Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Im Kompetenz
nnier | 18. Mai 2009 | Topic In echt
Aus - gottlob! - harmlosem Anlass, wie sich am Ende herausstellte, suchte ich kürzlich in jugendlicher Begleitung die Notaufnahme eines städtischen Krankenhauses auf und staunte: Alles ist so supermodern und neu! "Einmal ganz außenrum ums Gelände und dann hier lang und dann da lang", hatte die Informationsdame beim Einlass des zunächst aufgesuchten, aber das ist eigentlich zu langweilig, jedenfalls wies sie darauf hin: "Da ist ja alles neu, da sind noch keine Schilder, aber 'Haupteingang' steht drüber!"



Nun, neu war das alles tatsächlich, und in der behäbig rotierenden Haupteingangsdrehtür wies ein Plakat darauf hin, dass das Klinikum "im Jahr 2004 Wasser gespart" habe, nämlich "20 Millionen Liter" - was mich etwas überraschte, denn sogleich erblickte man neben jeder erdenklichen Sitzgelegenheit stapelweise durchsichtige Plastikbecher, gebrauchte und ungebrauchte fröhlich durchmischt, sowie Flaschen einer nicht ganz billigen Mineralwassersorte, die dort offensichtlich zum freien Gebrauch herumstanden.



Man kam aber nicht dazu, sich lange zu wundern, denn in so einem modernen und jugendlichen Krankenhaus, da gibt's nicht so etwas wie eine Notaufnahme, nein, die haben sich mit den Leuten von der PR-Agentur in Workshops zusammengesetzt, deshalb heißt das jetzt "Kompetenz-Zentrum Notfallbehandlung". Zum Glück beherrsche ich diese Sprache! Stellen Sie sich mal vor, Sie wären ein älterer Mensch, der zur Notaufnahme will - tsss!



Wer nun denkt, dass man nach der Anmeldung in einem Wartezimmer sitzt, in dem man langsam zermürbt wird, bis man irgendwann aus schierer Verzweiflung eine zerlesene Apotheken Umschau oder eine Freundin von 2004 von vorne bis hinten durchliest, der war noch nie in so einem modernen Krankenhaus. Dort gibt es nämlich keine Zeitschriften.



Zermürbt, und zwar weitaus effektiver als mit konventionellen Mitteln, wird man dort von einem Fernseher, in dem Pro7 läuft, und vom parallel aus Deckenlautsprechern tönenden Radiosender NDR 2, welcher einem ungewollte Begegnungen mit Tina Turner, U2, Nena, dem Taxi nach Paris und mit dieser einen ekligen, unerträglich knödeligen Stimme, aber Xavier Naidoo ist es nicht, beschert.



Die Musik und das dümmlich-heitere Moderatorengeschwätz sind überdies von dem enervierenden hohen Pfeifton aus dem Fernsehgerät unterlegt, den viele Erwachsene nicht hören, da die 15625 Hz Zeilenfrequenz ihr Hörvermögen übersteigen, der aber Kinder wie mich erheblich belästigt.



Fast wie bei McDonald's also fühlt man sich und ist froh, kein Notfallpatient zu sein - stellen Sie sich mal vor, Sie hätten Kopfschmerzen oder so etwas - bis man dann nach einigen Stunden aus der Wartezone ins eigentliche "Kompetenz-Zentrum Notfallbehandlung" gerufen wird. Diese himmlische Ruhe plötzlich! Man möchte sich direkt in eines der Betten legen, die dort bereitstehen, lediglich die Plastikfolie mit der Aufschrift "REIN" hält einen davon ab.



