Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Verpasste Gelegenheiten
nnier | 23. Juni 2009 | Topic Brainphuq
There are places I'll remember
All my life though some have changed
(The Beatles)
"Rasieren Sie sich trocken oder nass?", sprach mich eine adrette Frau reifen Alters unvermittelt an.

"Bittewas?", war meine Antwort, "woher rührt die Frage?", und ich überlegte kurz, ob es damit zusammenhinge, und wenn, ob ich deswegen auch gleich aller Welt, so adrett sie auch auftreten mag, auskunftspflichtig sei, doch man sprach schon ganz adrett weiter: "Weil, wenn Sie sich trocken rasieren, Sie die Chance haben, an einer Studie teilzunehmen. Sie können damit einfach und schnell Geld verdienen."

Ich sah mich um, auf dem Vorplatz vor dem großen Haus, das ich (Zi. 1055) heute auch aufsuchen musste, und stellte fest, dass man hier tatsächlich gute Chancen hat, auf mangelhaft rasierte Menschen zu treffen, die zudem, so vermute ich, einem "schnellen Euro" nicht alle grundsätzlich abgeneigt sind. Und im nachhinein bedaure ich meine allzu vorschnelle, professionell freundlich vorgetragene negative Antwort, denn schon als die Dame auf die Ansammlung rauchender und herumstehender Menschen zuging, überlegte ich, dass man so etwas doch auch mal mitgemacht haben sollte. Beim nächsten Mal also, sofern es nicht um Arzneimitteltests geht, werde ich weniger reflexhaft reagieren und eine voreilig ausgesprochene Entscheidung nötigenfalls revidieren.

Sonst geht es mir immer wieder wie damals, in der Hamburger Farm ("Ein Hamburger aus der Hamburger Farm / Der schmeckt mir so famos / Ja, so ein Leckerbissen / Da wird reingebissen / Denn der macht mich stark und groß" - der Freddy Farmburger Song), dem ersten Schnellrestaurant US-amerikanischer Prägung, das in meiner Heimatstadt eröffnete und sich, so meine ich, im Besitz der Schnellfischrestaurantkette (oder Fischschnellrestaurant?) Nordsee befand.

Mein beleibtester Mitschüler feierte dort seinen Kindergeburtstag, was mir damals vollkommen seltsam erschien. Am Geburtstag, da gab's doch zu Hause Kakao und Kuchen, Topfschlagen und Eierlaufen, und man lernte die Zimmer und die Eltern seiner Freunde kennen, und man rannte dann irgendwann wild draußen herum und spielte Silberpfeil gegen die Zylonen!?

Manche freuten sich dennoch auf den Besuch in dieser Frühversion einer Burgerbraterei, man versammelte sich dann mit bunten Papphüten in einer kleinen, bunten Hütte und wurde dort mit Limonade und Fastfood vollgestopft.

"Ich mag aber keine Hamburger", behauptete ich, denn ich hatte gelernt, dass diese ungesund seien und überhaupt ganz ekelhaft schmeckten. Und widerstand im Lauf der nächsten Stunden jedweder Animation, es doch wenigstens zu probieren, sah den anderen beim Vertilgen unglaublicher Mengen zu und kaute auf meinen trockenen Pommes Frites herum. Zum Abschied, nach irgendwelchen animierten Spielen, sollte es erneut zu einer Bestellung kommen, ich bemerkte den nervösen Blick des beleibten Vaters in seine Brieftasche, und diesmal ließ ich mich von der Animateurin widerstrebend überreden, wenigstens einen kleinen Hamburger in einer Verpackung aus Pappe mitzunehmen.

Zu Hause angekommen stellte ich das Ding in den Backofen. Es roch gut. Ich biss in das knusprige Brötchen. Es schmeckte gut. Und noch heute muss ich an die vielen verpassten Hamburger denken, die ich nur aus Sturheit an jenem Tag nicht gegessen habe, verdammt noch mal.

Oder nehmen wir das Überraschungsei - genauso schlimm! Wir bekamen, wieder auf einem Kindergeburtstag, jeder eines. Und da ich so begierig auf den Inhalt war, legte ich die beiden Schokoladenhälften achtlos an den Rand meines Tellers, während ich das alberne Plastikspielzeug umständlich zusammenbaute. "Kannst du haben", sagte ich zu einem Jungen, der neben mir saß und die gute Kinderschokolade auch gleich aufaß. Und noch während er kaute, wurde mir schlagartig klar, dass ich einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Aber ich wagte nicht, mein Angebot zu widerrufen.

Nichts als verpasste Gelegenheiten, das ganze Leben lang. So oft, wie ich dieses leckere Überraschungsei schon bereut habe, frage ich mich, ob ich diese Lücke jemals werde füllen können. Ich fürchte, selbst mit einem ganzen Zimmer voller Überraschungseier (später, wenn ich mal Millionär bin) wird mir das nicht mehr gelingen.

