Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Freitag, 22. Mai 2009
Frostschicht Fantastico
nnier | 22. Mai 2009 | Topic In echt
Du sitzt in deinem Wohnklo wie auf einer Insel
Einsam abgeschnitten von der Welt
Keine Illusionen und keine guten Karten
Kein Ofen brennt so heiß dat er die Kälte von dir hält
(Geier Sturzflug)
Noch reichlich jung war ich, und, man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, noch nicht zu Tode gespielt der Hit, der Hit der Gruppe mit dem seltsamen Namen Geier Sturzflug, denn schon wenige Wochen darauf konnte man es nicht mehr hören, dieses von leichtem Echo und aufdringlichem Händeklatschen unterlegte "Wenn - früh - am - Morgen - die - Werkssirene dröhnt", es war einer dieser unvermeidlichen Ohrwürmer, Gegenwehr zwecklos, man ertappte sich selbst dauernd beim tumben Klatschen, und dann wurde es auch noch sofort und unwidersprochen als (affirmativer) Soundtrack zur Wende umgedeutet und vereinnahmt, Dieter "Thomas" Heck bediente sich seiner genau wie sein wirklich unsympathischer Wiedergänger in der Gestalt einer Zehn- oder Zwölfjährigen Kurzzeitberühmtheit, die an irgendeinem Kindertag im ZDF eine große Abendshow moderieren durfte und dabei so routiniert ZDF-ig herüberkam, wie andere es nach dreißig öffentlich-rechtlichen Jahren nicht schaffen, man konnte sich das eigentlich nur mit einer dieser Körpertauschgeschichten erklären, bei denen jemand in die Steckdose fasst und dann tauschen Vater und Sohn den Geist, der erwachsene Schauspieler muss dann etwa 75 min lang "cool" und "wow!" sagen und das junge Schauspieltalent muss ganz ernst gucken und keine Ahnung von "angesagten" "Stars" haben und sich in der Schule "voll" "blamieren", und am Ende verstehen die beiden sich dann voll gut und haben des anderen Probleme alle-alle gelöst und so weiter, Dieter "Thomas" Heck stand also im Körper dieses bedauernswerten Jungen im Saal und rief: "Wenn ich an die deutsche Wirtschaft denke, dann fällt mir neuerdings immer nur eine Handbewegung ein", legte das Mikrophon zur Seite, rotzte sich (trocken) in die Hände, rieb diese aneinander, sah sich beifallheischend um und erntete dann auch einen Rie-sen-Applaus, der nur noch von jener Extase übertroffen ward, die das Erscheinen der Ruhrpottband und ihrer heilbringenden Botschaft auslöste: "Wenn - früh - am - Morgen - die - Werkssirene dröhnt", aber das alles sollte ja erst noch kommen, noch reichlich jung war ich jedenfalls, als ich in Begleitung meines Schulkameraden D. und seiner Mutter einem Konzert dieser Band beiwohnte, das in der Göttinger Uni-Mensa stattfand.

Einer meiner unverwirklichten Träume: Ein Plattenladen. Wird eh nichts, dachte ich immer, und wäre es wohl auch nicht geworden, denn ich sah sie kommen und gehen. So auch Fantastico, den "gemütlichen Plattenladen Ecke Angerstr. / Gartenstr.", für den D. und ich eine Zeitlang Werbezettel verteilten. Anständige sieben Mark für die Stunde gab's, und wir verteilten die Zettel gewissenhaft in Briefkästen, klemmten sie hinter die Scheibenwischer parkender Autos und hielten sie in der Fußgängerzone Passanten entgegen, die sie nicht nahmen. Im tiefen Winter standen wir bibbernd am Markt und wärmten uns gelegentlich in der Hamburger Farm auf, wenn die Finger nicht mehr reagieren wollten. Beobachtetet wurden wir dabei von einer alten Frau, die irgendwann zu uns trat und verschwörerisch leise sprach: "Besorgt euch Petroleum. Ihr müsst Fingerhandschuhe nehmen und Petroleum hineingießen. Lasst das dann eine Stunde einwirken. Davon geht die Frostschicht ab. Wir haben früher auch so gefroren. Wenn wir im Winter draußen arbeiten mussten und geweint haben, weil die Finger so wehtaten, gab uns unsere Mutter Petroleum. Wenn man das oft genug macht, geht die Frostschicht für immer ab. Das müsst ihr machen!"

Das erarbeitete Geld zahlte der Inhaber des "gemütlichen Plattenladens" bar aus, bot uns aber auch an, in Schallplatten zu bezahlen, deren Verkaufspreis dann auch ruhig etwas höher liegen durfte - klar, dachte ich, sein Einkaufspreis liegt ja deutlich darunter, das kommt ihn insgesamt also günstiger, und für uns ist es auch gut. Doch gar so schnell konnte ich mich nicht entscheiden, nahm das Geld, "Ihr könnt's euch ja noch überlegen", sagte er, und wir freuten uns aufs nächste Mal. Allerdings gab es nur selten noch Zettel zu verteilen, egal, wie oft wir anriefen und nachfragten, bei unseren Besuchen war der Laden stets leer, einmal ging ich hin und wollte meiner Mutter die Platte "Heiße Zeiten" von Geier Sturzflug zum Geburtstag kaufen, "Ich hab's mir überlegt, ich nehme jetzt doch diese Platte", sagte ich, und er tippte den regulären Verkaufspreis in seine Kasse, ich traute mich nicht, ihn an sein Angebot zu erinnern, zahlte und fragte nach einem neuen Termin zum Verteilen, "Nur einmal noch, nächste Woche", das fand ich schade, war er vielleicht nicht zufrieden mit uns, und warum sah der eigentlich so traurig aus, und die Zettel, die wir dann verteilten, die letzten, waren mit "Räumungsverkauf" überschrieben.

Die Oma kam dann wieder vorbei, sie betrachtete unsere dunkelroten Finger und sprach mit ihrem rätselhaften Lächeln: "Ihr müsst Petroleum nehmen! Das macht die Frostschicht ab!"

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