Und dann wieder dieser Wahnsinn, die existenzielle Not zerschundener Menschen, man hört jemanden von "Fingerkuppenamputation" sprechen, der Hubschrauber landet zweimal, das Schäkern der Rettungsdienstler mit den Schwestern, die Ärztinnen gehen zwischendrin eine rauchen, man schnappt Gesprächsfetzen auf, die man lieber nicht gehört hätte, es ist wie bei anderen Jobs auch, man witzelt herum, statt des Paketboten kommt hier eben der Rettungsdienst vorbei, und als Begleiter eines eigentlich gar nicht so schlimmen Notfalls steht man stundenlang dazwischen und muss ewig warten und ist doch vor allem froh, dass man nur warten muss und dann einfach so nach Hause gehen kann.

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jean stubenzweig, Dienstag, 19. Mai 2009, 13:24
Da bleibt mir doch glatt die Ironie weg.

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nnier, Dienstag, 19. Mai 2009, 14:06
Manchen der Besucher schien ebenso unironisch zumute zu sein. Ich hingegen saß in der Wartezone direkt unter dem Bildschirm plaziert, den ich gar nicht sofort bemerkt hatte, und wunderte mich mehr und mehr über die aufdringlich-indiskreten Blicke der anderen Wartenden, hatte ich doch nicht mal einen blutenden Kopfverband o.ä. vorzuweisen, bis ich dem schlimmen Pfeifton auf den Grund ging und den gelbflackernden Bildschirm (es liefen gerade die Simpsons) gerade noch rechtzeitig entdeckte, bevor ich demonstrativ zurückstarrte.

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vert, Sonntag, 24. Mai 2009, 03:14
wie froh bin ich, dass in meinem zivi-krankenhaus noch oldschool gelitten wurde. das klingt auch für die andere seite ziemlich unerträglich.

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nnier, Sonntag, 24. Mai 2009, 10:23
Andere Seite?

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vert, Montag, 25. Mai 2009, 18:47
ärztInnenschaft, pflegerInnen, usw.
die gesunde seite eben.

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nnier, Montag, 25. Mai 2009, 19:33
Ach, 'gwessoné ... Radio und TV waren ja dort, wo höchstens mal eine Schwester wortlos hindurchhuscht und die flehenden blicke der Wartenden geflissentlich ignoriert. Und im Kompetenz-Zentrum selbst die Leute, die wirkten schon sehr kompetent und nicht zynischer oder abgestumpfter als anderswo. Man will ja als Patient auch niemanden haben, der hysterisch wird und rumschreit: "Oh Gott! Oh Gott! Das ist ja furchtbar! Ich kann gar nicht hinschauen!"

Durch die Warterei im Flur und in wechselnden Behandlungsräumen (man hatte Hochbetrieb und wir wurden von hier nach dort umgetopft) bekam ich mehr mit als üblich, und indiskrete Menschen hätten noch wesentlich mehr mitbekommen. Mir wurde mal wieder klar, dass tagtäglich solche Dramen stattfinden, und wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen, mancher fatalistisch und ruhig, so wie der arme Kerl, der resigniert lächelte, als man in seiner Armbeuge keinen Zugang mehr für das Schmerzmittel finden konnte, zu verhärtet die Venen, und der routiniert um etwas Valium bat, wenn denn doch schon wieder eine Magenspiegelung erforderlich sei, oder hysterisch und selbstbezogen wie die Angehörige eines Unfallopfers, die ihren apathisch daliegenden Mann noch mit Vorwürfen überhäufte und erst mal allen per Handy bescheid sagen musste. Die Rettungsdienstler schoben eine attraktive Blonde durch den Gang, auf dem Rückweg grinsten sie und einer meinte, gebt's doch zu, ihr wärt gerne an meiner Stelle gewesen, als ich ihr dies und das ...

Sie werden diese Krankenhausgeschichten kennen, es gibt da echte Ärsche, die geschockten und wimmernden Menschen schlimme Dinge sagen, so wie ein Bekannter von mir mal nach einem Fehltritt beim Volleyball zu hören bekam: "Na, das haben Sie toll gemacht, jetzt sind Sie Invalide!" oder Lästereien über das "fette Schwein", das bei der Operation doch nicht ganz bewusstlos war und alles mithörte. So war es nicht. Aber insgesamt sehr verwirrend.

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