Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Freitag, 3. Juni 2011
Setzen Sie sich
nnier | 03. Juni 2011 | Topic In echt
Ich weiß nicht, wie viele Tage und Nächte ich als Kind davon geträumt habe, auf einer Wolke aus Kuchenteig herumzulaufen und mir Stücke davon abzureißen.

Zu den angenehmen Überraschungen im Spätkapitalismus gehört es ja, dass bisher noch keine ganz schlimme Verhunzung und Verramschung der Petzi-Figuren stattgefunden hat. Natürlich wurden die ursprünglich schön kritzeligen Figuren vor einigen Jahren verstromlinienförmigt, um damit eine Serie langweiliger Zeichentrickfünfminüter und begleitender Pixi-Bücher* zu produzieren, die gewisse Motive aus den ursprünglichen, langen Geschichten nur locker aufnahmen und aus der psychedelischen, manchmal grenzwahnsinnigen Petzi-Welt einen bonbonbunten Sandkasten machten, in dem alles wohlgeordnet und brav zu Mama nach Hause kommt, wenn es abend wird, damit die harmlosen Geschichtchen hübsch in sich abgeschlossen sind und bloß keine Entwicklung stattfindet - andernfalls könnte die an die Streberin Conni gewöhnte Pixileserschaft ja einen Kulturschock bekommen. Verflachung also auch hier, als könne man Kinder nicht mehr ernst nehmen, aber es ist dennoch nie so schlimm geworden wie in anderen Fällen.

Einige Petzi-Bücher*** lagen bei meiner Oma im Keller und waren wohl schon von ihren Kindern gelesen worden. Bei jedem Besuch verzog ich mich irgendwann nach unten und las diese seltsamen, tief beeindruckenden Geschichten. Und von allem Fantastischen, das darin geschieht, hat sich insbesondere eine Sequenz tief in mein Gedächtnis gegraben: Aus irgendeinem Grunde ist man über den Wolken unterwegs, steigt aus, läuft auf den Wolken herum und isst davon - denn sie bestehen aus Kuchenteig.



Daran musste ich neulich wieder denken, als ich mir ein Fahrrad ansah. Ich wollte es mir ja nur mal ansehen, denn der Name Kettler ist durchaus geeignet, mich in die Flucht zu schlagen - nein, versicherte der Anbieter, mit den gefürchteten Kettler Alurädern habe seines nun wirklich nichts gemein, das sei ein hochwertiges Fahrrad, eines fürs Leben. Er verkaufe es schweren Herzens, da er aus gesundheitlichen Gründen auf ein Modell mit tiefem Einstieg umsteigen müsse.

Bei der verabredeten Besichtigung schob der Verkäufer das Rad aus der Garage und sah traurig aus. "Ich wollt's erst gar nicht hergeben", sprach er, dem man seine gesundheitlichen Probleme leider sehr deutlich anmerkte, erzählte dann von seinem Arbeitsunfall vor vielen Jahren und wie er danach viel habe fahrradfahren müssen, er habe sich da wirklich etwas Schönes geleistet und auch noch hier und da umbauen lassen, nur könne er heute nicht mehr auf ein Herrenrad steigen, das sei das Problem. Ich sah schon, dass das ein hochwertiges Fahrrad war, kein ganz neues Modell natürlich, aber eines fürs Leben, und ich durfte aufsteigen und probefahren, drehte nach hundert Metern wieder um und zahlte ohne zu handeln den geforderten Preis, denn ich hatte auf einer Wolke aus Kuchenteig gesessen.



"Aber für das klassische Herrenfahrrad bin ich [...] verloren", hieß es neulich im Kommentar eines Rennfahrers, den ich mir auf meiner jüngsten Erwerbung tatsächlich auch nur schwer vorstellen kann, denn es ist ein Fahrrad für klassische Herren, "Senioren" könnte man sie auch nennen, oder übertreibe ich jetzt? Womöglich ist es vor allem dieser Sattel, diese vollgefederte und ein wenig monströs aussehende Masturbationshilfe, auf die sich jeder erst mal draufsetzen will, dann ein entrücktes Lächeln bekommt und nicht mehr absteigen will.



Ein wertiges Fahrrad ist es, man merkt es an vielen Einzelheiten, der Fahrradständer federt satt und ohne "Bäng", die Pedale sind auch ganz spezielle, Gepäckträger und Schutzbleche in Rahmenfarbe lackiert - nicht, dass mir so etwas wichtig wäre, aber es ist eine Fülle von Details, die insgesamt Spaß macht und vor allem beim Fahren regelrechte Hochgefühle aufkommen lässt, so beschwingt gleitet man dahin, nicht im Rennfahrertempo, aber stetig und mit einem, hm, soliden Gefühl, das ich so noch nicht kannte.



Mit dem Sattel allerdings bin ich mir nicht mehr so sicher. Denn bei allem teigigen Wohlgefühl: So richtig gemütlig ist das auf die Dauer gar nicht.

--
*Nicht zu verwechseln mit den früheren Pixi-Petzis**, die aus kurzen Ausschnitten aus den langen Geschichten bestanden, welche zu einer abgeschlossenen Kurzgeschichte umgebaut wurden; verwendet wurden hier aber die originalen Bilder und meist nur wenig geänderte Texte - so wie es das auch mit bestimmten Asterix-Geschichten gab.

**Was kann ich denn dafür!?

***Ich empfehle diese Seiten für einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Petzi-Ausgaben und schließe mich dieser dringenden Warnung zu 100% an, denn man kann auch die schönsten Geschichten kaputtpädagogisieren.

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