Der Kolumnist hatte wohl pünktlich begonnen, war bereits am Vorlesen und der große Saal: Brechend voll. Hin- und hergerissen folgte Herr Durchschnitt nun dem Dargebotenen: "Sandte mir eine Leserin" und "Schickte mir ein Herr aus W.", "Fand ich im Internet" und "Berichtete ein Reisender", das könnte ebenso eine glatte Unverschämtheit sein wie die ausgedehnte Wiedergabe von falsch übersetzten Speisekarten im Jahr 2013. Charmant zu schwätzen allerdings, musste Herr Gewöhnlich einräumen, verstand der Mann auf der Bühne dann doch, und die Kunst, aus wenig viel zu machen, sowie die schiere handwerkliche Routine!, ließen ihn nicht unbeeindruckt: Kunst kommt von Können, nech.
Schlafi Schlafi, machte Herr Alltag, und Schaffi Schaffi, und wieder Schlafi, dann brachte er den Müll raus. Muss ja! Und Wäschi Wäschi. Dann wieder: Zahli Zahli. Und Schaffi Schaffi! Am liebsten aber: Schlafi Schlafi. Manchmal: Trinki Trinki. Damit Schlafi Schlafi! Damit wieder Schaffi Schaffi: Muss ja. Der kapitalistische Produktionsprozess reproduziert also durch seinen eigenen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen.
Herr Unauffällig wird trotzdem alt. Kaum drei Tage später, heute hauen wir auf die Pauke, was kost' die Welt: Geht er ins Kino! Mit seinem exzentrischen Musikgeschmack (P. Collins) setzt er sich ohnehin von der Masse ab. Einmal im Bekenntnisfieber aber bricht es aus ihm heraus: Ich war ja mal ein ganz großer Fan von Star Trek! Ja: Man sieht es mir nicht an, das weiß ich wohl, aber den bieder-schnauzbärtigen VW-Arbeiter sehen nur die Oberflächlichen unter euch. Wenn ihr wüsstet! Meinen GTI habe ich tiefergelegt, den Unterboden blau beleuchtet, beim Mittelalterrollenspiel bin ich immer der Schamane, und im Vulkanierkostüm auf der FedCon gehe ich endgültig aus mir heraus. Ihr wollt noch mehr? Here's to you: Auf der Erotikmesse "Venus" habe ich mich mal mit Gina Wild fotografieren lassen! Eat this, Motherfuckers.
Wahnsinn, Atze! Irre, Kalle! Echt krass, Manni! Was für ein einzigartiger Typ du bist! Lässt dich nicht verbiegen! Immer freakig bleiben! Born to be wild. Punx not dead. Free Willy.
Herr Steuerzahl, eben noch heftig gestikulierend, lässt die Arme hängen und starrt ins Leere. Ist nicht mehr wie früher. Ist nicht mehr dasselbe. Wäre Werder abgestiegen, dann hätte ich gesagt: Hoppla, ist doch glatt Werder abgestiegen. Und das wär's!
Na, sowas, Herr Untertan: Kein Interesse mehr? Und wenn wir Ihnen den neuen Star Trek in 3D zeigen!? Wäre das nichts? Ist das nichts? Kommen Sie: Mit den alten Figuren! Bloß in zeitgemäß!
Mit Stirnfalte sehen wir ihn da sitzen, den Herrn Koofmich, die alberne Brille auf der Nase, im Multiplex, da ist es bunt, da sind Effekte, da ist Action, da gibt es professionelle Ware: Das ist einwandfreie Unterhaltung, da kriegt man was geboten fürs Geld, das ist der athletische Fußball von heute, so einen langsamen Film kannst du heute nicht mehr machen, der hat ja eine halbe Minute, um den Ball anzunehmen! Früher, da brauchten sie einen ganzen Film fürs Sterben und gleich noch einen für die Wiederauferstehung. Heute wird beides in fünf Minuten abgehandelt, und es wird alles immer heller und heißer.
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Er hat nicht nur unser vollstes Vertrauen, er hat unser Super-Vertrauen.
(Karl-Heinz Rummenigge)
Leben heißt sterben lernen.Endlose Wochen im Griff des Gilb: Soll man aufgeben? Sich gewöhnen? Verzweifelt aufbegehren? Sich weiter schonen? Mal richtig reinhauen? Noch mehr Kamillentee trinken? Oder doch lieber Bier?
