Das ist schon Jahre her und war ein Wendepunkt in meinem Leben. Dabei war es nicht annähernd das, was man sich heute auf den Rummelplätzen zumuten kann, vielmehr ein lächerliches Relikt aus vergangenen Zeiten, als man die Grenzbereiche der Physik nur auslotete, sie aber noch nicht überschritt. Man saß da vielleicht mal im gemächlich hin- und herschaukelnden Piratenschiff und wunderte sich darüber, welchen Drang die gerade noch vertilgten Waffeln und Bratwürste plötzlich speiseröhrenaufwärts entfalteten - war jedoch angesichts all der Stiernacken weiter vorne noch in der Lage, diesem zu widerstehen, ahnte man doch, welch ungute Wirkung ein sofortiges Vomitieren im Zusammenhang mit der aktuellen Position und den Effekten der Schwerkraft zeitigen würde. Man fuhr da auch mal mit der Achterbahn und gruselte sich vor den Fliehkräften der Kurven und den steilen Abfahrten. Glücklicherweise war das Tempo hier viel zu rasant, um sich auf Einzelheiten wie Nietenverbindungen zu konzentrieren oder vertieft über die Möglichkeiten der Materialermüdung an Bahn und Wagen nachzudenken. Viel mehr Gelegenheit dazu hatte man etwa im Kettenkarussell, wo man schon mal seine Flugbahn berechnete und den bevorzugten Landeplatz wählte, während die Geschwindigkeit zunahm, die Ketten in die Waagerechte zwang und man sich klarmachte, dass unter den vielen Kettengliedern ja nur eines zu sein brauchte, das heute mal einen schlechten Tag hatte. Auch im Riesenrad, das so gemächlich seine vertikalen Kreise zog, während die einzeln aufgehängten Gondeln sich langsam um sich selbst drehten, konnte man bei gutem Wetter die halbe Stadt überblicken und sich plötzlich sicher sein, dass der aufkommende Wind ein untrügliches Zeichen für den nun unmittelbar bevorstehenden Stromausfall war, denn man hatte den höchsten Punkt ja fast erreicht.
Ein kalkuliertes Risiko war es, das wusste man, und gewisse Geschichten entfalteten ihren Reiz erst dann, wenn man auf seinem Sitz saß, die zweifelhafte Festigkeit des Klappbügels zum dritten Mal überprüfte und dem mitreisenden jungen Mann einen rosafarbenen Plastikchip in die Hand gedrückt hatte, wenn dann ein zweistimmiges Hupen ertönte und man wusste, dass es kein Entrinnen mehr gab. Etwa die Geschichte von dem betrunkenen Schausteller, der die Regler des Fahrgeschäfts bis zum Anschlag hochgerissen und seinen panisch schreienden Gästen bei Höchstgeschwindigkeit Runde um Runde spendiert hatte, fast eine Stunde lang, während er sie durch die Lautsprecher verhöhnte. Oder die von den Achterbahnbauern, die plötzlich ein paar Teile übrig gehabt hatten und diese schnell beiseiteräumen mussten, bevor der Mann vom TÜV kam. Dennoch war ich begeisterter Rummelplatzbesucher, setzte mich voller Freude in den Autoscooter, schoss mit dem Luftgewehr auf bewegliche Ziele und sah fasziniert dabei zu, wie sich beim "Hau-den-Lukas" schnauzbärtige Jungmänner mit engen Jeanshosen und aufgepumptem Bizeps ("Zwerg", "Möchtegern") vom umstehenden Publikum verhöhnen ließen, während unscheinbare Mittfünfziger vom Typ Metallfacharbeiter ("Casanova", "Preisboxer") begeisterten Applaus einfuhren.
Sei es mein fortgeschrittenes Alter, sei es die zunehmende Entmenschlichung der Rummelplatzmaschinen, etwas ließ mich stets Abstand nehmen von den immer größeren, immer extremeren Apparaten, die einen fünfzig Meter hoch in den Himmel katapultieren, in denen man bewegungsunfähig festgeschnallt und dann in vollkommen hilfloser Position auf immer absurdere Weise herumgeschleudert wird. Dazu brauchte es keinerlei Geschichten, auch nicht die von den Sling-Shot-Mitreisenden, die mit den beiden Vierzehnjährigen dann doch lieber herumshakerten, als sie in ihrer Kapsel zu befestigen, diese gottverdammte Monotonie bei der Arbeit aber auch, und hoppala, und dann hieß das Geschäft eben Power-Shot oder so.
