Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Montag, 18. April 2016
T.
nnier | 18. April 2016 | Topic In echt
Aus deinem Zimmer raus nach rechts, den Gang runter, links um die Ecke zum Fahrstuhl. Damit ins Erdgeschoss, rechts raus durch zwei Türen, die nicht automatisch aufgingen: Die musste man dir aufhalten. Nach links am Haus entlang, dann rechts über den Hof. Die Betonplatten um den Baum herum geschlitzt und uneben, aber das ging irgendwie, und bei der Einfahrt raus, vorbei an der alten Braumeistervilla, in der jetzt Physiotherapie angeboten wird: Das alles war ja mal das Brauereigelände. Direkt über die Straße und ein Stück nach rechts auf der Gegenfahrbahn entlang, so ging das am leichtesten mit deinem Wägelchen, und bei der Garageneinfahrt wieder auf den Bürgersteig.



Noch ein Stück bis zum Gartentor, hier das Wägelchen leicht anheben, und über den gepflasterten Weg zur Haustür. Dort das Wägelchen die Stufe hoch, da musste man dir helfen, dann warst du im Haus. Du hast dich am Geländer festgehalten oder am Türrahmen, während man das Wägelchen zusammengeklappt und in die Ecke gestellt hat. Vier Stufen Steintreppe, nach rechts drehen, dann kommen neun Stufen Holztreppe. Seit wir auf beiden Seiten Geländer haben, hast du das wieder alleine machen können, unglaublich! Noch einmal rechts rum, noch einmal sieben Holzstufen, durch die Wohnungstür. Jemand half dir aus dem Mantel, du musstest dich nicht festhalten, und dann durch die Küche an den Tisch im Wintergarten: Jemand hat dir die Hand gehalten, aber du konntest das noch ohne Stock laufen, und wenn du schließlich auf dem Stuhl gesessen hast, warst du froh über einen Schluck Wasser.



Das war dein Weg in den letzten Jahren, den bin ich jetzt noch mal alleine gegangen und habe mich gefreut, wie viel wir noch voneinander haben konnten. Du hattest umziehen müssen, nach über 90 Jahren, musstest weg von da, wohin man unendlich lange mit dem Auto fuhr, und dorthin, wo ich als Kind aus unserem Fenster den großen Garten der Braumeistervilla sehen konnte: Ausgerechnet da haben sie vor ein paar Jahren ein Heim gebaut. Leicht war das bestimmt nicht für dich, und doch war es gut, glaube ich. Ich bin froh, wie oft wir uns noch sehen konnten, mittagessen, rommeespielen, kaffeetrinken, miteinander sprechen. Das geht jetzt nicht mehr.



"Dann kam schon das elektrische Licht", hast du einmal erzählt, da habe ich mal wieder geahnt, aus welcher Welt du gekommen bist. Dein eigenes Licht ist jetzt erloschen. Schön, dass du da warst.

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Donnerstag, 25. Februar 2016
Mein Herz
nnier | 25. Februar 2016 | Topic In echt
An einen Tag muss ich oft denken, das war im letzten Sommer, nicht lange, bevor du gegangen bist. Ich kam von der Arbeit, nahm einen anderen Weg als üblich, der führte mich beim Kieferorthopäden vorbei. "Da muss sie die Tage auch noch hin, da hat sie die Tage auch noch einen Termin", wollten die Zahnräder in meinem Kopf gerade ineinandergreifen, da hörte ich deine Stimme: "Papa!", und wie wir uns beide gefreut haben, wie du mit deinem türkisblauen Hollandrad auf mich zugefahren bist, wie wir uns um den Hals gefallen sind, das war ein so schöner Moment, den werde ich nie vergessen.

Da war viel los in dieser Zeit, ich kam gar nicht mehr mit, und du kamst also gerade vom Kieferorthopäden, dann sind wir zusammen nach Hause gefahren und haben uns unterhalten und Quatsch gemacht und gelacht. Es gab noch so viel zu regeln und der Abschied rückte näher, das kam mir vollkommen unwirklich vor, nur manchmal nachts bin ich hochgeschreckt und spürte, das wird bald wirklich passieren.