(Rocko Schamoni)
Einen Monat mag es her sein, da besuchte ich drei Herren. Es war brechend voll, viele junge Menschen waren da und wild entschlossen, sich zu amüsieren. Sie kannten die 80er sehr gut, aus diesem Film, und schrien begeistert an den richtigen Stellen: Oh-oh-oheho!
Später kam einer der Stars zu uns ins Raucherabteil. Freundlich bescheiden saß er am anderen Tisch und bewahrte Haltung, während er blond umschwirrt und umzwitschert wurde. Gegen gegen die intensiven Östrogenwolken hatte der dichte Qualm dabei keine Chance.
Das war nur so halbgut, einigten wir uns, das geht mal durch als Gag, dann muss aber vorbei sein, und hoffentlich werden die damit nicht so erfolgreich. Es ist nämlich so: Lustige Technopartyhengste gibt es genug. Ich aber will griesgrämig und verhärmt im Publikum sitzen. Tanzende und jubelnde junge Menschen stören da nur.
Ein paar Tage darauf sah ich einen jungen Mann im Supermarkt einkaufen. FRAKTUS stand auf seiner Mütze, und mir wurde klar: Die Gefahr besteht, dass wegen Menschen wie diesem jetzt nur noch Bumsmusik von denen kommt: Metafiktional und doppelironisch, aber doch Bumsmusik. Auf dem Heimweg summte ich traurig das tröstende Lied.
Ich gilbte weiter, ließ die diesjährige Strunkerlesung vorbeiziehen, es hatte einfach keinen Sinn. Hast du guten Sex gehabt?, bloß weil diese Wangenröte nicht weichen will. Latentes Schwitzen, latentes Räuspern, ich träumte mir einen U-förmigen Verlauf statt dieser ewigen Dürre.
Der umschwärmte Rocko trat wieder auf, alleine hatte ich ihn noch nie gesehen und wagte die erste abendliche Unternehmung seit damals. Er kann lustigen Quatsch machen und schön vorlesen. Ganz unerwartet gut aber gefielen mir die Musikstücke: Fast schon liedermacherhaft, zu zweit mit akustischen Gitarren, ernst und melancholisch. Das teilte ich nachher auch dem Radiomann mit, der mir beim Rausgehen das Mikrophon hinhielt. "Aha, auch mal jemand, der die Lieder gut fand", sagte er.
Hat es dir auch so gut gefallen, fragte ich anderntags die Kollegin, die ich im Publikum bemerkt hatte. Das war nur so halbgut, meinte sie, der hat lustige Sachen vorgelesen, aber das Gesinge, das war langweilig.
Geschmackssache. Für mich die Grundierung, die den albernen Quatsch der drei Herren erst kulturell wertvoll und tröstlich macht, Resonanzboden bietet, Fallhöhe schafft. Deshalb schließe ich mich des charmanten Rockos letzten Worten des Abends an: Fuck Fraktus.
Und Fuck the Gilb.
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Die Wahrheit sieht so aus. Reste von Resten, Pampe mit Klump, das findet er angeblich sogar "lecker", sagt er, die übriggebliebenen gestampften Kartoffeln erst in Butter anbraten, sagt er, bis sich so eine braune Kruste bildet, die sei das Leckerste, sagt er, und dann die Reste von dem Geschnetzelten, das er am Vortag schon mit den Resten vom Gemüse gestreckt hat, ganz heiß mit reinbraten, sagt er, und dass das an einem trüben Tag genau das Richtige sei und auch irgendwie so Erdung so bringt so, sagt er. Wir stimmen ihm dann überschwänglich zu, ja, sagen wir, sowas Deftiges manchmal, nicht wahr, ist manchmal genau richtig, sagen wir dann, und wir nicken uns bedeutungsvoll zu, wenn er nicht hinsieht, sondern noch die Pfanne auskratzt, er könne uns grad nichts anbieten, leider, hat er noch gesagt, aber wir dürften uns gerne jeder ein Glas Leitungswasser zapfen, meint er und deutet hinter sich, das sei nämlich jedem Tafelwasser mehr als ebenbürtig, und wir wissen, es ist mal wieder Zeit, wir sagen dann: Übrigens, da hat jemand abgesagt, und bevor die Karte einfach verfällt, und zu essen gibt's auch wieder, und er sagt dann: Mal sehen, ob ich es schaffe, und wir sagen: Ja, wenn's passt, dann komm mit, und er sagt dann: Könnte schwierig werden, und wir sagen: Überleg dir's halt, und am nächsten Tag steht er zwanzig Minuten vor der Zeit schon da und klingelt und sagt ganz beiläufig, dass er es kurzfristig einrichten konnte, und es geht ja gegen den Abstieg, und da müssen wir die Mannschaft schließlich unterstützen, sagt er, und wir sagen dann: Super, dass du Zeit hast, und wir nicken uns kurz zu, wenn er eilig vorangeht, und flüstern: Genau, Mannschaft unterstützen - am Buffet, he he!