Was ich statt dessen vermisse, ist eine inzwischen wohl endgültig vergessene Attraktion, die schon in den frühen 80ern als fahrende Antiquität galt und auch nur ein einziges Mal in meiner Heimatstadt auftauchte. Es handelte sich dabei um eine große Scheibe, deren Oberfläche aus spiegelglatt poliertem Holzparkett bestand. Ich schätze den Durchmesser auf etwa acht Meter, sie befand sich waagerecht am Boden eines Zeltes und war ringsherum von irgendwelchem Polstern umlegt. Man zahlte den erschwinglichen Eintritt, suchte sich einen möglichst zentralen Platz und wartete auf das Startsignal, bei dem die Scheibe langsam zu rotieren begann. Das Ziel war, als letzter auf der Scheibe zu bleiben, deren Geschwindigkeit sich langsam steigerte, wodurch die meisten Fahrgäste auch schon bald nach außen rutschten, nicht ohne sich noch an irgendwelchen Beinen festzuhalten und weitere Personen mit von der Scheibe zu ziehen. Befand man sich in der Mitte, war man also zu einem ständigen Abwehrkampf genötigt und versuchte gleichzeitig, seine Sitznachbarn von der Scheibe zu drängen, ohne selbst ins Rutschen zu geraten.
Gesteigert wurde der Spaß durch das Personal. Der Mann am Mikrophon, ein Bayer, feuerte an, kommentierte und verhöhnte so gekonnt, dass es eine Freude war. Erst nach einigen Tagen erkannte ich, dass seine so spontan wirkenden Sprüche sich doch wiederholten ("Wo kommst denn du her?" - "Aus Hamburg!" - "Trau di aufs Teufelsrad, dann fliegst' ruckwärts bis nach Hamburg!"). Besonders schön war allerdings das Zusammenspiel zwischen dem Ansager und seinem Helfer, der in jeder Runde die Fahrchips kassierte. Dieser war ein routinierter Teufelsradler, konnte auf der drehenden Scheibe herumlaufen, ohne jemals hinzufallen und führte dabei noch allerlei Kunststückchen vor. Kam nun ein neuer und unerfahrener Kunde ins Zelt und flog nach Sekunden von der Scheibe, so sprach es aus den Lautsprechern: "Geh, des woar nix, Rudi, zoagst as eahm amoi", und als leidenserpobter Fliehkraftspezialist konnte man sich nun auf ein wunderbares Schauspiel freuen.
Der Helfer betrat die schnell rotierende Scheibe nicht, wie es eigentlich die einzige Möglichkeit für Normalsterbliche war, gegen die Rotationsrichtung, sondern stieg mit dieser auf, tat dabei auch noch einen schwer beschreiblichen Hüpfer und lief so elegant zur Mitte, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Was folgen musste, war klar: Der unbedarfte Neuling versuchte es ihm nachzutun, bekam die Beine weggerissen und landete auf derart slapstickhafte Weise in der Bande, dass es die reine Freude war. Glucksend und mit vom Lachen schmerzender Bauchmuskulatur kam man irgendwann heraus, und wenn man Glück hatte, war noch etwas Geld für ein paar Lose übrig.
Jahrelang hatte ich von der sagenhaften Freien Auswahl geträumt. Und als es eines Tages wirklich so weit war, dass ich die magischen Worte auf meinem gelben Loszettel stehen hatte, wurden mir tatsächlich die Knie weich. Ich konnte mein Glück nicht fassen und wollte den Moment so weit wie möglich auskosten. Der routinierte Blick des Losverkäufers ("Was willstn haben?") verstörte mich ein wenig, hatte ich doch mit einem sensationellen Jubel und einer Verkündung als Hauptgewinner gerechnet, der auf die Bühne gebeten wird und sich eine halbe Stunde lang nicht zwischen all den Kostbarkeiten zu entscheiden weiß. Einen großen Stoffwal habe er da anzubieten, drängelte der Mann, ich aber sagte: "Ich nehme die Anlage!" und deutete auf das wirklich brauchbar aussehende Ensemble aus Verstärker und Cassettendeck. Nun begann der Mann zu lachen, und ich verstand die Welt nicht mehr. Ein Transistorradio könne er mir geben, kicherte er, griff ins Regal und gab mir das Plastikding, womit der Fall dann auch erledigt war.
