Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sonntag, 15. Dezember 2024
Nexus
nnier | 15. Dezember 2024 | Topic Musiq
I was there, I really was
At the centre of the love vibration


- Paul McCartney, Peace in the Neighbourhood (1992)

Es gibt einen Film der Reihe Star Trek, in dem alle 39,1 Jahre ein Energieband, der Nexus, durchs Universum rast. Wird man davon getroffen, stirbt man für die Außenwelt, gerät subjektiv aber in ein Paralleluniversum, in dem die eigenen Wünsche für immer erfüllt werden. So ergeht es auch zwei Captains: Kirk reitet in diesem Nexusparadies fortan durch Iowa oder kocht mit seiner Verlobten, während Picard kitschige Familienweihnachten feiert. Innerste Wünsche: Who am I to judge?



Natürlich gibt es einen Bösewicht, der früher schon mal im Nexus war, unbedingt wieder hinein möchte und durchaus mal ein Sonnensystem zerstört, um das Energieband in seine Richtung zu lenken, denn bald sind die 39,1 Jahre um, und was ist schon so ein Sonnensystem gegen die Aussicht auf absolute Wunscherfüllung - fragt mal eure Psychologin!

Wie mein persönlicher Nexus aussähe, ahnen diejenigen, die hier manchmal vorbeischauen, vielleicht. Ich scheitere daran, es in Worte zu fassen, doch es ist alles wahr.

Das letzte Mal hätte ein wunderbarer Abschluss sein können, war es in meinem Kopf auch, denn ich hatte mein Glück längst ausgeschöpft: Das alles war ja vollkommen unwahrscheinlich, wer hätte jemals gedacht, dass Paul McCartney noch mal auf Tour geht und dass ich da hingehen kann!?



So dachte ich 1989 und so dachte ich all die anderen Jahre; und bereut habe ich nur die Konzerte, zu denen ich nicht gegangen bin.

Dass er nun doch noch mal in Europa auftritt, habe ich wie immer zu spät erfahren, hatte dieses Jahr auch viel um die Ohren und durchaus meinen Frieden damit: Klar war alles sofort ausverkauft, und ich bin auch nicht mehr 19, um auf Verdacht irgendwo hinzufahren und vor der Halle auf ein Ticket zu hoffen. Viel Spaß also den Glücklichen, ich freue mich für euch!



Außer dass ich neulich abends spontan Flug und Unterkunft gebucht, eine Woche freigenommen und also mein Glück noch mal versucht habe. Naiv wie ich bin stellte ich mir vor, dass ich wie früher vor der Halle mit einem Schild "Ticket needed!" herumlaufen könnte, bis mir in letzter Minute jemand seine überzählige Eintrittskarte verkauft und ganz irritiert schaut, bloß weil ich mich auf den Boden werfe und ihm sowie all seinen Nachkommen ein langes, glückliches Leben wünsche. Oder bis meinetwegen wieder ein Schwarzhändler mit mir das Geschäft seines Lebens macht, weil ich gegen reiche Isländer und verrückte Japaner bieten muss.

Aber inzwischen ist alles längst nur noch digital, man kann im Gegensatz zu Flugtickets diejenigen fürs Konzert nicht mal mehr zur Sicherheit ausdrucken, sondern bekommt sie ausschließlich in einer speziellen App angezeigt, die am Eingang präsentiert werden muss: Akku leer, kein Empfang, Handy defekt oder geklaut - Anlass für Alpträume, Stoff für Stoßgebete, das alles ist ein fürchterliches Kartenhaus und verursacht schlimme Gefühle des hilflosen Ausgeliefertseins. Wenn man denn so ein Ticket erst hat.



Ich mache es kurz, ich konnte eines ergattern, ich lud es zitternd auf mein Handy und fasste seither alle 2 Minuten in die Hosentasche, um zu kontrollieren, ob es noch da war. Dann stieg ich in die Tram, fuhr eine Stunde durch Manchester und war da, ich war wirklich da, im Zentrum der Liebesschwingung, bei Gelegenheit erzähle ich davon.

Nur dieses schon mal: Die 39,1 Jahre sind bald um. Und es ist gut gemeint, wenn ich euch warne: Passt auf eure Sonnensysteme auf!