Und bis weit ins Erwachsenenalter, ja, bis in die jüngste Vergangenheit spannt sich der Bogen. Sie alle kennen ja sicherlich den Einkaufswagenchip, jenes "pfiffige Produkt", für das ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler einst auf offiziellem Ministeriumspapier warb, damals, als die Einkaufswagen alle umgerüstet wurden und man sie fortan nur noch gegen 1.- DM Münzenpfand von der Kette lassen konnte, und mich überraschte doch sehr die Tatsache, dass man einen Plastikchip von der Größe eines Markstücks für deutlich mehr als 1.- DM verkaufen konnte, bis der Markt gesättigt war und man dazu überging, sie als Werbegeschenke zu verteilen.

Vor einigen Jahren nun bekam ich von meiner Liebsten einen Einkaufswagenchip geschenkt, von dem andere Menschen träumen. Er war aus Metall, matt gebürstet, mit einem diskreten Werbeaufdruck vom Baumarkt versehen und hatte am äußeren Rand Zacken nach Art eines Kreissägeblattes. Wie gerne hatte ich diesen Chip! Wie angenehm war das haptische Erlebnis! Und gesund war er bestimmt auch, da gibt es doch diese Akupressurpunkte.

Ich war im Baumarkt. Der Chip steckte im Wagen. Ich verlud die langen Bodendielen schwitzend auf den Dachgepäckträger. Das letzte Paket in der Hand, wurde ich von einem älteren Herrn angesprochen, ob er den Wagen haben könne. Er könne mir ja seinen Chip geben, dann müsse er nicht extra so weit laufen, um einen Wagen zu holen, und ich müsse meinen nicht extra so weit zurückbringen. Die Situation war verzwickt. Der Mann war freundlich und ein Türke. Mir fiel keine Notlüge ein, und ihm zu erklären, dass das aber mein Lieblingseinkaufswagenchip sei, stellte ich mir kompliziert vor, irgendwo im Hinterkopf befürchtete ich, man könne mir dies als dumme Ausrede auslegen, denn tatsächlich hätte ich nur etwas gegen Ausländer, und die Zeit lief.

"Nehmen Sie ihn", sagte ich unglücklich, und es zerriss mir das Herz, als ich einen abgenutzten, gelben Plastikchip von EDEKA entgegennahm, ich wäre am liebsten hinterhergelaufen und habe dies aus reiner Feigheit nicht getan. Aber was wäre schon die kleine Blamage, das von mir befürchtete (und im Falle des Eintretens leicht zu behebende) Missverständnis gegen die langfristigen Folgen, die ich seelisch davongetragen habe? Das ist jetzt gut zwei Jahre her, und wenn ich seitdem nur jeden zweiten Werktag einkaufen war, dann heißt das trotzdem, dass ich inzwischen etwa vier- bis fünfhundertmal an meinen schönen Kreisssägenchip gedacht und einen schmerzliches Verlustgefühl empfunden habe.
Though I know I'll never lose affection
For people and things that went before
I know I'll often stop and think about them
In my life I'll love you more

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monnemer, Dienstag, 23. Juni 2009, 18:36
Schlecht verheilte Wunden reißen wieder auf.
Ich verlor "Kreisi" auf einem Supermarktparkplatz irgendwo in Brandenburg an einen offensichtlich geistig behinderten Mann.
Er bot sich an, den Wagen zurückzustellen und als er dann das Sägeblatt staunend in den Händen hielt....

Ich hatte nicht den Hauch einer Chance.

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nnier, Dienstag, 23. Juni 2009, 20:08
Kein Witz - Sie hatten auch so eins!? Dann ist da draußen tatsächlich jemand, der mich versteht. Stehen wir's gemeinsam durch. (Jedes Mal, wenn ich bei Jippie-ja-ja bin, frage ich zwanghaft nach so einem Ding. Und kriege keins.

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monnemer, Dienstag, 23. Juni 2009, 20:38
Nein, kein Witz. Ich wollte noch gegen harte Währung tauschen, aber ein Blick, und ich wusste wer von uns beiden nur ein Ruder im Wasser hat.

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nnier, Dienstag, 23. Juni 2009, 21:35
Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand. Gerade habe ich die Zentrale angeschrieben. Vielleicht finden die noch so ein Ding, wenn sie kurz die ganzen Gabelstapler zur Seite fahren oder einmal die Zementsäcke umschichten, es könnte ja so ein Chip dazwischengerutscht sein. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

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venice_wolf, Mittwoch, 24. Juni 2009, 12:15
Das gab's bei uns nur vereinzelt, denn Supermärkte hatten die erstaunliche Idee einmal 1, einmal 2 Euro Münzen dafür zu verlangen...
woher diese Strategie stammt, die mich jedesmal zur Weisglut bringt wenn ich die falsche Münze in der Hand habe und halbe Km Parkplatz auf und ab laufen muss um die richtige zu finden, wenn man es gerade eilig hat, weiss ich nicht.
Als ob es verschieden wäre ob man jetzt ein oder zwei euro als Pfand gibt, die man danach eh wieder herausholt.
Am liebsten würde ich, da ich für den Wagen ja bezahlt habe (wie gesagt, 1 oder 2 Euro) denselben nach Hause bringen, im Garten ist Gebrauch, die Blumentöpfe herumtragen oder dal Laub entsorgen.