Ich komme hier gut klar, in deinem Zimmer wohnt jetzt der Australier und übt singen für den Domchor. Die Kaninchen füttere meistens ich, und wir haben im Flur umgeräumt. Das geht schon alles, sage ich allen, die fragen: Doch!, gut!, sage ich denen, und dass es dir auch gut geht da drüben, und ausgerechnet dann kriege ich immer diese rauhe Stimme.

Das ist ein interessantes Jahr, das macht mir alles Spaß mit den Gastschülern, und ich hab dir einen Kuchen gebacken, den müssen wir ohne dich essen. An den Tag mit dem Kieferorthopäden denke ich oft, und jeden anderen Tag (von bisher 6210) habe ich mich genau so gefreut, dass es dich gibt. Lass es krachen, feier schön, ich drücke dich! Genieß die Zeit bis zum Sommer. Und wenn du wiederkommst, das wird vielleicht schön!

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Donnerstag, 4. Februar 2016
Hansefuck
nnier | 04. Februar 2016 | Topic In echt
Am meisten hasse ich meine Mitmenschen, wenn sie Sport machen. Die Sportlehrertypen, die Trillerpfeifen, die peinliche Situation in der Umkleidekabine, all das habe ich in reichlich unangenehmer Erinnerung, und gleiches gilt fürs Schwimmengehen: Da brauche ich den Chlor bloß zu riechen, schon laufen die unangenehmsten Filme ab.

Ich hätte es also wissen können, als der Arbeitgeber warb: Geht zu Hansefuck!, da wird monatlich etwas vom Gehalt abgezogen (und wir bezahlen noch was dazu!) Dann könnt ihr in dieses und jenes Fitness-Studio gehen, und aber auch ins Schwimmbad.

Vor sehr vielen Jahren dachte ich schon einmal: Gehst du halt auch mal ins Fitness-Studio, zu Eisenhower oder wie das heißt, und man kann hinterher in die Sauna. Meldete mich für ein Jahr an, zahlte monatlich, ging zweimal hin, schaute kurz in die Sauna (von außen), erschauerte innerlich und blieb für immer weg.

Schwimmen aber, oder sagen wir: Im Wasser sein, das hat mir mit den Kindern manchmal Spaß gemacht, und da ich keiner bin, der halbe Tage im Schwimmbad verbringt, sondern jemand, der nach einer Dreiviertelstunde sagt: Ist dann auch gut für heute, kam ich in den letzten Jahren gar nicht mehr auf die Idee, mal hinzugehen. Fünf Euro für einmal Reinhüpfen mag ich nicht zahlen, und dass ich "eigentlich" auch länger bleiben könnte, interessiert mich wenig, das ist exakt wie auf dem Brocken: Da wandern deine kleinen Kinder tapfer mit dir hoch, und oben willst du ein Bahnticket kaufen, um wieder herunterzufahren. Du zuckst dann bei dem Preis zusammen und sagst, ähm, wir wollen ja nur die eine Station, und die sagen dir: Wir verkaufen hier nur Netzkarten, die gelten für die ganze Harzer Schmalspurbahn, da können Sie bis nach X und nach Y mit fahren, und du sagst, bloß wenn ich jetzt nur die eine Station da wieder runter will mit meinen Kindern, und die sagen: Wie gesagt.

Wie gesagt, und da kam bei mir die anthropologische Konstante der Flatrate-Mentalität ins Spiel: Wenn du nicht fünf Euro für einmal Reinhüpfen bezahlen musst, sondern monatlich automatisch ein Betrag von deinem Gehalt abgezogen wird (und sie bezahlen was dazu!), dann kannst du da reinhüpfen und gleich wieder gehen, und das motiviert dich vielleicht, und es gibt noch diese Fitness-Studios, man sollte ja auch was für seinen Rücken tun.