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Dienstag, 18. Juni 2024
Happy 82!
nnier | 18. Juni 2024 | Topic Musiq
Yes we're going to a party party
Yes we're going to a party party
Yes we're going to a party party


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Sonntag, 16. Juni 2024
The Others
nnier | 16. Juni 2024 | Topic Musiq
Ich muss es gleich zugeben: Mein Herz schlägt für eine andere Band. Seit es die nicht mehr gibt, es sind jetzt auch schon wieder 54 Jahre, ist da diese große Leerstelle, neben der die Rolling Stones einfach weiterexistieren. Und wenn ich so nachdenke, fällt mir ein, dass ich vor vielleicht 15 Jahren sogar mal auf einem Konzert von denen war, das mich jedoch kaum weniger hätte beeindrucken können.

Mein Maßstab ist allerdings verdorben, denn wie ich vielleicht schon mal angemerkt habe, danke ich dem Schöpfer auf Knien für jedes Konzert von Paul McCartney, das ich miterleben durfte. Eine so tiefgreifende emotionale Erfahrung darf man anderswo nicht erwarten, und doch war ich angesichts der Parade klassischer Hits, die da abgespult wurden, ein wenig verwundert, wie egal mir die ganze Veranstaltung war. Es sind ja keine schlechten Lieder, und es kann auch rührend sein, den älteren Herren dabei zuzusehen, wie sie es noch draufhaben, und man hätte sich von der Begeisterung anderer Fans doch irgendwie anstecken lassen können, die auf dem Hin- wie auf dem Rückweg begeistert und in Kopfstimme "Oooh-oooh" sangen, ja, man hörte quasi nichts anderes in der S-Bahn als dieses Melodiefragment aus Sympathy for the Devil.

Aber da geht es schon los, das ist ja fraglos ein flottes Lied, aber es packt mich nicht. Und da fällt mir die Konversation zum Thema vor 20 Jahren im Raucherbüro ein, bei der ich die Ansicht vertrat, bei den Beatles könne ich unter Schmerzen vielleicht 10 Lieder benennen, auf die ich im Notfall verzichten würde; bei den Stones hingegen kämen mit einiger Sucherei wohl 10 Songs zusammen, die ich irgendwie OK finde.

Allerdings muss ich zugeben, dass ich deren Werk längst nicht so gut kenne wie das der Liverpooler. Wenn ich also nun ein paar Songs nenne, die ich akzeptieren kann, ist die Grundlage dafür mehr als lückenhaft.

Fangen wir mal mit meinem aktuellen Ohrwurm Gimme Shelter an, von dem ich theoretisch seit ca. 1969 wissen könnte, wie gut er ist, aber so richtig gemerkt habe ich es erst in den letzten Tagen. Ein super Intro, der Gesang von Mick Jagger ist nicht schlecht, sensationell gut wird das Lied aber erst durch die hohe, zweite Stimme von, Moment!, genau!, Merry Clayton.

Der Film Rushmore ist nicht nur ein guter Film, sondern hat auch einen exquisiten Soundtrack. Darin begegnete ich dem sehr angenehmen Stückchen I Am Waiting vom 1966er Album Aftermath, das lese ich gerade bei Wikipedia und zeigt wieder mal, wie wenig ich mich im Werk dieser Band auskenne, während ich bei einer anderen Band ziemlich genau darlegen könnte, was 1966 passiert ist. Ich mag sie ja tatsächlich gerne ruhig, die Stones, so wie hier, und bin dafür in keinerlei Versuchung, jemals Satisfaction mitzugröhlen.

Schön ruhig ist auch Ruby Tuesday, das ich wirklich sehr geschmackvoll finde, von der Klavierbegleitung über den gestrichenen Kontrabass bis hin zu den Flöten. Es ist für immer verbunden mit dem Uher-Spulentonbandgerät meiner Eltern, auf dem ich es kennenlernte, ohne natürlich zu wissen, von wem es ist. Aber das ist wirklich eine schöne Melodie, die ich seit frühen Kindertagen gerne bei mir habe.

Und das müssten dann auch schon die ca. 10 guten Lieder von den Stones gewesen sein, jetzt muss ich noch mal über die 10 von den Beatles nachdenken, auf die ich notfalls verzichten kann ... aargh ... das wird schwer ... vielleicht doch nur 5, oder 3?

