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There are places I'll remember"Rasieren Sie sich trocken oder nass?", sprach mich eine adrette Frau reifen Alters unvermittelt an.
All my life though some have changed
(The Beatles)
"Bittewas?", war meine Antwort, "woher rührt die Frage?", und ich überlegte kurz, ob es damit zusammenhinge, und wenn, ob ich deswegen auch gleich aller Welt, so adrett sie auch auftreten mag, auskunftspflichtig sei, doch man sprach schon ganz adrett weiter: "Weil, wenn Sie sich trocken rasieren, Sie die Chance haben, an einer Studie teilzunehmen. Sie können damit einfach und schnell Geld verdienen."
Ich sah mich um, auf dem Vorplatz vor dem großen Haus, das ich (Zi. 1055) heute auch aufsuchen musste, und stellte fest, dass man hier tatsächlich gute Chancen hat, auf mangelhaft rasierte Menschen zu treffen, die zudem, so vermute ich, einem "schnellen Euro" nicht alle grundsätzlich abgeneigt sind. Und im nachhinein bedaure ich meine allzu vorschnelle, professionell freundlich vorgetragene negative Antwort, denn schon als die Dame auf die Ansammlung rauchender und herumstehender Menschen zuging, überlegte ich, dass man so etwas doch auch mal mitgemacht haben sollte. Beim nächsten Mal also, sofern es nicht um Arzneimitteltests geht, werde ich weniger reflexhaft reagieren und eine voreilig ausgesprochene Entscheidung nötigenfalls revidieren.
Sonst geht es mir immer wieder wie damals, in der Hamburger Farm ("Ein Hamburger aus der Hamburger Farm / Der schmeckt mir so famos / Ja, so ein Leckerbissen / Da wird reingebissen / Denn der macht mich stark und groß" - der Freddy Farmburger Song), dem ersten Schnellrestaurant US-amerikanischer Prägung, das in meiner Heimatstadt eröffnete und sich, so meine ich, im Besitz der Schnellfischrestaurantkette (oder Fischschnellrestaurant?) Nordsee befand.
Mein beleibtester Mitschüler feierte dort seinen Kindergeburtstag, was mir damals vollkommen seltsam erschien. Am Geburtstag, da gab's doch zu Hause Kakao und Kuchen, Topfschlagen und Eierlaufen, und man lernte die Zimmer und die Eltern seiner Freunde kennen, und man rannte dann irgendwann wild draußen herum und spielte Silberpfeil gegen die Zylonen!?
Manche freuten sich dennoch auf den Besuch in dieser Frühversion einer Burgerbraterei, man versammelte sich dann mit bunten Papphüten in einer kleinen, bunten Hütte und wurde dort mit Limonade und Fastfood vollgestopft.
"Ich mag aber keine Hamburger", behauptete ich, denn ich hatte gelernt, dass diese ungesund seien und überhaupt ganz ekelhaft schmeckten. Und widerstand im Lauf der nächsten Stunden jedweder Animation, es doch wenigstens zu probieren, sah den anderen beim Vertilgen unglaublicher Mengen zu und kaute auf meinen trockenen Pommes Frites herum. Zum Abschied, nach irgendwelchen animierten Spielen, sollte es erneut zu einer Bestellung kommen, ich bemerkte den nervösen Blick des beleibten Vaters in seine Brieftasche, und diesmal ließ ich mich von der Animateurin widerstrebend überreden, wenigstens einen kleinen Hamburger in einer Verpackung aus Pappe mitzunehmen.
Zu Hause angekommen stellte ich das Ding in den Backofen. Es roch gut. Ich biss in das knusprige Brötchen. Es schmeckte gut. Und noch heute muss ich an die vielen verpassten Hamburger denken, die ich nur aus Sturheit an jenem Tag nicht gegessen habe, verdammt noch mal.