Jeden Monat haben sie einen Betrag von meinem Gehalt abgezogen (und etwas dazubezahlt!), und ich sag mal, ich hätte richtig rauchen können davon. Als das Jahr fast herum war, fragte ich die Kollegen: Wie geht denn das bei Hansefuck, wo kriegt man eigentlich diese Karte her. Ganz einfach, sagten die, du gehst zu einem angeschlossenen Fitness-Studio, zahlst noch so eine Gebühr, dann geben die dir die Karte, mit der kommst du dann überall rein.

Es dauerte dann nur noch ein paar Wochen, da sagte ich eines abends: Also nicht dass ich jetzt Sport machen würde, aber ich kann ja mal die Karte abholen, dann habe ich die immerhin schon mal. Gut!, ermunterte man mich, ist doch gut!, Und dann kannst du ja vielleicht schon mal gucken, vielleicht guckst du dir das ja schon mal an.

Ich bin dann hingefahren, habe noch so eine Gebühr bezahlt (davon hätte ich richtig rauchen können), und ob ich gleich eine Einführung in das Studio haben wolle oder einen Termin dafür: Nein, nein, beeilte ich mich, ich melde mich dann, ich rufe dann an, ich wollte heute nur schon mal meine Karte holen.

Na, hat alles geklappt, wurde ich gefragt, hast du die Karte, wurde ich gefragt, und wie ist es da so.

Ich muss gleich kotzen, sagte ich, zum Kotzen ist es da, alleine schon wenn man da hinfährt, die Autos und die Menschen, und die Sporttaschen, und wie die da hingehen, und wie die da rauskommen, und wie die da sind, und wie dieser Tresen ist, und wie die Frau da ist, und wie im Hintergrund die Geräte sind, und die komischen Fahrräder, und die Schließfächer, etwas Abstoßenderes kann man sich gar nicht vorstellen, und ich würde nicht mal für Geld da hingehen, ich musste ganz schnell wieder wegfahren, ein Graus, dann konnte ich nicht weiterreden und ekelte mich vor den Menschen.

Ich muss nun bald entscheiden, ob ich den Vertrag um ein Jahr verlängere, vielleicht motiviert einen das ja, einfach mal ins Schwimmbad zu gehen, und man soll ja was für den Rücken tun, immerhin habe ich jetzt schon mal die Karte und die ziehen einem das automatisch vom Gehalt ab (und bezahlen noch etwas dazu!)

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Samstag, 2. Januar 2016
Immer diese Abschiede
nnier | 02. Januar 2016 | Topic In echt
Das Jahr hat nicht mal richtig begonnen, da steht der erste Abschied an: Unsere liebe Brasilianerin wechselt planmäßig in die nächste Familie.

Mensch, L.! Das ist doch gar nicht lange her, dass du zu uns gekommen bist und erst mal über die vielen Fahrräder am Flughafen gestaunt hast. Du hast mächtig viel Gepäck dabeigehabt, mir hat es halb den Rücken gebrochen, aber auf die niedrigen Temperaturen warst du nicht wirklich eingestellt mit all deinen Kleidchen und Ballerinas, oder?

Wir sind noch am selben Tag mit dir Essen gegangen, Flammkuchen, und du warst über die großen Portionen sichtlich erleichtert: Essen ist wichtig für dich, das sagst du selber und ist mir sehr sympathisch!

Dass du dich auf dem Fahrrad anfangs unsicher gefühlt hast, habe ich nicht gleich gemerkt, denn du hattest vorher so von Fahrrädern geschwärmt und dich auf dein Gastfahrrad gefreut. Aber da, wo du herkommst, kann man einfach nicht fahren, das habe ich erst später verstanden, und jetzt flitzt du durch die Stadt wie alle anderen. Busse und Bahnen benutzt du genau so selbstverständlich und hast dir in der kurzen Zeit ein richtiges Sozialleben hier aufgebaut mit Tanztraining, Volleyball, Theater und vielen Freunden.

