Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Montag, 23. März 2009
Didi & Stulle
nnier | 23. März 2009 | Topic In echt
Ich liebte ein Mädchen in Wannsee
Die konnt kein nackten Mann sehn
Ich liebte ein Mädchen in Wedding
Die wollte immer nur Petting
(Die Fröhlichen Insterburger)
Ende der 80er, nach dem Abitur, zogen einige meiner Nächsten nach Berlin. Ich fuhr auch manchmal hin. Aber im Gegensatz zu ihnen blieb ich dann nicht, ausgerüstet mit kaum mehr als einer Zahnbürste, einfach da, sondern war immer nur auf Besuch und fand früher oder später meinen Weg zurück nach Westdeutschland.

Es waren Zeiten, in denen man noch viel von der gerade stattfindenden "Wende" merkte, in denen auf rußgeschwärzten Fassaden im Ostteil der Stadt plötzlich schreiende "McPaper"-Schilder auftauchten, die glänzenden Läden wie Fremdkörper in der heruntergekommenen Bausubstanz, daneben stand gerne auch mal "CDU" an eine Wand gesprüht und reichlich billiger Wohnraum überall zur Verfügung. Wenn man nicht gleich in einem besetzten Haus lebte. Einmal ging ich zum Frisör, 5.- DM kostete der Schnitt und sah dann auch so aus: Der bullige Schnippler wetzte seine angsteinflößenden Messer und schabte mir damit derart nachdrücklich über Nacken und Seiten, dass ich auf Nachfragen oder Diskussionen konsequent verzichtete. "Komische Frisur hast du", sagte mein Gastgeber später, nachdem ich mit einer Tüte Brötc Schrippen zum mittäglichen Frühstück zurückgekehrt war, deren Stückpreis von 12 Pfennig mich innerlich kichern, eine alte Ostberlinerin hingegen laut wehklagen ließ: "Das teure, neue Geld!"

Mit einer solchen Frisur in besetzten Häusern zu verkehren, half nicht gerade dabei, dort wohlwollend aufgenommen zu werden, herrschte doch eine tiefgreifende Paranoia gegen "Zivis" und "Spitzel". (Obwohl, dachte ich immer, wenn ich doch ein solcher wäre, würde ich dann mit Fassonschnitt ...?) Aufgrund persönlicher Kontakte schließlich dennoch eingelassen, wurde man reichlich misstrauisch beäugt: Woher man denn käme, was man hier wolle, und es seien übrigens gerade "dreißig Wannen", also Mannschaftsfahrzeuge der Polizei, auf der Autobahn gesichtet worden, die Räumung stehe deshalb unmittelbar bevor. Man fand dann irgendwo einen Platz zum Schlafen, mit Glück auch behelfsmäßige sanitäre Anlagen und manchmal einen Kohleofen. Mehr Aufwand als in die Instandbesetzung schien aber in den Aufbau gewaltiger Verteidigungsanlagen gesteckt worden zu sein. Mit Schrecken sah ich z.B. einmal eine Tür, die oberhalb einer Treppe so hingelegt und verkeilt worden war, dass man sie durch Herausziehen einer Holzlatte senkrecht herunter- und den erwarteten Angreifern entgegenstürzen lassen konnte, samt der zahlreichen Ziegelsteine und rostigen Eisenträger, die man obendraufgestapelt hatte.

Die Bewohner konnten so das Treppenhaus natürlich selbst nicht nutzen; als Eingang wurde, wenn ich mich recht erinnere, ein Fenster im ersten Stock verwendet (die unteren waren verrammelt oder zugemauert worden). Man bekam eine Strickleiter oder so etwas heruntergelassen, wenn man das richtige Codewort wusste.

Auf weniger martialische Weise beeindruckten mich gigantische Fabriketagen, die leerstanden und die man ebenfalls besetzt oder günstig gemietet hatte. Auch wenn ich mich selbst nie zu einer solchen Lebensweise entscheiden habe, war ich hingerissen von dem vielen Platz und den tollen Möglichkeiten, sich einfach einen Claim abzustecken und diesen als Atelier, Spiel- oder Sportplatz zu gestalten. Und auch die ganz normalen Wohnungen, die Studenten in Zweier-WGs bewohnten, waren groß und schön - viele hatten Stuck an den sehr hohen Zimmerdecken.