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Nach einem Konzert in Hamburg bekam ich kürzlich folgende, freundliche SMS:
Hast einen guten Geschmack. Hat mir total hefallen. Euch ne gute heimfahrt.
Nach einem Konzert in Köln bekam ich kürzlich folgende, freundliche SMS:
Hach, was was das ein schönes Konzert! Ich muss die ganze Zeit noch daran denken! Bist du noch gut heim gekommen?
Tja, so war das. Aber eine Nummer kleiner kann's auch schön sein. Und die o.g. Band habe ich bereits zweimal begutachten können, einmal im Rahmen des, ich mag das Wort gar nicht hinschreiben, Musicals She Loves You, das zum Glück weniger ein Musical als vielmehr der in eine fadenscheinige Rahmenhandlung gepresste Auftritt jener Tribute-Band war, die mich durch ihre Spielfreude durchaus begeisterte, ein anderes Mal in dem verrauchten und seltsam benamsten Saufschuppen, den ich also heute wieder einmal aufsuchen werde.
Na und? Weihnachten ist auch immer das Gleiche.
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Ich fühlte mich mit meiner schweiß- und bierdurchtränkten Kutte - da ist noch ein Autogramm von Erwin Kostedde drauf -, den engen Jeans und meinen Cowboystiefeln durchaus angemessen gekleidet und fiel zwischen den anderen Besuchern auch nicht weiter auf, bis ich am Eingang der Ostkurve freundlich abgewiesen und zum danebenliegenden "VIP"-Eingang geschickt wurde, dort diese Handfesseln angelegt bekam und im Treppenhaus das Lied "Schalalala" anstimmte. Die anderen Besucher wirkten aber etwas schüchtern, so dass ich laut "WEEEERDER!" rief und zwei Frauen aufmunternd ("Die Wölfe machen wir heute platt!") auf die Schulter schlug - doch weder damit noch mit "Ihr seid Wolfsburg / asoziale Wolfsburg / ihr schlaft unter Brücken / oder in der Bahnhofsmission" (zur Melodie von It's a Heartache) konnte ich anhaltende Begeisterung entfachen. Etwas irritiert versuchte ich es mit meiner Gasdruckfanfare, die ein beeindruckendes Echo (was die Wände anbetrifft) erzeugte, doch die Menschen rückten von mir ab, die waren wirklich etwas schüchtern und hatten anscheinend noch nie ein Fußballspiel im Stadion angeschaut. Bis zum Anpfiff vertrieb ich mir deshalb die Zeit mit dem, was die da als Essen bezeichnen - versuchen Sie mal, da eine Currywurst oder gar Pommes zu kriegen! - und bemühte mich nur noch manchmal, durch bekanntes Liedgut wie "Deutscher Meister wird nur der SVW" (zur Melodie von Yellow Submarine) oder beliebte Schlachtrufe wie "Hier! Regiert! Der S! V! W!" die Stimmung ein wenig anzuheizen. Die haben's aber auch echt schwer, es ist total warm da drin und gibt nur Sitzplätze. Draußen, vor der Scheibe, sah ich dann Atze, Matze und Potze, die schon seit drei Stunden im Regen gestanden hatten und Stimmung machen wollten. Man hörte sie sogar manchmal aus der per Lautsprecher nach innen übertragenen Klangkulisse heraus, wie sie mit sich überschlagender Stimme schrien: "Hey! Hey! Werni Hupfa Iska Bema!", doch ich konnte von innen gegen die Scheibe klopfen wie wahnsinnig, sie hörten mich nicht, das war alles schallgedämmt, und sehen konnten sie mich erst recht nicht, das Glas ist ja nach außen verspiegelt.