"Ja, habt ihr überhaupt was von ihr, wenn sie so viel unterwegs ist", wurden wir manchmal gefragt, und ich würde sagen: Auf jeden Fall! Das hat, so empfinde ich es, einfach gut gepasst für beide Seiten, denn wir müssen arbeiten und können nicht jeden Tag eine Rundumbetreuung organisieren, und du bist keine, die den ganzen Tag zu Hause sitzt und unterhalten werden will. Wenn wir trotzdem oft zusammen gekocht, Plätzchen gebacken, die Spülmaschine ausgeräumt, Skull King gespielt oder einfach geredet haben, hat mir das immer großen Spaß gemacht, und wie einfach das inzwischen geworden ist, kann ich kaum glauben!

Schließlich bist du mit nicht mehr als ein paar Brocken Deutsch hier angekommen, und die ersten Wochen haben wir Englisch miteinander gesprochen, wobei du deine neu gelernten Wörter immer gleich eingebaut hast: "On the next Wochenende, I would like to ...", das fand ich toll und ist doch kein Vergleich mit den langen, komplizierten Sätzen, die du jetzt so selbstverständlich sprichst, Zeitformen und Konjugationen inbegriffen.

Wichtiger als das finde ich, dass man zusammen lachen kann, das haben wir oft getan und werden wir morgen früh bestimmt noch mal tun, wenn die Gäste zu deinem Abschiedsfrühstück kommen, aber davon weißt du ja noch nichts!



Du musst immer lächeln, wenn ich deinen Namen aussprechen will, dabei denke ich, ich mache es richtig: Liebe L., bleib, wie du bist, und sei immer so glücklich wie im brasilianischen Restaurant in Berlin (wo du unglaubliche Mengen Fleisch verdrückt hast) oder beim Kochen von 2,5 kg Rinderhack in einem großen Topf, genieß den Rest von deinem Austauschjahr und besuch uns, OK?

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Dienstag, 24. November 2015
Bodenkontakt
nnier | 24. November 2015 | Topic In echt


Vielleicht lasse ich das so. Gestern hatten wir Blitzeis, erfuhr ich im nachhinein, aber morgens mag ich kein Radio hören, und ich verstehe auch diese Leute nicht, die immer gleich Input brauchen: Was ist so schlimm an ein wenig Stille, man muss doch erst mal wieder mit seiner Geworfenheit klarkommen, dann hört man dem Wasserkocher zu, schlürft seinen Kaffee, räuspert sich, knackt mit den Zehengelenken, murmelt was vor sich hin ("Schoiße, alles") und lauscht dem Heizkörper, all das ist doch mehr als genug, und wozu soll man sich erzählen lassen, dass draußen wieder Verkehr ist oder Wetter. Ich bin mir sogar relativ sicher, dass ich es auch bei laufendem Radio nicht mitbekommen hätte, denn ich riegele von innen hermetisch ab wie gegen den Bohrer beim Zahnarzt, vermutlich haben sie den ganzen Morgen Obacht! gerufen und Fahrt vorsichtig! und der schnellste Verkehrsservice für den ganzen Norden.

Dass man über die Straße schuppert und erst gar nicht akzeptieren will, was gerade passiert, ist das eine, und dass zwei hilfsbereite Frauen einem aufhelfen wollen, einen Moment bitte, ist echt nett von Ihnen, langsam, ich brauch noch ne Minute, haben Sie gewusst, dass das so glatt ist, danke, ich muss noch kurz klarkommen, ich bedanke mich bei Ihnen, nein, wirklich, jetzt geht es, ich bringe dann mal mein Fahrrad nach Hause, vielen Dank, heute wohl besser mit dem Bus, einen schönen Tag Ihnen noch.

Aber dass da eigentlich eine Menge Autos langfahren, und dass die überhaupt nichts machen können, wenn dir das Vorderrad wegrutscht und du über die Straße schlidderst, simple Physik und eine Sache des Zufalls, das erschüttert mehr als die Knochen, und irgendwie passt es in dieses Jahr.