Eine solche WG bewohnte ein lieber Freund, den ich einige Male besuchte. Ich wunderte mich immer, wie schnell man als Zugezogener anscheinend in Berlin heimisch werden konnte. Und das nicht nur, weil auch gestandene Hochdeutsche sofort "wa" und "dis" sagten und wie selbstverständlich von "36" und "61" sprachen, als gehöre die geographische und vor allem soziokulturelle Gliederung Kreuzbergs zum Weltwissen der Siebenjährigen. Sie schienen sich wohlzufühlen dort, wussten, wo man abends hingehen konnte, kannten viele Menschen und wirkten sehr großstädtisch.

Worauf läuft das hier denn wieder hinaus, höre ich Sie fragen. Dazu folgendes: Ich lasse mich nicht unter Druck setzen, und wenn ich Lust habe, dann flechte ich auch noch ein Kochrezept ein. Oder, stop: Ich hab's! Kennen Sie das, wenn man nachts plötzlich einen überwältigenden Hunger bekommt? Bei mir geht's in den letzten Jahren wieder, aber einige Zeit, samama von fuffzehn, sechzehn an bis vor fünf oder drei Jahren, war's echt schlimm. Da habe ich sogar mal einen Kameradendiebstahl begangen. Ich war mit einem Freund und Zivildienstkollegen auf einer Bildungsveranstaltung. Wir damals, wir mussten ja zwan-zig Monate! Und die wurden uns am Ende doch ziemlich lang. So freuten wir uns, als wir erfuhren, dass man das Anrecht auf einmal Bildung hatte, und meldeten uns irgendwofür an. Da waren auch so Punks zugegen, die am ersten Abend gleich laut und lustig Bier tranken. Und wir gingen gegen Mitternacht auf unser Zimmer, sprachen noch über dies und das, u.a. über die Punks, die "bestimmt noch feiern" und "morgen früh garantiert nicht pünktlich zum Seminar erscheinen" würden. Irgendwann, ich schlief tief und fest, hämmerte jemand gegen die Tür und rief: "Aufstehen! Ihr habt das Mittagessen verschlafen!", was mich erheblich nervte. Ich drehte mich um und murmelte: "Jene tumben Trunkenbolde haben nun Stund um Stunde dem Alkohol gefrönt, gehen schändlich spät ins Bett und finden gar billiges Vergnügen darin, uns, zwei rechtschaffen müde Gesellen, mit solch grotesk übertriebener Alberei zu tollschocken. 'Mittagessen verschlafen' - ich meine, hey!"

Andererseits, überlegte ich in den folgenden Minuten, gewisse Unregelmäßigkeiten in deiner circadianen Periodik sind nicht von der Hand zu weisen, wer weiß, vielleicht ist, obzwar gefühlt noch tiefste Nacht, es tatsächlich schon bald Zeit zum Frühstücken? Und ein reichliches Frühstück brauchst du unbedingt, denn schon um 8:30 beginnt das Seminar! Todmüde quälte ich mich also aus dem Bett und öffnete den Fensterladen. Die Sonne stand tief im Westen. Wir hatten das Mittagessen verschlafen.

Nun muss man wissen, dass mein Zimmer- und Zivildienstgenosse ein Mensch war, der Unmengen an Nahrung aufnehmen konnte. Und auch ich habe immer gut zugelangt, auch wenn man mir das nun wirklich nicht ansieht. Sagen sie immer alle. Einmal, da waren wir nach einer zweiwöchigen Pause zum ersten Mal wieder in der Nordmensa, das war die beste Mensa, die hatten da tolle Sachen! Und so Aktionen. Lachs- und Spargelwochen zum Beispiel. Und wir kamen nach dem zwei Wochen zur Kasse, wo die Kassiererin, ohne uns anzusehen, nur mit Blick auf unsere völlig überladenen Tabletts, sprach: "Ihr wart aber lange nicht da!"

Panisch zogen wir uns an, rannten in die Küche des Tagungshauses und müssen dort einen so jämmerlichen Eindruck vermittelt haben, dass die mütterlichen Instinkte der Küchenfrauen massiv angesprochen wurden und man uns mit Übriggebliebenem päppelte. Später erfuhren wir, dass es um 18:00 Abendessen gebe. Dies trieb mir den Schweiß auf die Stirn, und auch mein Kollege sah ganz blass aus. Wie sollte das denn gehen - von einem so frühen Abendessen bis zum nächsten Morgen? Wir beratschlagten kurz und gingen nach dem Abendessen erneut zu unseren Freundinnen in die Küche. Sie gestatteten uns lächelnd ("Jungs! Ts!"), noch einige Graubrotscheiben mit Scheibenkäse zu belegen und mit Teewurst zu beschmieren, auch ein paar Tomatenhälften waren noch da, so dass wir halbwegs beruhigt mit in Papierservietten eingeschlagener Notration das gemeinsame Zimmer betreten und unsere Vorräte verstauen konnten.