Beschweren mochte ich mich nicht, zumal mir dieses Henkelradio in den folgenden Jahren ein treuer Begleiter wurde. Man konnte es mit Batterien bestücken und samstags damit die Bundesligaübertragung hören, während man mit seinen Freunden Elfmeterschießen spielte. Dennoch begriff ich erst im Auto, was den Mann von der Losbude so erheitert hatte: Es war genau jene Anlage, mit der er seine Bude beschallte und durch die er seine Ansagen ("Gewinnegewinnegewinne!") machte.
Link zu diesem Beitrag (4 Kommentare) | Kommentieren [?]
Es dauerte, bis ich drankam, denn sie waren nur zu dritt hinter dem langen Tresen, ständig rief jemand: "Hier!" und streckte den gehetzten Verkäuferinnen ein paar Lauchstangen oder Radieschen entgegen. Meinerseits verspürte ich keinerlei Bedürfnis zu drängeln, sondern sah mir in Ruhe die ausgelegte Ware an, lauschte dem Regen und schaute regelmäßig zu den beiden Alten da ganz rechts, bei den Apfel- und Birnensteigen, wie sie Frucht um Frucht in die Hände nahmen und eingehend untersuchten, bevor sie sie behutsam in eine der kostenlosen, dünnen grünen Plastiktüten legten. Sie mochten Brüder sein, überlegte ich, ähnelten sich jedenfalls nicht nur aufgrund ihrer starken, von dunklem Horn gerahmten Brillen, der außenliegenden Hörgeräte - jeweils am rechten Ohr - und der nahezu identischen Gehhilfen, sondern wirkten vor allem so vertraut, wie man nur sein kann, wenn man sich schon sehr lange kennt. Mit wortloser Routine hielten sie einander einzelne Früchte vors Gesicht, signalisierten Einverständnis und füllten langsam, sehr langsam ihre Beutel.
Ich kam schließlich dran, gab meine Bestellung auf und durfte zahlen. In Gedanken war ich schon beim nächsten Stand, als ich an den beiden Obstkäufern vorbeischlenderte. Der eine hatte sich vom Stand weggedreht. Ich sah seine graubeige Jacke, der Stock lehnte am Tresen, die rechte Hand holte die Geldbörse hervor, während auf seiner linken, dem Stand abgewandten Seite ein wunderschöner, rotglänzender Apfel, tatsächlich ein wahres Schmuckstück, sehr langsam in seiner Jackentasche verschwand.
Link zu diesem Beitrag (0 Kommentare) | Kommentieren [?]
(Ich hab's gerade nicht so mit dem Verbalen.)
Link zu diesem Beitrag (5 Kommentare) | Kommentieren [?]
Dieses Spiel macht mir sehr viel Spaß, auch an einem Tag, an dem ich morgens spät dran bin, also lieber das Auto nehmen will, dieses nicht anspringt, ich eilig mit den Starthilfekabeln hantiere, der Anlasser trotzdem nur eine halbe Umdrehung schafft, ich mich am Kopf kratze, das Problem auf später verschiebe, dann also doch mit dem Fahrrad fahre, nun allerdings wirklich in Hetze bin, wieder zu Hause den Pannendienst zur Starthilfe bitte, um eine Stunde Geduld gebeten werde, die Kartoffelpuffer gerade im heißen Fett schwimmen, es doch schon klingelt, die Starthilfe auf Anhieb funktioniert, es drinnen schwarz qualmt, ich hineinrenne, die Puffer rette, wieder hinausrenne, es draußen ebenso schwarz qualmt, bloß viel lauter, der Starthelfer die Stirn in Falten legt, der Qualm aus unserem Auspuff kommt, er den Kühlmitteldeckel öffnet, sich heißer Blubber über ihn ergießt, ich schnell die Zündung abdrehe und den Mann anstarre, dieser auf den Motorraum zeigt, sich mit zwei Fingern quer über die Gurgel fährt und das gefürchtete Wort ausspricht, denn es ist ein einfaches, leicht zu erlernendes Spiel mit wertiger Anmutung, das man auch alleine stundenlang spielen kann, man denkt dabei an gar nichts, eigentlich spiele ich es viel zu selten.