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Montag, 26. Februar 2024
Nineteen Forever
nnier | 26. Februar 2024 | Topic Musiq
Vor einiger Zeit stolperte ich über den Link zu einem interessanten Artikel. Darin geht es, laienhaft übersetzt, um die rätselhafte Kluft zwischen dem Alter, das man hat, und dem, das man glaubt zu haben. Die Unterzeile lautet sinngemäß: Es gibt gute Gründe dafür, dass Sie sich immer 20 Prozent jünger fühlen als Ihr tatsächliches Alter.

Hm. Ich verrate mal ein Geheimnis, mit 20 Prozent komme ich nicht hin. Meine spontane Antwort auf die Frage, die am Anfang des Artikels aufgeworfen wird - "Wie alt bist du innendrin?" - lautet: 19.

Was in dem Artikel steht, weiß ich nicht mehr so genau. Es geht aber unter anderem um Menschen, die real Mitte 70 und in ihrem Kopf Mitte 40 sind, das kann ich gut verstehen, zumal die Frage nicht lautet, wie alt man sich fühlt (Montagmorgen: steinalt), sondern wie alt man in seinem Selbstbild ist. Auch bei längerem Nachdenken ist meine Antwort: 19.

Natürlich weiß ich, dass schon meine Kinder längst älter als 19 sind. Rein rechnerisch ist mir auch klar, dass ich tief im letzten Jahrhundert geboren wurde, und auch wenn manchmal ein Jahrzehnt unter den Tisch fällt (jaja, Andy Brehme hat vor über 20 Jahren diesen Elfmeter geschossen, echt lange her - nein, es sind 34!), sind mir die groben zeitlichen Verläufe und Dimensionen durchaus bewusst.

Vor einigen Tagen schlich sich wieder mal ein Album in meinen Kopf, das ich ewig nicht gehört habe. Ich kaufte es gleich bei Erscheinen auf CD, Blaze of Glory von Joe Jackson aus dem Jahre 1989. Trotz des gefälligen Steppin' Out einige Jahre zuvor hatte ich ihn als Musiker für Bescheidwisser eingeordnet, ähnlich Elvis Costello: irgendwie independent und auch mal roh und ungestüm, insgesamt aber verkopft und übermäßig angestrengt.

Da erklang aus dem Radio der moderate Hit Nineteen Forever und gefiel mir gut genug, um die Investition zu tätigen. Und für einige Zeit lief die Scheibe rauf und runter, kam meiner Vorliebe für zusammenhängende Werke mit klugen Übergängen zwischen den Liedern entgegen und brachte gar so etwas wie ein Konzept mit: Wunderbar, und jetzt für ein paar Jahrzehnte ins Unterbewusstsein damit, bis sie aus heiterem Himmel wieder nach oben gespült wird und dann wochenlang durchgehört werden muss, Sie kennen diese Textbausteine ja von mir.

You can love it or leave it
But I'm never gonna be 35


Schön und gut, sagen Sie jetzt, ihm ist also ein Lied wieder eingefallen. Toll!

Mo-ment. Ganz so einfach ist es nicht. Ich sagte: 1989. Ein wichtiges Jahr - genau!, 3. und 4. Oktober!, Alsterdorfer Sporthalle!

Vielleicht ist es das; vielleicht die Tatsache, dass ich kurz vorher den Führerschein gemacht hatte. Das rosa Dokument hätte ich übrigens spätestens vor einigen Wochen in ein kartenförmiges umtauschen müssen; Problem: Der junge Mann auf dem Foto, der da so wenig motiviert in den Fotoautomaten am Bahnhof schaut, bin ich. Ein frisches, biometrisches Foto für die Scheckkarte würde mein aktuelles Äußeres abbilden, diese spätere Version von mir - mit der ich mich vollkommen im Reinen fühle, alles OK - aber es fühlt sich ein wenig gelogen an, jawoll, Herr Inspektor, das auf dem Foto bin ich, aber das auf dem anderen da, das bin ich eigentlich viel mehr.

Jetzt könnte ich noch einen Exkurs einbauen über gewisse Kindsköpfigkeiten und arrested development auf musikalischen (wissen Sie alles) und anderen Gebieten: Finden Sie es nicht auch totkomisch, wenn eine Zeichentrickfigur in der Luft weitergeht, irgendwann nach unten schaut und erst dann erschrocken abstürzt? Hahahaha!

Aber am Ende ist es nicht das, was ich meine: Nicht die Albernheiten, nicht die Nostalgie. Es ist ein Lebensgefühl, das sich damals herausgebildet hat. Und das ist, bei allen großen Ereignissen, Entwicklungen und Wendungen in meinem Leben, seither geblieben, seit 1989 - und doch ist mir erst jetzt aufgefallen, wie alt ich war, als dieses Lied herauskam.