Ich schlief früh ein, wachte zu unbestimmter Zeit im Dunklen auf, befand mich alleine im Zimmer, verspürte Hunger und aß gierig meine Brote. Mein Kollege, so vermutete ich, musste mit den anderen noch irgendwo ein Trinkgelage halten. Das ich ihm auch von Herzen gönnte, ich hingegen war zu müde und wollte lieber einmal richtig ausschlafen. Leider nagte weiter der Hunger an mir. Und, ich mach's kurz, ich habe nicht an mich halten können, nahm nach einer halben Stunde des inneren Kampfes sein Paket und aß seine Brote. All dies fand nicht im Schützengraben oder Lazarett nach Monaten des Mangels statt, nicht in der Wüste oder auf dem beschwerlichen Weg zum Pol; nein, es reichte eine Nacht, um mich zu solchem moralisch verwerflichen und durch nichts zu rechtfertigenden Handeln zu verleiten. Ist es da ein Wunder, dass ich so schlecht von den Mensc

Nachthunger war es auch, der mich beim Berlinbesuch in der Wohnung meines Gastgebers von tiefster Dunkelheit umgeben zum Kühlschrank taumeln ließ, ich tastete mich langsam und vorsichtig voran, was in fremden Wohnungen eine durchaus anspruchsvolle Tätigkeit ist, wollte ja auch niemanden wecken, fand in der Küche den auf dem Boden stehenden Kühlschrank, öffnete ihn mit klopfendem Herzen und sondierte gerade den Inhalt, als von der Tür aus, seitlich von mir, ein herzliches Lachen ertönte. "Du siehst aus!", rief der gute Mensch, und diesmal bezog er sich nicht auf meinen militärischen Haarschnitt. Nein, erklärte er unter Tränen, es sehe so komisch aus, wie ich da stünde, aus dem Kühlschrank schräg von unten angeleuchtet, mit wölfisch-hyänenhaftem Gesichtsausdruck.

Ach Mensch! Nun bin ich gar nicht dazu gekommen, von Didi & Stulle zu erzählen. Mach ich dann irgendwann mal.

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Samstag, 21. März 2009
Seven Year Bitch
nnier | 21. März 2009 | Topic In echt
- Gibt es etwas, das Sie uns zum Abschluss sagen wollen? Gehen Sie mit einer positiven Erinnerung an die Firma?
- Ich hatte hier super Kollegen.
- Äh. Und die Firma?
- Wie gesagt, auf die Kollegen lasse ich nichts kommen.

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Donnerstag, 12. März 2009
Ersatz gesucht
nnier | 12. März 2009 | Topic In echt
Gehen wir's an. In wenigen Tagen ist's ohnehin vorbei mit dem Gesöff aus der Melittamaschine, die letzten Coins wollen noch verbraucht, eventuelle Überbleibsel an an zukünftige Exkolleginnen vererbt werden oder ins Schatzkästlein der Erinnerung wandern.







Ersatzkaffee. Testen wir uns also in den folgenden Monaten durchs Angebot. Beginnen wollen wir mit einer Dose Biogran Landkaffee, einem Kaffeesurrogatextrakt, seit knapp 2 Jahren abgelaufen, so dass das eigentlich feinstaubige Pulver deutliche Zeichen der Verklumpung aufweist.

Wir geben 2 gehäufte Kaffeelöffel in eine Bechertasse, rühren gewissenhaft um und achten besonders darauf, dass die Klümpchen sich auflösen. Diese, davor sei schon vorab gewarnt, nehmen sonst eine lakritzartige Konsistenz an und setzen sich in jeden verfügbaren Zahnzwischenraum, um von dort aus unangenehme Zichorie-Aromen zu verströmen.

Das Getränk färbt sich erwartungsgemäß dunkelbraun bis schwarz, der Duft ist kräftig, auf der Oberfläche bildet sich eine Andeutung von Schaum.