Link zu diesem Beitrag (7 Kommentare) | Kommentieren [?]
Schon als Kind las ich gerne Haushaltstipps. Ich fand es hochinteressant, zu erfahren, wie man einen Flaschenhals sauber abtrennt (mit Petroleum getränkten Wollfaden an der gewünschten Trennstelle herumlegen, anzünden und die Flasche nach dem Abbrennen in eiskaltes Wasser tauchen), was man mit sauer gewordener Milch noch anfangen kann (hartgewordene Schuhcreme geschmeidig machen) oder wie Kerzen länger brennen (in den Kühlschrank damit).
Kerzen brennen allerdings auch länger, wenn man ein wenig Salz um den Docht herum streut. Als ich in die weite Welt hinein ging, schenkte man mir ein ganzes Buch mit Haushaltstipps, das ich jetzt auch sofort herauskramen und ablichten würde, hätte ich heute nicht auf unvorstellbare Weise meine Digitalkamera verloren. Mit diesem Buch, das aus vergangener Zeit stammt, kann man lernen, echte Butter von gefälschter zu unterscheiden, man erfährt, dass Silberbesteck mit einem Kohlblatt wirklich 1A poliert werden kann, und dass Bohnenkaffee noch herzhafter schmeckt, wenn man eine Prise Salz mit in den Filter gibt.
Die Tipps sind alphabetisch geordnet, wobei man wissen muss, dass die Sache mit dem Salz in der Kerze unter "E" einsortiert wurde ("Eine Kerze brennt länger, wenn ...").
Wenn ich mich mal wieder im Bad eingeschlossen hatte, nicht mehr herauskam und die da draußen langsam nervös wurden, erinnerte ich sie an folgenden Tipp, den ich bei den Großeltern in der Fernsehzeitung gelesen hatte:
Sägen Sie oberhalb des Bartes einen Schlitz in den Schaft. So können Sie eingeschlossene Kinder mit Hilfe eines geeigneten Schraubenziehers aus ihrer misslichen Lage befreien.
J. Behrens, Melle
Schlug sich wieder einmal jemand beim Bildaufhängen mit dem Hammer auf den Daumen, gab ich folgenden Tipp aus der Fernsehzeitung meiner Großeltern weiter:
Kleine Nägel einzuschlagen ist oft schwierig. Ich schneide mit der Schere einen Schlitz in einen geeigneten Kartonstreifen, welcher den Nagel zuverlässig hält, und ziehe diesen nach dem Einschlagen einfach ab.
H.-G. Bloch, Hagen
Neulich sah ich unsere Küchenschränke mal wieder von oben. Sie kennen diese unwiderstehlich fettige Mischung aus Staub und Kochdunst? Sie wissen, wie hartnäckig man den zähen Grind wischen muss? Auch ganz da hinten, wo man so schlecht drankommt?
Obacht.
Jetzt kommt's.
Auf meine Küchenschränke lege ich eine Schicht Zeitungspapier. Diese wechsele ich einmal jährlich aus.
nnier, MAD
Was denn? Das hat mein Leben verändert!
Außerdem lag da oben dieser Wok. Kopfüber, zum Glück. Und plötzlich erschloss sich mir der Sinn dieses Kochgeräts, das ich jahrelang ignoriert, weil für überflüssig gehalten hatte.
Ich fuhr zum Markt, ich kaufte ein, ich wokte das Zeug irgendwie zusammen.
Auch 'n Tipp.
Link zu diesem Beitrag (31 Kommentare) | Kommentieren [?]
Morgen bin ich zum Billard verabredet. Wir hatten einen Lehrer, er unterrichtete bei uns NW, also Naturwissenschaften, denn man war der Ansicht, dass die traditionelle Aufteilung in die Fächer Biologie, Chemie und Physik überholt sei, und dass man besser eine Zeitlang fünf Stunden die Woche eine Unterrichtseinheit "Magnetismus" habe und dann wieder was mit Blumen. Aus demselben Grund gab es auch nicht Geschichte, sondern G/R*, weshalb mir bis heute ein chronologisches Denken in Geschichte ("Seid ihr schon bei der Französischen Revolution?") ziemlich fremd ist.