You better believe it
You better believe it
Come on!
One more time!


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Freitag, 5. Januar 2024
Spitzenwichser ohne Schädelkraft
nnier | 05. Januar 2024 | Topic Musiq
Es gibt eine Vorgeschichte mit Nina Hagen, mit der ich mich nie befasst habe, und ein letztes Album von 1984, das mich schon nicht mehr interessiert hat. Was aber genau in der Mitte zwischen der Spliff Radio Show (1980) und dem Song Radio (1984) in nur einem Jahr, dem sowieso großen Popjahr 1982, auf gleich zwei Alben veröffentlicht wurde, gehört zu meinen musikalischen Grundnahrungsmitteln. Und ich greife regelmäßig darauf zurück.

Man kennt sie noch von Bravo-Postern oder als Knibbelbild, besonders markant Reinhold Heil mit Wuschelmähne und übertriebener Brille, der übrigens Carbonara und Das Blech gesungen hat: Typisch, dass gerade diese beiden Gassenhauer und Schenkelklopfer die zwei großen Hits geworden sind, an die man sich heute erinnert.

Dabei waren sie fantastische Musiker, die irgendwie in die Mühlen der "Neuen Deutschen Welle" gerieten. Der Slap-Bass von Manne Praeker definiert geradezu den Sound der frühen 80er wie auch das elektronische Schlagzeug von Mitteregger (das lange Drumsolo in der Mitte der Albumversion von Das Blech reißt den Song definitiv raus). Und was Reinhold Heil an den Keyboards veranstaltet - später übrigens: Filmmusik für Tom Tykwer, das habe ich damals im Kino bei "Winterschläfer" gleich erkannt - ist genauso großartig wie die Gitarrenbretter von Potschka.

Wobei ich die Sachen zwar auswendig mitsinge und kaum darüber nachdenke - wenn aber doch, stellt sich mir gerne die Frage, ob das besonders tiefgründige Lyrics sind oder einfach großer Quatsch. Nicht anders als damals im Deutschunterricht mit diesen Gedichten.

Ein Highlight steht gleich am Anfang der Platte 85555, sphärische Keyboards, satte Drums, das erste Gitarrenbrett und ein paar Slaps auf dem Bass ziehen einen direkt in die Atmosphäre des ganzen Songs, noch bevor Mitteregger mit seinem distanzierten Gesang loslegt und schließlich endet:

Der Rote Hugo hängt tot im Seil
Die Leiche stinkt nach Shit
Wie'n weisser Engel, schön wie Schnee hängt er da
- ey, du tust dir noch weh!
War'n wilder Kerl mit feuchtem Blick
Doch der kommt nie zurück
So schreib dein Leben auf ein Stück Papier und warte
Bis die Zeit vergeht

(Spliff, "Déja Vu")

Starke Bilder, hier passt alles zusammen, und die Art, wie er das "R" artikuliert ("zurrrück"), ist das I-Tüpfelchen.

Weniger gerne höre ich den Gesang von Manne Praeker - aber was der da singt, hat sich mir erst mit großer Verzögerung erschlossen:

Sie nimmt mich mit in 'nem roten Kadett
Raus aus der Bar und weg
In ihrem roten Kadett
Sie zieht Speed im roten Kadett
Rauf auf den Spiegel und weg
Wir sind aufm Schnellweg

(Spliff, "Duett komplett")

Speed und Spiegel und weg, das lief einfach so im Jugendradio und hätte man noch merken können - aber dass der rote Kadett vielleicht gar kein Auto ist, darauf kam ich erst Jahrzehnte später. (Anderen ging es wohl ähnlich mit Little Red Corvette von Prince, übrigens auch von 1982, und ich wüsste tatsächlich gerne, wer sich hier von wem inspirieren ließ.)

Sie lieben die Kanonen
Und fliegen öfter zum Mond
Spitzenwichser ohne Schädelkraft
Die machen hier einfach
Was keiner mehr rafft

(Spliff, "Jerusalem")

Tiefsinn oder Quatsch? Herwig Mitteregger, für mich dann doch der "richtige" Sänger in der Band, gibt jedenfalls regelmäßig alles, z.B. hier schon durch die Art des Vortrags ganz knapp vor dem Wahnsinn:

Quer durch Algerien fahrn wir jetzt zurück
Die eine Kiste ist hinüber
Die andre macht noch mit
Und oben stehn diese Geier
Charly, wer hat die bezahlt?
Ich hab kein' Bock auf Keier, kein' Bock auf Geier
Noch nie Bock auf Geier gehabt!