Geschmacklich kann das Produkt durchaus punkten. Zwar hat es mit Kaffee nichts zu tun, doch durchaus kräftige Röstnoten zu bieten. Die Bitterstoffe kommen zu ihrem Recht, ärgerliche Süßungsmittel sind offenbar nicht enthalten, so dass davon auszugehen ist, dass sich das Produkt nicht in erster Linie an eine kindliche Zielgruppe richtet - ein Eindruck, der im übrigen auch durch die Gestaltung der Verpackung unterstrichen wird.

Auf einer Skala von 10 ("Oh mein Gott! Jetzt nicht aufhören!") bis 1 ("HUALP!") geben wir dem Biogran Landkaffee eine solide 4 ("Knäckebrot soll ja auch gesund sein").

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Mittwoch, 11. März 2009
Urks
nnier | 11. März 2009 | Topic In echt
Aus dem Fenster sah ich eben drei kleine Jungen auf der Straße herumtollen. Sie rasten begeistert mit ihren Rollern durch die Gegend und jagten sich. Dann verbargen sie sich hinter den parkenden Autos und riefen: "Deckung! Er hat eine Bombe! Amok! Amok!"

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Dienstag, 10. März 2009
Wildfremde lagen sich lachend in den Armen
nnier | 10. März 2009 | Topic In echt
Ich stand mal an der Tankstelle, als ein sonnenbebrillter toller Hecht seinen aufgemotzten Turbo hinter mir extrem aufheulen ließ, mit quietschenden Reifen an mir vorbeiraste und dem ich, die Zapfpistole in der Hand, fassungslos hinterhersah.

Ich kannte einen, der musste abends stundenlang mit dem Auto um den Block fahren. Nur so, erklärte er, und nicht anders schlafe sein Kind irgendwann ein.

Auch die anderen Tankstellenkunden waren sehr erschrocken. Man sah sich stirnrunzelnd, kopfschüttelnd an, während der Wagen auf der Hauptstraße weiter beschleunigte.

Ich kannte einen, der ist von keinem Wecker aufgewacht. Vor wichtigen Terminen, wenn er unbedingt früh aufstehen musste, schloss er den Staubsauger an eine Zeitschaltuhr an. Das Geräusch habe ihn schon als Kind zuverlässig aus dem Bett gejagt, wenn die Mutter am Samstagmorgen durch sein Zimmer kam.

Man hörte dann einen ganz lauten Knall. Der Hecht war an der roten Ampel auf ein stehendes Auto gerast.

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Sonntag, 8. März 2009
Zzz
nnier | 08. März 2009 | Topic In echt
Das brennt dir voll die Fresse weg, Alter!
Ich bin mal wieder im Kino eingeschlafen. Das alles hat seine Wurzeln in jener Zeit, als ich nachts arbeitete und überladene Kleintransporter durch Harz und Eichsfeld jagte. Tagsüber schlief ich. Wenn ich gegen Abend erwacht war, geduscht und Kaffee getrunken hatte, fuhr ich in die Stadt, um in der Innenstadtmensa das warme Abendessen zu frühstücken. Dann begann der nächtliche Arbeitstag. Aber das erzähle ich ein andermal.
Das gibt'n Donnerschlag!
Hatte ich mal frei und war zum Kino verabredet, geschah es in dieser Zeit fast sicher, dass ich während des Films einschlief. Mein Rhythmus war ein anderer. Ich genoss es geradezu, mich von der Dunkelheit umfangen zu lassen, die Sitze waren weich und bequem, und langsam verlor ich die Filmhandlung aus den geschlossenen Augen, hörte noch ein Weilchen zu und schlummerte ein. Manchmal legte ich mich dann quer zu den Sitzen auf den Boden. Doch, der Film habe mir gut gefallen. Nein, das hätte ich nicht mitbekommen, da hätte ich schon geschlafen. Doch, es sei ein schöner Abend gewesen, gerne wieder, versicherte ich regelmäßig und meinte es auch so.
Wir sind doch leise!
Kino und Schlafen, eine Kopplung, die sich auch nach all den Jahren nicht so einfach lösen lässt. Bei David Lynchs Inland Empire bin ich am Ende weggenickt. Beim Baader Meinhof Komplex waren meine letzten Gedanken: "Oh nein ... jetzt kommt auch noch die ganze Landshut-Entführung ...", bevor ich entschlief. Und nun habe ich Watchmen gesehen. Die Vorlage ist einer der ganz wenigen Superheldencomics, mit denen ich etwas anfangen konnte. Und auch als Film hat's mir insgesamt gefallen. Dennoch musste ich mir die entscheidenden Zusammenhänge erzählen lassen, denn ich bin während des finalen Showdowns eingeschlafen.
Was willst du denn, komm mit nach draußen!
Der Film ist allerdings auch sehr lang und hat eine Pause. Und wenn zwei Minderbemittelte im riesigen Saal sitzen, sich penetrant und laut unterhalten, auf freundliche Hinweise aggressiv reagieren und einem die erste Hälfte des Films doch halbwegs versauen, braucht man nur abzuwarten. Denn dann geht das Licht zur Pause an.
- Wie, ist der jetzt vorbei?
- Komisches Ende!
Sie sind wirklich nicht wiedergekommen. Und so habe ich einen ziemlich guten Film mit entscheidenden Schwächen gesehen. Bis ich eingeschlafen bin.