Die Fans da draußen könnten sich übrigens ruhig etwas mehr Mühe machen, für Stimmung zu sorgen, schließlich bezahlt man einen Haufen Geld für so einen Logenplatz und kann dafür wohl etwas Atmosphäre erwarten.
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Ich war beim Fußball.
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Ehemals das Gelände der Remmer-Brauerei [...]. 1992 begann die schrittweise Sanierung, durch die bereits erste Künstler einen Ausstellungs- und Präsentationsort fanden. Nach Abschluss der Sanierung finden hier seit dem Herbst 2003 Theater-, Tanz- und Musikveranstaltungen statt.- Hast du das da eben gelesen?
- Ja, und?
- Wie, und? Ist dir da eben nichts aufgefallen?
- Nein. Was denn?
- Ich will hier über Heinz Strunk schreiben, dass der gestern ganz charmant und wohlgelaunt aufgetreten ist, nachdem ich ihn auch schon mit übler Stirnfalte erlebt habe, und dass die Passagen, die er aus seinem neuen Buch vorgelesen hat, so gut ausgewählt waren, dass ich mein verhaltenes Urteil über Die Zunge Europas eventuell noch etwas ins Positive nachjustieren werde, dass andererseits diese Textstellen eben auch eindeutig durch die Art des Vortrags dazugewonnen haben, und dass die Stühle im Saal aber wirklich gar zu eng gestellt waren, so dass man ständig "Ryanair" und "Landshut" denken musste, und dass es mich sehr traurig stimmt, wenn Herr Strunk in den Interviews zum Buch so nebenbei verkündet, er werde keine Kurzhörspiele mehr machen, und dann steht da bei Wikipedia plötzlich "schrittweise Sanierung"! Das bringt mich total ins Stolpern!
- Warum denn?
- Es gibt keine schrittweise Sanierung!
(Der Titel dieses Beitrags ist ein Zitat aus dem Buch, und ich frage mich, ob Herr Strunk die Idee wohl diesem Songtitel verdankt?)
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Es ist über 25 Jahre her, dass ich zuletzt in diesem Zirkus war.
(Wahrscheinlich war ich danach auch in keinem anderen mehr.)
Schade eigentlich! Denn das hat einfach Spaß gemacht, da, am Freitagabend in Hamburg. (Und was die Zwillingsschwestern aus Minsk Unfassbares mit ihren Händen, Füßen und ein paar Tüchern anstellen, ist in einem so geschmackvollen Zirkusprogramm doch wesentlich schöner anzusehen als im Filmchen).
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Dass man seinen schlechten Orientierungssinn hoffentlich nicht weitervererbt hat und sich doch irgendwann ein Navigationssystem leisten sollte, darüber sinniert man kurz, während man den Veranstaltungsort in weiten Kreisen umfährt, findet sein Ziel dann aber irgendwie und hat es ja auch wirklich nicht eilig.
Ludenautos, Angebersonnenbrillen, alles da, man fühlt sich plötzlich underdressed, denn auch Autoschiebertypen und Anabolikamacker (Vokuhila oder Pferdeschwanz, meistens jedoch Glatze) erscheinen in sehr gepflegter Abendkleidung und haben übrigens immer eine hochhackige, blondierte Osteuropäerin dabei.
Dann hauen die sich da im Ring, da kreischen die Frauen in kaum noch unterdrückter sexueller Erregung, dann ist einer K.O., schnell raus und nach Hause, ich bin ja doch mehr so für Sublimierung.
Die stahlseilbefestigte Kamera, die über den Zuschauerköpfen ständig den Ring umkreiste, sah aus wie Nomad, überlegt man auf der Rückfahrt, die Hamburger sind übermäßig servil gegenüber Herrn Van der Vaart, stellt man fest, sie pfeifen Umweltminister dafür umso heftiger aus, und was es mit dem seltsamen Titel des zweiten Live-Albums von Genesis auf sich hat, ist einem an diesem Abend endlich klar geworden.
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Ja, jah.
Interessiert das Thema eigentlich noch jemanden? Ich lese den ganzen Artikel schulterzuckend durch und frage mich nur eins: Wie kann man eigentlich bei dem Satz "Wenn wir alle mitgehen dürfen?" lispeln?
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