Schenk mir ganz Australien
Mit nem wilden Tier
Oder gib mir ganz Amerika
Kein Bock, ich bleib jetzt hier
Dann hau doch endlich ab! Wohin? Wohin?
Au ja! Nach Mexiko!

(Spliff, "Wohin? Wohin?")

Manchen Texten merkt man ihre Entstehungszeit sehr genau an ("Kill!" über Videospiele, "Computer sind doof" über rote Knöpfe und Atomraketen), so wie die Streifenhosen und Muskelshirts und Schnauzbärte einen in die 80er versetzen; und die Bühnenshow könnte man so unironisch machohaft heute auch nicht mehr bringen.

Trotzdem, und auch trotz manch altbackener Soundschnipsel, ist das Zeug für mich sehr gut gealtert und hat definitiv mehr Klasse als fast alles andere, das es damals an populärer deutscher Musik gegeben hat. Hören Sie sich das ruhig mal wieder an!

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Samstag, 2. Dezember 2023
I wie Ikarus
nnier | 02. Dezember 2023 | Topic Musiq
Es ist einige Jahre her, da erhielt ich eines Abends einen dringlichen Anruf. Er sitze gerade mit Kollegen beim Kaltgetränk, sprach der Anrufer, und man könne sich in einer wichtigen Frage nicht einigen: Wie ich denn darüber dächte? Habe die Progressive-Phase von Genesis bereits 1975 mit dem Weggang Peter Gabriels geendet, oder erst zwei Alben später, als sich Steve Hackett von der Band trennte?

Manchmal verstehe ich die Leute nicht. Ganz eindeutig kamen mit A Trick Of The Tail (1976) und Wind And Wuthering (1977) noch zwei kristallklare Exemplare aus dem Genre Progressive, da spielt der Sängerwechsel keine Rolle, und schon mit Peter Gabriel hatte man sich auf The Lamb Lies Down On Broadway hin zu einer Abfolge von kürzeren, konventioneller strukturierten Songs mit Refrain entwickelt, die teilweise auch außerhalb des Albumkontextes funktionieren - und dennoch sind genügend Prog-Elemente zu finden, wie längere Instrumentalpassagen, verstiegene Texte, komplexe Rhythmen und überraschende Taktwechsel, vor allem aber dieses übergreifende Albengefühl, unter anderem dadurch, dass Melodiefragmente und Klänge aus früheren Stücken an späterer Stelle wieder aufgenommen werden.

Steve Hackett war der prototypische Prog-Gitarrist, sitzend über die Gitarre gebeugt, das Kassengestell im Gesicht, einen größeren habituellen Abstand zu den extrovertierten, phallischen E-Gitarrenhelden der Hard- und Glamrocker konnte man sich schwerlich vorstellen. Noch heute wird er von Kennern als einer der am meisten unterschätzten Rockmusiker überhaupt gepriesen - u.a. für bestimmte, von ihm wohl erfundene, Spieltechniken wie das sogenannte Sweeping und Tapping. Kann sein, ich bin da auf der technischen Seite nicht so bewandert, mag aber seine Gitarrenarbeit auf den insgesamt sechs Genesis-Alben, an denen er beteiligt war, sehr gerne.

Als erstes Mitglied der Band brachte er ein Soloalbum heraus, frustriert von den Begrenzungen der stocksteifen Privatschülercombo, und nach seinem Ausstieg 1978 sein zweites, für mich bestes Album mit dem Titel Please Don't Touch. Danach kam nicht mehr viel, das mich interessiert hat, es sind zahllose Alben und er hat seine Kultgefolgschaft, die jedes kurze Genesis-Zitat auf seinen Konzerten bejubelt, aber das besagte Album erschien jüngst auf meiner inneren Playlist. Man weiß ja nie, woran es liegt, dass nach einer Latenzzeit von 10 oder 20 oder 30 Jahren plötzlich und sehr intensiv das Verlangen nach genau diesem einen, bestimmten Stück Musik aufkommt und sich dann wochenlang nicht stillen lässt. Nun also Please Don't Touch auf Heavy Rotation.