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nnier, Mittwoch, 24. Juni 2009, 14:33
Umgekehrt gab's das hier: Wagen, die sowohl 50 Cent als auch 1.- EUR akzeptieren, und entsprechenden Betrug beim direkten Wagentausch. Halunken, alle. Spitzbuben.

(Ich habe heute einen vollen Tag, deshalb nur zwischendurch ein kurzer, dankender Gruß an mark793 und Zuträger!)

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nnier, Mittwoch, 24. Juni 2009, 20:27
Betreff: KD: nnier-kreissägeblattförmiger Einkaufswagenchip

Guten Tag Herr nnier,

vielen Dank für Ihre Anfrage.
Leider können wir Ihnen keinen Chip mehr anbieten, es sind auch keine
Restbestände verfügbar.

Freundliche Grüsse aus B******m
P**** S******
Ich muss wohl oder übel einen Posten in meinem kargen Budget reservieren und eine Neuerwerbung auf dem grauen Markt planen. Mit dem leicht verdienten Rasierstudiengeld hätte ich die Anschaffung natürlich sehr gut finanzieren können. Hm.

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vert, Donnerstag, 25. Juni 2009, 00:44
ich habe mal jemandem eine mark in die hand gedrückt und er hat mir ohne mit der wimper zu zucken seinen wagen mit dem gelben abgenutzten edeka-chip....
halunke, auch der!

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damenwahl, Mittwoch, 24. Juni 2009, 20:03
Standardgröße hier: 1 Dinar Stücke. So ein "truc" Kreisi habe ich allerdings noch nicht gesichtet. Nur, um auch was zu sagen....

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nnier, Mittwoch, 24. Juni 2009, 23:35
Handgesägt aus einem 1-Dinar-Stück, evtl.?

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monnemer, Donnerstag, 25. Juni 2009, 10:25
Frau damenwahl, zum Verhältnis Dinar - truc kann ich mit einem Spruch meiner Großmutter ein bißchen Lokalkolorit beitragen: "Ään Krabb werd nie ään Dischdlfink" (ein Rabe wird nie ein Distelfink) pflegte sie zu sagen.

Auch Wiki weiß das, "Der Rabe ist damit also ein Krächzer".

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damenwahl, Donnerstag, 25. Juni 2009, 11:39
Wenn Sie sägen wollen, bringe ich gerne Dinar Stücke mit, aber ich? handwerken? ... das kann niemand wollen!

Tatsächlich sind in den großen Supermärkten aber auch hier die Wagen angekettet. Im M*n*prix hingegen gibt es dieselben Henkelkörbchen wie in meinem Frankfurter R*we - das ist Globalisierung.

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nnier, Donnerstag, 25. Juni 2009, 11:48
Ich wollte Sie nicht an die Werkbank zitieren, allerdings: Arbeit schändet nicht, und wir früher, wir haben unsere Fünfmarkstücke noch mühsam selbst hergestellt - nein, ich wollte eher auf den erstaunlichen Erfindungsreichtum der Nordafrikaner anspielen. Auf den dortigen Märkten faszinierten mich bspw. Sandalen, die aus alten Autoreifen hergestellt waren. Haben Sie die auch schon gesehen? (Ohne den Mangel verklären zu wollen - es war wirklich erstaunlich, woraus man noch dies und das anfertigen konnte.)

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venice_wolf, Donnerstag, 25. Juni 2009, 18:49
diese Sandalen gibt's auch von manchen Designer in NYC .... von der Idee super, wenn man denkt dass man bei vorsichtigem fahren mit einem Autoreifen so 50.000-70.000 km weit kommt.
Kleingeld & Halunken: was mir da einfällt...da war mal eine (ex)jugoslawische Münze genau so gross/schwer wie ein 200 Lire Münze, nur war dessen Wert ca 10 Lire (tendenz fallend).
Der Telefonzelle und dem Getränkeautomat und den guten Alten Arcadespiele war das vollkommen egal, ich investierte also die für die Zeit (und mein Alter) wichtige Summe von 10.000 Lire in diese Iniziative (heute 5,16 Euro) und telefonierte/trank/videospielte um ganze 103,29 Euro.

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nnier, Donnerstag, 25. Juni 2009, 19:14
Oh, dieses Münzthema rasselt auch schon in meinem Hinterkopf, hier gab's so etwas Ähnliches ...

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