Zerlöcherte Jeans kommen alle paar Jahre wieder in Mode, vielleicht lasse ich das so.

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Sonntag, 15. November 2015
Slice o' "life"
nnier | 15. November 2015 | Topic In echt
OK. The good news: Man kann sich auch im fortgeschrittenen Alter umgewöhnen. Es wohnt nun jemand anderes in ihrem Zimmer, lebt und frühstückt und kocht und spielt mit uns, und das alles ist so schnell gegangen, dass zum Nachdenken oder Traurigsein gar keine Zeit blieb.

Aber dazu gibt es auch keinen Grund: Dem Kind geht es gut da drüben, das spürt man durch alle Nachrichten. Nicht zuviel Kontakt, so dabei meine Devise, sonst fühlt es sich ja gar nicht an wie Wegsein: Ich glaube tatsächlich, dass man durch ständigen Echtzeitkontakt jemanden der wichtigen und lohnenden Erfahrung berauben kann, etwas ganz alleine zu bewältigen. Und gerade das ist es, was Austauschschüler hinterher oft als wertvoll beschreiben: Weg sein, auf sich gestellt sein, dabei schöne wie schwierige Momente erleben, ohne diese immer gleich mit Freunden oder Eltern rückzukoppeln.

Oder möchte man etwa nach einem Jahr zurückkommen und nicht gefragt werden: Wie war es, du musst uns unbedingt alles erzählen? Weil ohnehin schon alle alles wissen? Ich bin so gespannt, wie es dir ergeht, ich bin neugierig und muss viel an dich denken. Und ich will dich in Ruhe lassen. Wenn du mich brauchst, bin ich da.

So viel zur Theorie, und am letzten Wochenende haben wir Skype installiert und mal richtig gequatscht. Das liebe Gesicht, die vertraute Stimme, alles ist gut da drüben und der Papa musste gar nicht weinen.

Unser Gast macht es vollkommen anders, da wird täglich Brasilianischportugiesisch nach Hause telefoniert, und wer bin ich, mich einzumischen: Das täte ich nur dann, wenn es ein Problem wäre. Aber - keine Spur von Integrationsverweigerung, da ist Tanzen und Volleyball und Theater, da sind deutsche Freundinnen und andere Austauschschüler, da ist Essen in der Schulmensa und sind gegenseitige Übernachtungen, und da ist ein sehr schönes Zusammenleben mit den Gasteltern.

Mir hatte im voraus Leid getan, dass keine Gastgeschwister mehr im Hause sind, und als abenteuerlustiger Teenager mit zwei Erwachsenen zusammenzuleben, schien mir eine eher dröge Vorstellung. Jedoch! Es ist ein äußerst angenehmes Miteinander. Weder empfinde ich mich als bloßen B&B-Anbieter (was völlig in Ordnung wäre), noch werde ich mit zu hohen Erwartungen an Entertainment und Rundumbetreuung konfrontiert. Mal reden wir, mal spielen wir, mal kochen wir. Mal reicht ein kurzes "Alles OK?", mal verzieht sie sich in ihr Zimmer, mal ich auf mein Sofa: Mein Tag war lang, ich muss mich ausruhen, wir sehen uns später. Und ganz offensichtlich empfinde nicht nur ich das so, denn ich bekam dieser Tage einen ganz lieben Brief.



Anfang Januar steht der erste Wechsel an, dann zieht sie in die nächste Familie und wir holen einen australischen Neuankömmling vom Flughafen. Der kennt sich dann schon aus und weiß längst alles - denn er ist seit Wochen in Kontakt mit der ehemaligen und der aktuellen Bewohnerin seines zukünftigen Zimmers.

--
So weit bin ich mit dem Text gekommen, dann kamen die Meldungen aus Paris.