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Montag, 2. März 2009
Barfuß zum Nordpol: Baden, Baden
nnier | 02. März 2009 | Topic In echt
[Fortsetzung]
Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann
Und sein Zuhause ist die Autobahn
Uuuuh-uhuhuuuu-uhuhuuuuuu
(Gunter Gabriel)
Mein Opa kaufte uns LPs mit dem Titel Wim Thoelke präsentiert: Stars und ihre goldenen Hits. Denn von jeder verkauften Schallplatte gingen 2,50 DM an die Aktion Sorgenkind. Die Ausgaben von 1975 und 1976 hatten wir von ihm bekommen, so meine ich, während ich die von 1974 erst etwas später bei meinen anderen Großeltern in dem großen Album entdeckte. Sie besaßen nämlich ein mit beigebraun gemustertem Kunstfell überzogenes Album, größer und dicker als ein Fotoalbum, darin durchsichtige PVC-Hüllen, in die man Schallplatten einlegen und dann durch die Sammlung blättern konnte. Non Stop Dancing, Heimwehmelodie, Platten von Heino und Mozarts Zauberflöte befanden sich darin.

Bei uns standen die LPs in zwei Würfeln aus dunklem Holz auf dem Fußboden. Es waren nicht sehr viele; und besonders gerne und häufig hörten wir in dieser Zeit die beiden Wim-Thoelke-Platten. Es schien mir ein Naturgesetz zu sein, dass auf solchen Platten je ein Lied von Heino, Udo Jürgens und Mireille Mathieu vertreten sein musste, auch Tony Marshall, Jürgen Marcus und Michael Holm gehörten eindeutig zum Inventar. Aber das alles war nichts gegen den einen: Gunter Gabriel. Hey Boss, ich brauch mehr Geld und vor allem der Dreißigtonner Diesel hatten es mir wirklich angetan. Seine Stimme strahlte eine Verwegenheit aus, die mich beeindruckte. Er hieß auch nicht schnöde Günter oder Günther*, nein, die Abwesenheit der Umlautpünktchen ließ den Namen gleich viel ursprünglicher und rauher wirken. Und dann diese Texte aus dem echten, harten Leben - dagegen kam Johnny Hill mit seinem Tränendrücker wirklich nicht an:
Dies ist ein Lied für dich, mein Freund,
der du Tag für Tag mit einem Laster
auf der Straße liegst,
Junge, für dich habe ich dieses Lied geschrieben!
Es war spät geworden an der spanisch-französischen Grenze. Einer dieser modernen Helden, ein Kapitän der Landstraße, nahm uns dann schließlich mit und versprach hoch und heilig, bis Deutschland durchzufahren. Beeindruckt von der gut ausgestatteten Fahrerkabine, vor allem aber sehr erleichtert, nahmen wir also Platz und verbrachten eine Nacht on the road. Während der Fahrer des Lastzugs sich beim Fahren routiniert Kaffee kochte (man kann gut mit den Knien lenken), per CB-Funk mit seinen Kollegen sprach (es war genau wie in den Liedern!) und zwischendurch Geschichten erzählte (wie z.B. die von seinem letzten Unfall), hatte ich gegen die etwas beengten Platzverhältnisse rein gar nichts einzuwenden, denn ich habe ja schon angedeutet, dass mir meine Reisegefährtin durchaus (Au! Au! Das ist doch schon so lange - au!)

