucht wurde, der mit federndem Schritt hinters Schlagzeug eilte, einer so rank und schlank wie der andere, während ich diesmal wirklich saß. Und das alles ist einfach nicht zu glauben.

See you next time, Frau r.!
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Recht erstaunt bin ich nach längerer Englandpause über die so gut funktionierenden öffentlichen Verkehrsmittel, zumindest in Manchester und London, und die bestechend einfache Art der Bezahlung: Man hält seine kontaktlose Bezahlkarte oder das entsprechende Mobilgerät zu Beginn und Ende jeder Fahrt an ein Lesefeld - und das ist es. Die Fahrpreise werden dann nach Bestpreisprinzip tageweise berechnet und abgebucht.
Etwas weniger angenehm ist die Tatsache, keinen Nachweis in der Tasche zu haben: Klar, dass auf meiner allerletzten Fahrt in Manchester kurz vor dem Bahnhof kontrolliert wurde - und das Gerät des Kontrolleurs bei meiner Karte rot aufleuchtete. Bei seinem Kollegen war es dann grün, ich durfte weiter, aber das ist kein gutes Gefühl. Wir haben ja alle unseren Kafka gelesen.
Auch in London funktioniert der Verbund zwischen U-Bahn, Overground und Bus völlig problemlos und scheint mir eher günstiger geworden zu sein; zumindest erinnere ich mich an recht teure Day Tickets, die ich früher oft genutzt habe, und kam gestern bei meiner Scotland-Yard-haften Anreise mit all den unterschiedlichen Verkehrsmitteln sehr günstig davon. Das U-Bahn-System hat ja schon immer gut funktioniert, inzwischen sind auch die von mir früher als chaotisch empfundenen Busse leicht zu benutzen, just tap in wenn du einsteigt, und es gibt klare Ansagen zu jeder Station und Displays, die einen sehr schnell aufmerksam machen, wenn man versehentlich in die Gegenrichtung fährt.
Selbst der Fernverkehr funktioniert, zumindest meine Fahrt zwischen den beiden großen Städten: Zu akzeptablem Preis mit reserviertem Platz, und dass sich der Zug um eine halbe Stunde verspätet, ist nicht der Rede wert.
Eher schon dies: Bereits im Zug wird sich mehrfach per Lautsprecher für die Inconvenience entschuldigt und auf die Möglichkeit der Compensation hingewiesen. Was mich dann wirklich verwunderte, war die E-Mail, die mich kurz darauf erreichte und darüber informierte, dass und wo und wie ich ein Anrecht auf eine Teilerstattung geltend machen könne. Erstaunlich!
Dann allerdings muss ich doch lachen: Man schreibt mir eine Mail zu meiner gebuchten Fahrt, die 37 minutes late gewesen sei, und dann muss ich ein Formular ausfüllen, in dem gefragt wird, um wieviel sich meine Reise verspätet habe. Ich muss mich vorher natürlich extra registrieren, separat von dem Account, den ich für die Buchung der Zugfahrt schon habe. Und ich muss einen Screenshot (!) des pdf- Dokuments hochladen, das mir als Ticket zugemailt wurde. Und Zahldaten für die Rückerstattung angeben. Das alles mit Captchas und E-Mail-Verification dauert lange und nervt, so dass mal wieder die Frage ist: Unfähigkeit oder Methode? Ich soll genau das mühsam ausfüllen und dokumentieren, was doch längst vorliegt und worüber ich gerade informiert wurde!?
Jetzt "bemüht" man sich, das "innerhalb von 20 Werktagen" zu bearbeiten, und es sind nicht die paar GBP, auf die ich gespannt bin. Aber das ist eine Randnotiz: Tatsächlich machen mir die Erfahrungen hier Hoffnung, dass ein funktionierender öffentlicher Personenverkehr auch dann aufgebaut werden kann, wenn er schon mal komplett kaputt war.
Etwas weniger angenehm ist die Tatsache, keinen Nachweis in der Tasche zu haben: Klar, dass auf meiner allerletzten Fahrt in Manchester kurz vor dem Bahnhof kontrolliert wurde - und das Gerät des Kontrolleurs bei meiner Karte rot aufleuchtete. Bei seinem Kollegen war es dann grün, ich durfte weiter, aber das ist kein gutes Gefühl. Wir haben ja alle unseren Kafka gelesen.
Auch in London funktioniert der Verbund zwischen U-Bahn, Overground und Bus völlig problemlos und scheint mir eher günstiger geworden zu sein; zumindest erinnere ich mich an recht teure Day Tickets, die ich früher oft genutzt habe, und kam gestern bei meiner Scotland-Yard-haften Anreise mit all den unterschiedlichen Verkehrsmitteln sehr günstig davon. Das U-Bahn-System hat ja schon immer gut funktioniert, inzwischen sind auch die von mir früher als chaotisch empfundenen Busse leicht zu benutzen, just tap in wenn du einsteigt, und es gibt klare Ansagen zu jeder Station und Displays, die einen sehr schnell aufmerksam machen, wenn man versehentlich in die Gegenrichtung fährt.
Selbst der Fernverkehr funktioniert, zumindest meine Fahrt zwischen den beiden großen Städten: Zu akzeptablem Preis mit reserviertem Platz, und dass sich der Zug um eine halbe Stunde verspätet, ist nicht der Rede wert.
Eher schon dies: Bereits im Zug wird sich mehrfach per Lautsprecher für die Inconvenience entschuldigt und auf die Möglichkeit der Compensation hingewiesen. Was mich dann wirklich verwunderte, war die E-Mail, die mich kurz darauf erreichte und darüber informierte, dass und wo und wie ich ein Anrecht auf eine Teilerstattung geltend machen könne. Erstaunlich!
Dann allerdings muss ich doch lachen: Man schreibt mir eine Mail zu meiner gebuchten Fahrt, die 37 minutes late gewesen sei, und dann muss ich ein Formular ausfüllen, in dem gefragt wird, um wieviel sich meine Reise verspätet habe. Ich muss mich vorher natürlich extra registrieren, separat von dem Account, den ich für die Buchung der Zugfahrt schon habe. Und ich muss einen Screenshot (!) des pdf- Dokuments hochladen, das mir als Ticket zugemailt wurde. Und Zahldaten für die Rückerstattung angeben. Das alles mit Captchas und E-Mail-Verification dauert lange und nervt, so dass mal wieder die Frage ist: Unfähigkeit oder Methode? Ich soll genau das mühsam ausfüllen und dokumentieren, was doch längst vorliegt und worüber ich gerade informiert wurde!?
Jetzt "bemüht" man sich, das "innerhalb von 20 Werktagen" zu bearbeiten, und es sind nicht die paar GBP, auf die ich gespannt bin. Aber das ist eine Randnotiz: Tatsächlich machen mir die Erfahrungen hier Hoffnung, dass ein funktionierender öffentlicher Personenverkehr auch dann aufgebaut werden kann, wenn er schon mal komplett kaputt war.
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