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Sonntag, 27. September 2015
This is
nnier | 27. September 2015 | Topic In echt
Im Alugeländer an der Außentreppe ist seitlich ein kleines Bohrloch, und wenn ich zum Rauchen vor die Tür gegangen bin, habe ich die ausgedrückte Kippe oft hineingesteckt. Der hohle Handlauf hat einen ordentlichen Querschnitt und führt von da aus ein paar Meter abwärts, so dass man es innen leise hinabrutschen hörte. Oft musste ich mir mit leisem Schauder den Moment vorstellen, wenn ich das unverwüstliche Geländer eines Tages demontiere, denn es ist rostfrei und praktisch, aber überhaupt nicht schön: Die Endkappe abnehmen, den Handlauf umstülpen und mit fasziniertem Grauen eine Mülltonnenladung gelber Stummel herausklopfen.

Muss ich dran denken, weil das mit dem Rauchen jetzt schon eine Weile her ist. An Spätsommertagen zum Kaffee würde es gut passen, und wenn man abends mal irgendwo landet, wo es Bier und Musik gibt, kommt von ferne leises Verlangen: Wie gut, dass dieses Schwitzen da ist, der latente Kopfschmerz, das subliminale Kratzen im Hals, da lächelt man und sagt, nee, raucht ihr mann!, ihr habts gut!, genießt es!, ich komm schon klar.



Befindlichkeiten - Shmindlichkeiten. Es gibt ein Lied, das mich zu Tode deprimiert, das hat die Coverband zum Bier gespielt: Man will heile durch den Alltag kommen, das gelingt mal besser und mal schlechter, und seit mehreren Jahren haut mir dieses Lied dazwischen. Ich wusste nie, wer mich da so quält, habe nun die Suchmaschine befragt und gelernt, es ist dieser harmlose Song, der mir jede Lebensenergie raubt. Da rühren schon die ersten Gitarrentöne an den falschen Rezeptoren, die absteigenden Melodielinien zerren mit aller Kraft, die freudlose Stimme kickt einem in die Kniekehle: Das könnte man noch irgendwie wegstecken, folgte nicht der schreckliche, hohle, zwiestimmig gesungene Refrain. Schweißtreibende, frühkindliche Alpträume, das ganze Klanggebilde eine Zwinge, die sich enger und enger um das verzweifelnde Herz schraubt - innerlich gebrochen krieche ich an solchen Tagen direkt in den Keller.

Apropos Herz, früher habe ich noch diese "Bücher" gelesen, jetzt habe ich ein Smartfon und spiele Hearts. Es ist ein Kartenspiel, das schon bei Windows eingebaut ist. Jahrelang sah ich im Nachbargebäude eine Angestellte tagein, tagaus in ihrem Büro spielen und dachte: Sicherlich besser, als seinem Chef den Bürolocher in den Schlund zu rammen, aber warum nicht Solitaire oder Minesweeper?



Neugierig probierte ich es eines Tages doch aus: Ein stichbasiertes Spiel zu viert, bei dem man vor jeder Runde ein paar Karten mit dem Nachbarn tauscht, dabei schlechte loswerden möchte und seinerseits spekulieren muss, welche man wohl zugeschoben bekommt.

Das war vor ein paar Jahren, ich spielte gegen die vom Computer simulierten Gegner und durchschaute deren Spielweise irgendwann genug, um die meisten Spiele zu gewinnen. Also ließ ich es wieder bleiben.

Bis ich herausfand, dass man mit dem Telefon gegen echte Menschen spielen kann. Seither ist mein Leben ein anderes. Eingereiht in die Armee hohlwangiger Zombies wische ich auf dem Ding herum, muss "erst noch schnell" ein Spiel zu Ende bringen, steige im Ranking langsam auf und schnell wieder ab, warte ungeduldig auf langsame Mitspieler, beteilige mich am fröhlichen Spielgeplauder, werde alt, verschroben, nehme zu.