Er sei jede Woche von Sonntagabend bis Freitagabend unterwegs, am Wochenende aber daheim bei Frau und Kind, deren gerahmtes Fotografenfoto wie andernorts auf dem Bürotisch hier eben auf dem Armaturenbrett stand. Doch wenn er mal Urlaub habe, stehe er schon drei Tage vor dem Ende wieder "auf dem Hof" und bringe seinen Lastzug auf Vordermann, es jucke ihn dann einfach, da helfe nichts. (So unter Kollegen verstand ich das übrigens genau, schließlich hatte ich auch schon mal einen Transit gefahren).

Der Lastzug rauschte durch die Nacht, es war gemütlich, an der französisch-deutschen Grenze mussten wir die Pässe vorzeigen, meine sanft schlummernde Begleitung gab mir den ihren in die Hand, ich hielt beide hinaus, der Grenzer gab sie mir kurz darauf zurück, der LKW fuhr weiter, wir hatten Deutschland erreicht!

So groß meine Freude darüber auch war, das böse Land unbeschadet hinter mir gelassen zu haben, es mischte sich doch eine leise Melancholie hinein. Vielleicht war es nur die Müdigkeit, vielleicht aber auch das Bedauern darüber, dass die Wege der beiden, ähm, Heimreisenden (ich kann hier nicht ganz frei sprechen) sich bald trennen würden, denn, so hatte sie erzählt, sie würde zunächst in Süddeutschland bleiben und von dort aus noch eine Woche nach Österreich fahren. Die Zeichen standen auf Abschied.

Doch zuvor gab es noch einige frühe Morgenstunden an irgendeiner Autobahnraststätte zu überstehen, die der Fahrzeuglenker relativ unvermittelt mit den Worten: "Ich muss jetzt unbedingt schlafen!" angesteuert hatte. Er wolle maximal zwei Stunden schlafen, schärfte er uns ein, "weckt mich dann um jeden Preis, egal was ich sage, ich muss UNBEDINGT weiterfahren, EGAL, WAS ICH SAGE!"

Die zwei Stunden vergingen irgendwie, man klopfte also an die Fahrertür, hämmerte an die Tür, nichts geschah, man stieg auf den riesigen Reifen und schlug gegen die Seitenscheibe, bis der Fahrer sich plötzlich erhob und wutentbrannt losschrie, was denn sei, ob wir denn TOTAL VERRÜCKT seien, er müsse UNBEDINGT SCHLAFEN, wir sollten sofort VERSCHWINDEN und ihn IN RUHE LASSEN!!! EGAL, WAS ICH VORHIN GESAGT HABE!

Zurück in der Raststätte beratschlagten wir; es wurde hell, man könnte eigentlich versuchen, anders weiterzukommen. Die Idee war nicht schlecht, nur: unser Gepäck befand sich im LKW. Nachdem ich eine weitere Stunde damit verbracht hatte, genug Mut anzusammeln, startete ich also den nächsten Versuch. Ich klopfte und machte möglichst viel Lärm, bis der Fahrer aus dem Schlaf hochschrak und mich verwirrt anstarrte. Ich erklärte ihm die Lage, er sah erschrocken auf die Uhr, schimpfte los, dass wir ihn doch hätten wecken sollen, das habe er doch gesagt, bot uns an, uns noch ein Stück mitzunehmen und tat das dann (nach ausgiebiger Morgentoilette im Rasthaus) auch.

Als er uns an irgendeiner Raststätte hinausließ, war endgültig klar, dass die Wege der Reisenden sich nun würden trennen müssen, die Reisende bekam recht schnell einen Lift in ihre südliche Richtung, der Reisende deutlich später einen in die ganz grob nördliche Richtung, bis zur Raststätte Baden-Baden - immerhin! Wo er nach ein paar Stunden in die Autobahnkirche ging, um Trost zu suchen, verzweifelt angesprochene Autofahrer sich um keinen Preis erweichen ließen, die Abenddämmerung hereinbrach, es windig und eiskalt war, er schließlich einen Querfeldeinmarsch dorthin begann, wo er die Stadt Baden-Baden vermutete, sie irgendwann auch fand, dort den Bahnhof ansteuerte und sein allerletztes Geld für ein Zugticket ausgab. Barfuß war der Nordpol einfach nicht zu bezwingen, nächstes Mal würde er die Badelatschen mitnehmen.


Epilog

Mit der Bahn fuhr ich in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, fand mein Elternhaus leer vor und gab mich dort ausgiebig der Badewanne hin. Danach schlief ich einen Tag durch. Alles war gut.