Dieser NW-Lehrer kam erst später dazu, in der 7. Klasse, und sah aus wie Charles Bronson. Ich meine damit keine oberflächliche Ähnlichkeit - nicht einfach einen Schnauzbart o.ä., sondern ich meine: Er sah aus wie Charles Bronson, beinahe wäre man versucht gewesen, ihn als Wiedergänger des Charles Dennis Buchinsky zu bezeichnen, und nachdem mich mein Sitznachbar einige Wochen lang nahezu täglich auf diesen frappierenden Umstand hingewiesen hatte (z.B. mit den Worten: "Der sieht aus wie Charles Bronson!"), wobei er sich einer wirklich störenden deutschen Aussprache mit kombinierter Anlautverhärtung befleißigte, so dass es beinahe klang wie "Pansen" - jedenfalls musste ich immer an Pansen denken, wenn er das sagte, und damit an den Dalmatiner Asta und einen widerlich stinkenden Eimer mit Pansen, aber das führt jetzt zu weit, ein Nachbar hatte den Eimer beim Untermieter vorbeigebracht und ich ging die Treppe hinunter, das Treppenhaus stank und ich sah diese brechreizerregende Netzstruktur auf dem lappigen Zeug, und als sei die ganze Angelegenheit nicht schon offensichtlich genug, fragte der NW-Lehrer nach ein paar Wochen, ob wir denn mal gemeinsam den Film Spiel mir das Lied vom Tod ansehen wollten. Den ich immer noch großartig finde, alleine schon, weil eine Viertelstunde lang drei Charaktere aufs Sorgfältigste eingeführt werden, nur damit Charles Pansen sie abknallen kann. ("Falsch. Ihr habt zwei zuviel!")
Und dieser Lehrer, dem übrigens fortwährend ein gewisser intellektueller Dünkel entgegenschlug, man merkte das an Kleinigkeiten, z.B. an dem vielsagenden Augenrollen, wenn er "ebend" sagte, und der mal davon erzählte, wie er als armes Nachkriegskind, vermutlich Flüchtling, das weiß ich nicht mehr so genau, jedenfalls auf einem Bauernhof mit großen Augen den mit belegten Broten reich gedeckten Tisch hungrig anstarrte, woraufhin ihm die junge Bäuerin eine Stulle in die Hand drücken wollte, von der alten aber zurückgepfiffen wurde, die die Wurstscheibe herunternahm und ihm erst dann das Brot gab, der uns gegenüber aber (8. Klasse ist die schlimmste Zeit, dann wird's langsam wieder besser) oft den richtigen Ton traf ("Ich geh euch gleich mit der Eisenstange dazwischen!" vs. "Ich find das nicht so gut"), eröffnete uns eines Tages, dass das Spiel Billiard bzw. Biljard gar nicht so geschrieben werde, wie man meine, sondern: Billard. Mit Brillanten legte er gleich noch einen drauf, und in die dadurch entstehende, ungläubig staunende Stille hinein versetzte er uns den entscheidenden Schlag: Queue.
Was mich an den 1.6.08 erinnert, Sie wissen schon: Der erste Juni vor knapp zwei Jahren, denn erstens war ich mit einer Billigfluglinie angereist, bei der man sich vor dem Gate in zwei "Qs" ein-q-te, nämlich die "Priority Q" und die andere "Q", je nachdem, ob man prioritär oder nur regulär borden durfte und für ersteres also entweder eine Priority Fee gezahlt oder aber per Internet eingecheckt hatte, ein System, das niemand verstand, wodurch in den beiden "Qs" heillose Verwirrung entstand, und zwar bei Hin- und Rückflug, und ich vermute, das lag nicht zuletzt daran, dass gar nicht jeder Reisende das neckische "Q" so spontan in das homophone englische "Queue" zu übersetzen in der Lage war, und zweitens, weil ich an der legendären Anfield Road, die übrigens in einer wirklich stark heruntergekommenen Gegend liegt, meinte, mich an den viele hundert Meter lang diszipliniert aufgereiht Wartenden diskret vorbeischlängeln zu können, bis mich eine junge Engländerin erbost anstarrte und loskeifte: "This is a single-line queue! You have to go back!", woraufhin ich verschämt grinste, ein paar Pseudometer zurückging und dann wirklich noch schön weit vorne stand in dem Konzert (das übrigens echt gut war!)