Schon die erste Seite ist erfreulich, da sind unerwartet flotte Liedchen wie zum Einstieg mit dem Gastsänger Steve Walsh von Kansas oder von Hackett selbst mit Stimmverzerrer gesungen, und da geht's eben schon los, am Ende dieses Liedes ist so etwas wie eine Jahrmarktsorgel zu hören, auf die man später zurückkommen wird.

Eine durchgängige Suite, und das ist nun mal das eigentlich Schöne am Prog, ist dann die zweite Seite: Vollkommen unerwartet geht es mit einem angejazzten Song mit der damals noch unbekannten Gastsängerin Randy Crawford los, normalerweise nichts für mich, hier passt aber alles und es werden zwischendurch klangliche Vorbereitungen getroffen, die für das zentrale Stück dieser Seite, Please Don't Touch noch wichtig werden, das nach einem instrumentalen Übergangsstück folgt. Und kaum fragt man sich, was danach noch kommen soll, wird ein weiterer sehr schöner Übergang angefügt, der zum unerwarteten Ende hinleitet.



Richie Havens ist so ein Name, den man kennen kann, aber vielleicht nicht unbedingt sofort zuzuordnen weiß. Hier freue ich mich seit Tagen wieder über seine großartige und absolut zu dem opulenten Icarus Ascending passende Stimme, mit allen "Hmmmms" und "Ooooohs", natürlich könnte das ein konventionelles Lied bleiben, aber es gibt jede Menge Bombast, ein falsches Ende und Rückgriffe auf Sounds und Akkorde der vorangegangenen Stücke, alles wie es sein muss.

Und selbstverständlich interessiert das 45 Jahre alte Zeug keine Sau. Aber mir gefällt's.

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Sonntag, 19. November 2023
Grow Old With Me
nnier | 19. November 2023 | Topic Musiq
Nach Adelaide habe ich es nicht geschafft, und das schmerzt, wenn man die Konzertberichte liest, aber doch nach Neuenkirchen-Vörden. Downscaling, nicht ganz freiwillig, aber vielleicht eine gute Übung: Eines Tages sitzt du in deinem Kämmerlein und hast nur noch deine Erinnerungen.



Vorbei die Zeiten, in denen du spontan ins Auto gehüpft bist, um ohne Ticket auf Verdacht zu so einem Geheimkonzert zu fahren, in Stockholm, oder - halt! - war es doch Kopenhagen, bieg erst mal hier ab, ich bin gerade nicht mehr ganz sicher (Kids: Das war lange vor dem Internet).



Es reicht aber noch dafür, an einem gemütlichen Wärmflaschensamstagnachmittag irgendwann unter seiner Decke hervorzukriechen, sich mit Kaffee und Dusche in die Vertikale zu dopen und den Namen eines unbekannten niedersächsischen Provinzorts ins Navigationssystem zu tippen.



Mit etwas Fantasie ist es wie damals im Cavern, klein und heimelig, Eintritt ("AK 22.- EUR") und Getränkepreise inflationsfreundlich, dafür kannst du in Adelaide nicht mal parken, und man lernt die Kulturbahnhöfe und Dorfgemeinschaftshäuser des Landes kennen: Gnadenlos unterschätzt!



Die sympathische Tribute-Band gehört schon lange zu den festen Posten im Jahreslauf. Einmal jährlich sind sie in Bremen, dazwischen passt die eine oder andere Landpartie, es ist ein wenig wie Weihnachten, da gibt's auch keine großen Überraschungen, aber man freut sich doch wieder drauf.



Das Publikum ältere Herrschaften, und komisch: Ich soll genauso alt sein wie die! Auf der Bühne ein neues Gesicht, an das man sich gewöhnen muss - aber das haben wir schon mal geschafft, damals im Cavern mit Pete Best. Und jetzt einen ruhigen Sonntag, Erinnerungen einsortieren.

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Sonntag, 12. November 2023
Good One
nnier | 12. November 2023 | Topic Musiq


Jetzt ist es einige Tage her, ich kann wieder atmen, und es ist diesmal wahnsinnig schnell gegangen: Die Phase der Neugier, dann eine der Verarbeitung, in der ich die ständige Frage "UND?" noch mit abgewogenen Worten ("Schön, nicht weltbewegend, war auch klar, aber dennoch") beantworten konnte. Dann der Moment, in dem es mich erwischt: Ja, es ist unerwartet schön, John noch mal so kristallklar zu lauschen - aber wenn an dieser einen, subtilen Stelle Paul einsetzt, "of you", knackt es mich, später noch mal, "will love you". Es steckt exakt alles darin, der Zusammenklang dieser beiden Stimmen öffnet die Schleusen, der Himmel ist ganz nah. Mehr will ich nicht, mehr brauche ich nicht, danke, Gott!