Es gab da allerdings jemanden, an den ich in den folgenden Tagen viel denken musste, und als das Telefon klingelte und sie ihren Namen nannte, wurde mir gleichzeitig heiß und kalt. Woher kannte sie die Nummer? Und warum rief sie an? Wollte sie nicht nach Österreich? Sollte das etwa heißen ... ? Immerhin musste sie sich große Mühe gegeben haben, herauszufinden, wo ich war und wie man mich erreichen konnte! [Kids: Das war weit vor Internet und Handy.]

Ich war noch nicht ganz fertig damit, meiner Freude über diesen unerwarteten, unverhofften Anruf gebührenden Ausdruck zu verleihen, da klangen aus dem Hörer die folgenden, unvergesslichen Worte:

"Du Idiot hast meinen Reisepass!"

--
*"Gunter Gabriel (* 11. Juni 1942 in Kirchlengern/Westfalen; eigentlich Günther Caspelherr) ..."

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Sonntag, 1. März 2009
Cold Turkey
nnier | 01. März 2009 | Topic In echt
In meinem Elternhaus war der Kaffee immer recht stark. Trotzdem gab es mal jemanden, der wie selbstverständlich sein Glas Nescafé aus der Jackentasche holte und in den frisch gebrühten Filterkaffee noch zwei, drei Löffel Instantpulver hineinrührte. Das war ein Herr, der als Bewohner einer psychiatrischen Einrichtung einer ständigen medikamentösen Sedierung ausgesetzt war und gelernt hatte, dem etwas entgegenzusetzen.

Ich kenne auch jemanden, der mir von seinen regelmäßigen Wochenendkopfschmerzen berichtete, und dass er irgendwann gemerkt habe, dass es sich um Koffeinentzug handelte.

Es ist soweit. Ich kann es nicht mehr leugnen. Da hilft kein Alibi-Kräutertee. Ich schiebe den Affen. Ob ich mit Aspirin substituieren soll?

(Für Mutige, d.h. nicht für Herrn vert.)

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Donnerstag, 26. Februar 2009
Barfuß zum Nordpol: Macchia
nnier | 26. Februar 2009 | Topic In echt
[Fortsetzung]
Tres conejos
En un arbol
Tocando
El tambor.
Que si
Que no
Que si.
Lo he visto yo.
(Aus Paul McCartney's Liverpool Oratorio)
Man darf sich das durchaus angenehm vorstellen. Drei Wochen Spanien, das war bezahlbares Essengehen im Nachbardorf, Kaninchen mit Knoblauch und Thymian und Rosmarin, herrlich, auch der Rotwein aus der Kooperative und die Fortuna-Zigaretten waren erschwinglich, man spielte Schach oder Doppelkopf, lernte ein wenig Spanisch, gut, und dass ich den Gastgeber und Spanischlaiendozenten auf Basis meiner kümmerlichen Schulkenntnisse gelegentlich korrigieren musste, schien er mir prinzipiell verzeihen zu können. Mir hätt's ja egal sein können, ich hätte ja still sein können und nichts zu riskieren brauchen, bittschön, dann lernt eben was Falsches, aber, wenn reflexive Verben ausgerechnet am Beispiel von me gusta, te gusta etc. erklärt werden, dann kann ich meinen Mund eben doch nicht halten und muss diskret räuspernd und in Frageform vorsichtig meine Bedenken äußern, gustar, das sei doch gar kein reflexives ... doch, das konnte er akzeptieren, war auch insgesamt ein fairer und angenehmer Gastgeber, lediglich zu früher Morgenstund, also bis zum Mittagessen, wortkarg, missgelaunt, dünnhäutig, und wenn man über seine endlos dahingegrummelten Motzereien zum Thema Margarine, die schmecke ja "beschissen", die sei ja "eklig", wer denn die gekauft habe, die schmecke ja "wie aus Erdöl gemacht", irgendwann lachen musste, blickten einen zwei reichlich humorlose Augen sehr durchdringend an. Oder wenn er einem ausführlich den Weg zu einem ungenutzten Acker erklärt hatte, auf dem es überreichlich Macchia gebe, die man sehr gut als Feuerholz nutzen könne, man dann mit dem Auftrag hingefahren war, nicht mehr als einen Kofferraum voll zu holen, dann zwei Stunden lang vereinzelte dürre und grüne Zweiglein aufgesammelt hatte und doch nur mit wenig mehr als einem Arm voll Holz wiedergekommen war, dann verfinsterten sich Miene und Stimmung ziemlich drastisch; wobei auch andere Menschen ihre Eigenheiten hatten, der eine wollte früh schlafen und der andere lange feiern, der eine im Morgengrauen aufstehen und der andere unter der Mittagssonne frühstücken, das Übliche halt, kleine Psychosen und große Neurosen gaben sich das mir aus Gemeinschaftsurlauben bereits vertraute Stelldichein, Futterneid, Eifersucht, man kennt das ja alles, und auch ich begann eines Morgens beim Abwaschen, welches mir durch Druckbeschallung mit Iron Maidens Run to the Hills wesentlich leichter von der Hand zu gehen schien, angesichts der missgelaunt herüberschauenden Gesichter, vor allem aber des dramatisch verringerten Messerbestandes im Besteckkasten, mich zu fragen, ob man sich für die letzten Tage evtl. bewaffnen solle. Außerdem ließ sich das Thema der Rückreise langsam nicht mehr verdrängen, denn nach wie vor standen für zwei Personen keine Plätze in den Autos zur Verfügung, und während ich mich mit dem Gedanken anzufreunden versuchte, entgegen aller Schwüre evtl. doch wieder per Anhalter zu reisen, stand für mich fest: Keinen Fuß auf französischen Boden.