Trotzdem hat mich diese Statistik erschreckt - und irgendwie an das Zigarettengeländer erinnert: Ich habe zehntausend mal Karten bekommen, angesehen, weitergegeben und die Runde gespielt? Rechne das mal um in Blumenpflücken, Bergsteigen, lieb zur Gattin sein: Da geschieht es dir glatt recht, dass du rotäugig auf dem Bett liegst mit deinen schwitzigen Fingern, im Hals ein Kratzen und im Ohr den schrecklichen Song, where you gonna go, where you gonna sleep tonight?

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Sonntag, 20. September 2015
Ear me?
nnier | 20. September 2015 | Topic In echt

(Ikea, ca. 7.- EUR)

Das Jahr holpert vor sich hin, und kaum drehe ich mich um und schaue auf die Uhr, da is scho Herbst: Nicht mal mehr zum Sonntagsblogger reicht es! Trotzdem von einem Ausflug an den liebsten Ort geträumt: Klappt nicht mehr, und mit etwas Pech wird aus dem schlappen Sonntagsgefühl die erste fette Erkältung.

Nur dass Sie bescheid wissen, man wirft mir nämlich immer vor, an meiner Stimmung zu merken, dass ich krank würde: Ich sei dann überempfindlich und würde "immer gleich rummeckern". Haha! Die Wahrheit ist, ausgerechnet wenn ich krank werde, fangen die an, mich den ganzen Tag zu nerven: Die Ketchupflasche muss natürlich in den Kühlschrank gelegt werden, damit sie besser ausläuft. Oder dieser komplett unintelligent hingestellte Blumentopf am Fuße der Außentreppe: Zum fünften Mal trete ich mit meinen Gartencrocs auf den Unterteller, so dass ein kalter Schmutzwasserschwall meinen Socken (und immer den rechten!) durchnässt. Wenn ich dann freundlich auf die Problematik hinweise ("Schmeiß ich weg, das Scheißding"), werden die noch süffisant: "Schieb doch ein Stück zur Seite" - die reine Provokation.

Ist ja nicht so, dass man nicht engelsgeduldig mit durch die Stadt "gebummelt" wäre, in diese furchtbaren Läden voller Sachen, Ramsch und Zeug, und sich wohlmeinend ein Teil Nippes ("Oh Gott!") nach dem anderen ("Bloß nicht!") hätte zeigen lassen. Und als ich vorhin mein Frühstück ans Bett bekommen habe, bin ich noch auf die zudringlichsten Fragen ("Denkst du, du schaffst einen kleinen Spaziergang?") sensibel eingegangen ("Also ich mache heute garantiert nichts").

Draußen viel zu hell, überall Geräusche, und nicht einer von fünf Kaffees hat geschmeckt - das kann einen doch krank machen, oder nicht?

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Sonntag, 30. August 2015
Inbound
nnier | 30. August 2015 | Topic In echt
- Welcome to ze Germany, did you had a good flight? Somsing I must tell you, we isn't supposed to speak many English wif you, as you should learn ze German here. So we is only speaking English wif you in ze start some weeks and den svitch to Tcherman, yavoll!?

- In Ordnung. Wollen wir den Zeitraum nicht präziser definieren?

- Good, good. You may want to make yourselve fresh after your long travel, and I will lay together some socks in the meantime. You can, come down whenever you wishes.


[1 hour later, Beatles-Music coming out of ze what's the name of that room where you just sit or do stuff or lay things together, or don't such a room exists in your country]

- Oh, sorry, there you is already, I will make ze music out.

- No, please leave it on, I really love the Beatles. And I went to a Paul McCartney concert a few months ago and that was the greatest thing ever, unbelievable, just the best thing you can do, I still can't believe I really saw him and was in the same place and breathed the same air.

- [Tiefes Luftholen]

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Mittwoch, 19. August 2015
KL 603
nnier | 19. August 2015 | Topic In echt




Auf dem Schild steht, dass Personen mit Herzschrittmacher sich melden sollen. Fast wäre ich hingegangen, aber ich habe gesehen, wie du dich freust, das hat es mir leichter gemacht.



Wahrscheinlich ist schon wieder Land unter dir, jetzt komm gut an, du Große, du Tolle.

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