Oder nehmen wir das Überraschungsei - genauso schlimm! Wir bekamen, wieder auf einem Kindergeburtstag, jeder eines. Und da ich so begierig auf den Inhalt war, legte ich die beiden Schokoladenhälften achtlos an den Rand meines Tellers, während ich das alberne Plastikspielzeug umständlich zusammenbaute. "Kannst du haben", sagte ich zu einem Jungen, der neben mir saß und die gute Kinderschokolade auch gleich aufaß. Und noch während er kaute, wurde mir schlagartig klar, dass ich einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Aber ich wagte nicht, mein Angebot zu widerrufen.
Nichts als verpasste Gelegenheiten, das ganze Leben lang. So oft, wie ich dieses leckere Überraschungsei schon bereut habe, frage ich mich, ob ich diese Lücke jemals werde füllen können. Ich fürchte, selbst mit einem ganzen Zimmer voller Überraschungseier (später, wenn ich mal Millionär bin) wird mir das nicht mehr gelingen.
Und bis weit ins Erwachsenenalter, ja, bis in die jüngste Vergangenheit spannt sich der Bogen. Sie alle kennen ja sicherlich den Einkaufswagenchip, jenes "pfiffige Produkt", für das ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler einst auf offiziellem Ministeriumspapier warb, damals, als die Einkaufswagen alle umgerüstet wurden und man sie fortan nur noch gegen 1.- DM Münzenpfand von der Kette lassen konnte, und mich überraschte doch sehr die Tatsache, dass man einen Plastikchip von der Größe eines Markstücks für deutlich mehr als 1.- DM verkaufen konnte, bis der Markt gesättigt war und man dazu überging, sie als Werbegeschenke zu verteilen.
Vor einigen Jahren nun bekam ich von meiner Liebsten einen Einkaufswagenchip geschenkt, von dem andere Menschen träumen. Er war aus Metall, matt gebürstet, mit einem diskreten Werbeaufdruck vom Baumarkt versehen und hatte am äußeren Rand Zacken nach Art eines Kreissägeblattes. Wie gerne hatte ich diesen Chip! Wie angenehm war das haptische Erlebnis! Und gesund war er bestimmt auch, da gibt es doch diese Akupressurpunkte.
Ich war im Baumarkt. Der Chip steckte im Wagen. Ich verlud die langen Bodendielen schwitzend auf den Dachgepäckträger. Das letzte Paket in der Hand, wurde ich von einem älteren Herrn angesprochen, ob er den Wagen haben könne. Er könne mir ja seinen Chip geben, dann müsse er nicht extra so weit laufen, um einen Wagen zu holen, und ich müsse meinen nicht extra so weit zurückbringen. Die Situation war verzwickt. Der Mann war freundlich und ein Türke. Mir fiel keine Notlüge ein, und ihm zu erklären, dass das aber mein Lieblingseinkaufswagenchip sei, stellte ich mir kompliziert vor, irgendwo im Hinterkopf befürchtete ich, man könne mir dies als dumme Ausrede auslegen, denn tatsächlich hätte ich nur etwas gegen Ausländer, und die Zeit lief.
"Nehmen Sie ihn", sagte ich unglücklich, und es zerriss mir das Herz, als ich einen abgenutzten, gelben Plastikchip von EDEKA entgegennahm, ich wäre am liebsten hinterhergelaufen und habe dies aus reiner Feigheit nicht getan. Aber was wäre schon die kleine Blamage, das von mir befürchtete (und im Falle des Eintretens leicht zu behebende) Missverständnis gegen die langfristigen Folgen, die ich seelisch davongetragen habe? Das ist jetzt gut zwei Jahre her, und wenn ich seitdem nur jeden zweiten Werktag einkaufen war, dann heißt das trotzdem, dass ich inzwischen etwa vier- bis fünfhundertmal an meinen schönen Kreisssägenchip gedacht und einen schmerzliches Verlustgefühl empfunden habe.
Though I know I'll never lose affection
For people and things that went before
I know I'll often stop and think about them
In my life I'll love you more
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