Eine der Reiseteilnehmerinnen, und zufällig die, die mir, sagen wir, sympathisch war (Aua! Da kannte ich dich doch noch gar nicht!), war entschlossen, sich auf folgenden Plan einzulassen: Wir stellen uns zu zweit an den Grenzübergang, wir warten gezielt auf Autos mit deutschen Kennzeichen, wir bleiben bis Deutschland zusammen, wir denken nicht mal darüber nach, irgendwo in Frankreich auszusteigen, wir fragen nach einem durchgängigen Lift bis auf deutschen Boden - ganz oder gar nicht, das war unser Motto.

Meine Tramper-Erfahrung hatte mich ja gelehrt, dass es gewisse geschlechtsspezifische, statistisch signifikante Unterschiede bei der Frage gibt, ob und wie schnell man mitgenommen wird. Nicht nur einmal hatte ich erlebt, wie nach stundenlangem Herumstehen eine vorzugsweise blonde Tramperkollegin erschien und den Daumen noch nicht ganz in der Luft hatte, bevor drei Autos quietschend bremsten und die Fahrer sich um den potentiellen Fahrgast stritten. Während man sich vorsichtig heranpirschte, wurden alle drei Türen wieder zugeknallt, die Autos fuhren weg - und aus einem winkte die Tramperin einem lächelnd zu. Ich konnte also durchaus realistisch annehmen, angesichts der Haarfarbe und insgesamt angenehmen Erscheinung meiner Mitreisenden (Aua! Wirklich, das war, bevor wir uns kannten!) auf eine erhöhte Mitnahmebereitschaft zu treffen. Und in der Tat hupten und grinsten in den ersten Stunden an der Grenze schätzungsweise zwanzig LKW-Fahrer, zeigten auf die, die sie gerne mitgenommen hätten, hielten manchmal auch an, sahen dann missmutig und enttäuscht zu mir herüber, versuchten wortreich zu erklären, wie gerne sie zwar, aber zwei Mitreisende, das ginge nicht, und fuhren dann alleine weiter.

[Bald ist Schluss]

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Montag, 23. Februar 2009
Du bist hoffentlich so heiß wie ein Vulkan
nnier | 23. Februar 2009 | Topic In echt
Meinen Kaffee trinke ich am liebsten ganz heiß. Genauer gesagt: Ich trinke ihn nur in Momenten größter Not anders.



Nichts stört mich mehr, als wenn der Kaffe nur warm ist. Das kommt gelegentlich vor - zum Beispiel, wenn man ihn in normalem Tempo trinkt. Dann kühlt er unweigerlich in der Tasse ab. Meistens lasse ich darum etwas übrig. Oder ich stürze das Zeug in mich hinein. Beides ist nicht sehr gesellschaftsfähig.



Manchmal habe ich die noch fast volle, aber schon zwei Minuten alte Tasse zum Aufheizen ins Mikrowellengerät gestellt. Was denn? Das ist immer noch besser als Kaffee, der nur warm ist! Dampfen muss der!



Man kann vorher heißes Wasser in die Tasse geben, dann nimmt sie schon mal etwas Wärme auf. Das ist besser als nichts.

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