Das mit dem Kö wollte damals keiner glauben, alleine die paar Französischkursler zogen die Stirn kraus und meinten, hm, doch, theoretisch könne das wohl sein, und in dieser Zeit ging das auch los, dass wir abends mal in die Stadt gingen, um Billard zu spielen. Man musste zunächst eine Kneipe mit Billardtisch finden, dann musste der Tisch auch frei sein, und schließlich galt es, trotz Verzehrzwangs angesichts des knappen Budgets möglichst wenig zu trinken und also immer einen Rest Cola im Glas zu lassen. Unter den argwöhnischen Augen der Wirte versuchten wir, die am wenigsten krummen Kös zu erwischen, nahmen dann mit lässiger Miene die Kreide zur Hand, drehten den Kö mit der Spitze nach oben und versetzten ihn profimäßig in Drehbewegungen, indem wir die auf dem Boden stehende Seite mit einem Fuß gegen den anderen hin- und herbewegten. Die Spitze wurde abgepustet, die Kreide weggelegt, das Dreieck mit den Kugeln noch einmal millimetergenau zurechtgerückt, ein Schluck Cola genommen, bevor der erste Stoß erfolgte, die Queuespitze in den grünen Bezugsstoff fuhr und die weiße Kugel über die Bande vom Tisch sprang.
"Die Queues hier sind echt scheiße", waren wir uns einig, und jahrelang stand der Wunsch nach einem eigenen Queue in so einem schicken, schlanken Holzköfferchen ganz oben; mancher besorgte sich, da erschwinglicher, wenigstens einen weißen Billardhandschuh. Und nach einigen Jahren der Übung waren wir tatsächlich besser geworden. So kam es, dass wir uns auch mal in einen echten Billardsalon trauten, dort, wo es die großen Tische gab, wo die Atmosphäre ruhig und kühl war, wo man für einen Tisch richtig Geld zahlte. Heimlich von den eingesessenen Spielern beäugt und deshalb etwas nervös, zogen wir die Queuetesternummer durch, kreideten die Spitze ein, bliesen das Stäubchen weg, rückten das Kugeldreieck zurecht und versetzten der weißen Kugel den initialen Stoß. Die Spitze fuhr ins Grüne. Die Kugel hüpfte vom Tisch. Und morgen gehe ich mal wieder Billardspielen.
--
Gesellschaftslehre/Religion, ist doch klar!**
---
**Ja, da war auch Erdkunde dabei. Ja, das hieß noch "Religion". Ja, komisch.
Link zu diesem Beitrag (10 Kommentare) | Kommentieren [?]
Wenn man ein Bett hat, das noch ziemlich neu ist.
Und wenn das ein ganz schönes Bett ist.
Und wenn man zwei gute Lattenroste dafür gekauft hat.
Und wenn es ein passendes Nachtschränkchen gibt.
Und wenn man damit auch wirklich zufrieden ist.
Und wenn dann plötzlich eine Undichtigkeit im temporalen Schutzschild auftritt.
Und wenn man aber noch die Chance hat, einen oder zwei sperrige Gegenstände zu retten.
Und wenn das einfach nur so ein Kasten ist mit einer Auflage aus Schaumstoff.
Und wenn man aber immer gut darin geschlafen hat.
Und wenn es dazu noch diese passende Truhe gibt.
Und wenn das aber eine Tagesreise ist.
Und wenn man gar nicht weiß, wie gut das ab- und wieder aufgebaut werden kann.
Und wenn man bezweifelt, ob das in irgendein verfügbares Auto passt.
Und wenn man sich fragt, ob es zum restlichen Mobiliar passt.
Und wenn das einfach so unschlagbar toll aussieht! Was soll man da denn machen! Doh!
Link zu diesem Beitrag (9 Kommentare) | Kommentieren [?]
Nun habe ich mich hier schon des öfteren bis auf die Knochen entblößt und lang und breit von meiner steckengebliebenen Entwicklung berichtet - der regelmäßige Leser kennt also meine ans Obsessive grenzende Begeisterung für John Lennon (überhaupt die Stones), Kampfstern Galactica usw.; andererseits möchte ich den verschlissenen und ohnehin hauchdünnen Tarnschleier auch nicht gänzlich fallenlassen.
Bei Ausgrabungen jedenfalls* fand man kürzlich nahe der Stadt G. diese Tonscherbe. Nach Ansicht amerikanischer Wissenschaftler stammt sie aus voreuropäischer Zeit und wurde vermutlich in der Gegend um Südgrönland bei rituellen Sonnenwendbeschneidungen auf hoher See zur navalen Positionsbestimmung eingesetzt.