Zu der Frage, ob das ein Beatleslied ist, gibt es unterschiedliche, wohlbegründete Ansichten. Ich schließe mich dem Rolling Stone an:

“Now and Then” could have been cheap or cloying or overblown, but instead, it’s a pained, intimate adult confession. You can hear why Paul never forgot this song over the years, and why he couldn’t let it go. You can also hear why he knew this needed to be a Beatles song, and how right he was to pursue his mad quest to the end. In other words, it’s a real Beatles song, adding one more classic to the world’s greatest musical love story.

Tatsächlich habe ich das Lied erstaunlich schnell in meinen inneren Kanon aufgenommen (während z.B. "Real Love" für mich klipp und klar nach einem aufgeplusterten Demo klingt und ein angestückelter Fremdkörper bleibt). Warum ich bei aller Künstlichkeit und Ingenieurskunst, die dem neuen Stück innewohnt (an einer Stelle im Making-Of-Video sagt Ringo so etwas wie: "Paul sent me the files, I played the drums" - nicht mal diese beiden waren also in einem Raum), ein solches Beatles-Gefühl erlebe, erklärt sich aber am besten hierdurch:



Es ist eine Beatles-Melodie, ganz eindeutig, und Paul hat ein paar kluge künstlerische Entscheidungen getroffen, so z.B. den Teil "I don't want to lose you ..." aus Johns Demo komplett wegzulassen oder die Geschwindigkeit des Songs etwas zu erhöhen. Er weiß, was einen guten Song ausmacht, und dass dazu neben Inspiration auch Handwerk gehört, dafür war er sich nie zu schade. Zum großen Glück.

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Montag, 30. Oktober 2023
Whatever happened
nnier | 30. Oktober 2023 | Topic Musiq
Ihr sagt dann wieder, es ginge ums Geld. Dazu sage ich nur, man kann das gar nicht zurückzahlen.

Im November 1995 lief alles auf die groß angekündigte Anthology zu, und ich glaubte, den sechs Jahre zurückliegenden, lebensverändernden Schock inzwischen halbwegs verarbeitet zu haben.

Außerdem: Jeff Lynne, und ich kannte Johns verrauschte Skizze von irgendwelchen Bootlegs. Das konnte ja nach all dem Hype vorab nur enttäuschen, also besser nichts erwarten!

Abends endlich alleine, legte ich die frisch gekaufte CD ein. Natürlich klangen die eröffnenden Schläge auf der Snaredrum genau so, wie man es bei einer Jeff-Lynne-Produktion erwartet hat. Georges Slide-Gitarre setzt ein, dann der dünne Geistergesang des seit 15 Jahren toten John, bald begleitet vom ebenso dünnen Falsett der mittelalten Herren Harrison und McCartney: Ich weiß noch, wie sich ganz leise die Vorahnung einer kleinen Enttäuschung einstellen wollte.

Es hat mich umso voller erwischt, genau an dieser Stelle. Wenn der älter gewordene Paul einsetzt und die Bridge singt, trifft mich das ins Mark, das hat sich bis heute nicht verändert. Ja, es ist ein mittelmäßiges Lied, und ich bin zutiefst dankbar, dass sie es zu Ende gebracht haben.

Später singt George eine abgekürzte Version derselben Bridge, und bevor man sich fragen kann, ob es davor schon ein Lied gegeben hat, in dem alle drei, John, Paul und George, jeweils einzeln zu hören sind, setzt die Gitarre von George zum weinenden Solo an, und im Hintergrund ist wieder 1967, das hört man ganz deutlich.

Ich habe buchstäblich Tage gebraucht, um mich davon zu erholen.



So war das, ihr Zyniker, bald ist wieder November, und ich sollte mir wohl ab Donnerstag besser freinehmen.

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Sonntag, 22. Oktober 2023
Baa doo doo doo doo (doo doo), baa doo doo doo
nnier | 22. Oktober 2023 | Topic Musiq
Das war bei Ihnen doch bestimmt auch so, damals, '83, '84, dass Sie als Gerade-Mal-So-Teenager abends plötzlich "weggegangen" sind und in unterkühlten Bars mit gespielter Selbstverständlichkeit ein alkoholisches Getränk bestellten, das dann möglichst lange halten musste, während Sie am Billardtisch mit Kennermiene den Qeueuee diesen Billardstock auf exaktes Fluchten untersuchten und ihn dann an der Spitze mit Kreide versahen, indem Sie das gegenüberliegende Ende am Boden zwischen den Schuhen hin- und herbewegten, bevor Sie die Kugeln exakt im Dreieck ausrichteten, die schwarze in Rotation versetzten und gleich mit dem ersten Stoß die weiße schräg über den Rand des Tischs quer durch die Kneipe schossen.

Sie haben das Lied natürlich gleich erkannt. In dieser Zeit der schwarzen HiFi-Racks mit Rauchglastür erschien nämlich neben dem vorherrschenden New-Romantics-Synthpop plötzlich die Sängerin Sade Adu auf der Bildfläche, und wir fühlten uns mit unserem Blue Curaçao gleich noch weltläufiger, großstädtisch angejazzt und dabei zeitlos existentialistisch verloren wie in diesem Gemälde von Edward Hopper, das als Kunstdruck bei jemandem zu Hause an der Wand hing. Natürlich lief ich zum Musikhaus Hack und kaufte mir die Cassette*. Smooth Operator war der Überhit, und ich habe ihn mir überhört, wie auch den Rest des Albums nach einiger Zeit. Sade trat noch mal bei Live Aid auf, drehte sich auf der Bühne um sich selbst und zeigte ihren freien Rücken, danach habe ich nichts Interessantes mehr von ihr mitbekommen.

Und kaum sind 40 Jahre vorbei, schleicht sich von der Seite der Refrain eines viel besseren Liedes ins Unterbewusste. Der Einstieg mit dem Bass, das penetrant wiederkehrende, verfremdete E-Gitarrenriff mit Echo, der Strophengesang mit fester Stimme, dann der Übergang in den Refrain: Gotta find out what I meant to you/ You′re the one who broke my heart in two/ Gotta find out what I meant to you, oh boy, das alles beim Wiederhören Ton für Ton und exakt so phrasiert wie in meinem Gedächtnis, es würde mich wirklich mal interessieren, wie dieser hochauflösende innere Speicher funktioniert. Und wie es kommt, dass man wie bei einem intensiven Juckreiz gar nicht anders kann, als sich das Lied zwei Wochen lang immer und immer wieder anzuhören, wie es sich gegen Ende in diesen mehrstimmigen Gesang hochsteigert, Baa doo doo doo doo (doo doo), baa doo doo doo. Sweet as Cherry Pie.

Meine deutlich männlich dominierte Musikbox wurde fast zeitgleich durch eine weitere Frau aufgewertet, musikalisch und gesanglich vollkommen anders, und doch gibt es Parallelen wie den einen Überhit, den ich mir genauso überhört habe wie den Rest des Albums, und das eine Lied, das nun plötzlich wieder anklopft und mein Hirn seither in gestreamter Dauerschleife auf Sättigung warten lässt. Auch diese Cassette kaufte ich mir damals bei Hack, ich sehe die beiden Hüllen noch Seite an Seite in der hölzernen Aufbewahrung an der Wand meines Jugenzimmers stecken, vielleicht muss es dehalb so sein, dass Cyndi Lauper kurz nach Sade an der Reihe ist, und sie fetzt diese auf Dauer doch etwas selbstgefällige Jazzerei mit der ASMR-Stimme sowas von an die Seite: Money Changes Everything, damit startet das Album, und wenn man die Aufnahme mit dem dumpfen Original von The Brains vergleicht, kann man nur sagen: Was für eine fantastische Produktion, vom ersten Ton an reine Power, und wenn auch ihre Stimme nicht dauerhaft mein Fall ist, hier passt sie voll und ganz, und wie sie sich am Ende traut, richtig zu shouten und den einen Ton über mehrere Takte hält - großartig, das hilft mir morgens sehr beim Aufstehen.

(Mein persönliches Highlight aber ist das schräge Solo in der Mitte, das klingt wie mit zuviel Kraft in so eine Melodika geblasen. Vielleicht sollte ich doch noch ein Instrument lernen.)

--
*Kein eigener Plattenspieler

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