Einer umstrittenen, alternativen Theorie zufolge handelt es sich hingegen um die frühe Darstellung eines menschlichen(?) Kopfes. Und mit etwas Phantasie - nun, entscheiden Sie selbst.
Als die Kunstlehrerin damals die Noten verteilte, stellte sie meinen Kopf demonstrativ ganz nach links, um die untere Grenze zu markieren. Ich hatte mich wohl mehr auf die Statik konzentriert und einen Zylinder mit Kreuzverstrebungen getöpfert. Nase dran, fertig.
Mein Sitznachbar und ich waren genervt von dem eitlen Ehrgeiz einiger Kursteilnehmer, die eine eher naturalistische Darstellung anstrebten und nicht nur mit aus verschiedenen Winkeln aufgenommenen Polaroid-Fotos, sondern teilweise sogar mit Gipsmasken gearbeitet hatten. Einer dieser Narzisten stand vorne an einem Pult, nahe der aufgeklappten Tafel, und kratzte ganz verliebt noch ein Stäubchen von seinem tönernen Schädel, der gleich gebrannt werden sollte.
"Mach mal die Tafel zu, bitte, wir können so nichts sehen", sprachen wir - und der Moment, als er mit Schwung die Tafel einklappte, der Moment, als er plötzlich verstand, der Moment, in dem er aber schon nicht mehr reagieren konnte, war auf eine zeichentrickhafte, ja: Tex-Avery-eske Weise wunderschön.
"Ach, Herrje. Den kann man bestimmt noch retten, sollen wir dir helfen?", fragten wir, doch er antwortete nicht und sprang wie wahnsinnig auf seinem Tonklumpen herum.
--
*Klasse Überleitung!
Link zu diesem Beitrag (15 Kommentare) | Kommentieren [?]
Man braucht ihn eben:
den Helfer in der Not
im Stil der neuen Zeit
den original SPRÜHOMAT
Interessant ist ja nicht nur, dass man sich damals - zumindest in Bergen-Enkheim - offensichtlich tiefgreifende Gedanken zur deutschlandweiten Verständlichkeit des Begriffs "Samstag" machte; immerhin gab es die DDR noch, wo man diesen Tag (wie übrigens auch in den Kreisen, in denen Max Goldt verkehrte), einzig und allein als "Sonnabend" bzw., bei Goldt, "Sonnahmt" kannte. Somit lautete jeder siebte Eintrag in diesem Jahreskalender konsequent "Samst. / Sonnabend", womit die Firma Heinrich König & Co. wesentlich mehr Sensibilität bewies als z.B. die Deutsche Bundespost, die schon Jahre vor dem ebenfalls plumpen "Ruf doch mal an!" den Bundesbürger regelmäßig anherrschte: "Schreib mal wieder!", woraufhin ein Politiker aus CSU-Land anklagend auf diesen Ausdruck des preußischen Kulturimperialismus hinwies: Das liege zur bajuwarischen Zunge absolut quer, man könne das ja kaum aussprechen; notfalls sei man bereit, sich auf ein kompromisshaftes "Schreib einmal wieder!" einzulassen; warum aber eigentlich solle man nicht auf eine so wohlklingende Formulierung wie "Schreib wieder einmal!" zurückgreifen?
Interessant ist auch, dass man damals wohl Branntwein- und Tabaksteuern jährlich zu bestimmten Terminen entrichten musste, die in dem Kalender dankenswerterweise aufgeführt waren. Glücklicherweise konnte ich jeweils kurz zuvor spürbare Geldeingänge verzeichnen.
Interessant schließlich, dass man in Bergen-Enkheim ganz offensichtlich zu den Pionieren der femininen Schreibung zählte, denn statt "Pole" hieß es konsequent "Polin", statt "Stuhl" folglich "Stuhlin" usf.; aber was soll ich noch groß erzählen - blättern Sie doch einfach selbst und informieren Sie sich, ob die Patina auf den Särgen damals noch echt bzw. wann 1975 Weihnachten war.
Link zu diesem Beitrag (2 Kommentare) | Kommentieren [?]
* Ausgereift und gut abgehangen, blättern Sie zurück!