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Nach sieben Jahren, im Winter, er konnte selbst nicht genau sagen, warum, da beschloss der Vogel eines Tages: Ich will nicht mehr zu dem Misthaufen fliegen. Und blieb weg.
Ein paar Vorräte brachten ihn über den Sommer, es war ein schöner Sommer, und wenn er an dem Misthaufen vorbeiflog, dann dachte er: Komisch, hier bist du jeden Tag hingeflogen und nun tust du es nicht mehr, und er fragte sich: Vermisst du denn gar nichts, und die Antwort war: Nein.
Jemand erzählte ihm dann, es war inzwischen Herbst, von einem viel besseren Misthaufen, kleiner war der und er roch nicht so übel, und die anderen Vögel da, die sollten alle ganz nett sein, und dann flog er wieder los, jeden Tag, wie früher, aber diesmal zu dem schöneren Misthaufen, und dann wurde es wieder Winter.
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Was mich betrifft, hatte er damit absolut recht, was ich ihm dann auch freundlich zu verstehen gab, verbunden mit der Frage, ob das denn ein Problem für ihn sei. "Jahaa! Ihr lagt da alle in den Windeln!", triumphierte er abermals und brachte damit eine gewisse Redundanz in die Konversation.
Und immer wieder ist es erstaunlich, wer alles die Beatles live gesehen hat, damals, in Hamburg, im Star Club, im Kaiserkeller, es müssen da Abend für Abend hunderte von Menschen gewesen sein, und immer andere, das würde sonst schon rein logistisch gar nicht hinhauen. Und wenn man dann nachts nach dem Konzert auf einen besoffenen Berliner trifft, der mit den Jungs großgeworden ist, obwohl er ja erst letztes Jahr nach Hamburg gezogen und ansonsten "waschechter Westberliner" ist, dann überrascht einen das nicht wirklich, denn es kann ja sein, dass er insjeheim doch schon vorher mal in Hamburg war und da mit den Jungs großgeworden ist. Man sollte so etwas nicht in Frage stellen, einerseits aus Respekt vor den Menschen und andererseits auch wenn es späte Nacht ist und man nach dem Konzert an einer Ampel, die einfach nicht grün werden will, endlose Minuten verbringen muss mit einem absoluten Beatlesfan, der halt an dem Tag nebenan beim HSV war. Manchmal passt es eben gerade nicht, und weil niemand das besser versteht als ich, beantworte ich in solchen Fällen auch gerne und geduldig Fragen. Fragen wie: "Ich bin ja mit den Jungs großgeworden, ich habe die ja damals gesehen, aber ich sage auch: Minuspunkt, eindeutiger Minuspunkt, Herr McCartney, das ist Ihnen wohl zu Kopf gestiegen. Ich meine, Hamburg hat die Jungs großgemacht, und da hat der Herr McCartney keine Zeit für den Bürgermeister. Keine Zeit, mal ins Goldene Buch zu schreiben. Bricht dem denn da ein Zacken aus der Krone. Da sage ich: So nicht. Ohne Hamburg wäre er NICHTS. Da könnte er in London oder Manchester oder ... oder ... oder Liverpool spielen und KEINER würde ihn kennen, ich meine, ist doch so. Und was hat er denn gespielt. Und hat er das gut gespielt. Und seine Frau, die war wirklich gut, ich meine nicht die mit dem appen Bein, sondern die mit beide Beine, vaschtehste. Genau: Linda, sag ich doch. Und was zahlt man denn für so ein Ticket. Wie bitte. Und ihr wart da zu viert. Zahlen Kinder die Hälfte - nicht!? - zweiter Minuspunkt, Herr McCartney. Meister, für das Geld machst du ja zwei Wochen Urlaub auf Mallorca mit Flug. Und was hat er denn für eine Band, das sind doch die Wings."
Auf diese Frage antwortete ich: "Hm, ja, hm", dann wurde es grün.
Einige Stunden vorher machte ich mir Gedanken über die Verwesung. Und zwar bin ich prinzipiell der Ansicht, dass der Mensch ein Recht auf Verwesung hat. Ich möchte niemanden daran hindern, zu verwesen, und wenn ich mal beschließe, zu verwesen, dann möchte ich schon jetzt eindringlich darum bitten, dass das respektiert wird.
Problematisch wird das Thema für mich dann, wenn ich in einem Rockkonzert von Menschen umgeben bin, die beschlossen haben, genau hier und jetzt zu verwesen. Innenraum, Bühnennähe, also dort, wo eigentlich Stehplätze sein müssten, das Konzert beginnt, man springt auf, drückt seine Begeisterung aus, und dann verwesen um einen herum plötzlich Menschen - das ist an sich schon eine merkwürdige Erfahrung, allerdings ließe sich das im Sinne eines pluralistischen Gesellschaftsideals (jeder nach seiner Fassong) durchaus tolerieren. Nun tritt das Verwesen aber inzwischen als Massenerscheinung auf, unmerklich ist aus der Minderheiten- eine Mehrheitsposition geworden, und die einstmals marginalisierte und viel zu lange nicht ernstgenommene Gruppe der Verwesenden stellt plötzlich massive Ansprüche: "Hinsetzen da vorne!", man schickt die Stasi in Gestalt einer strengen Hostess, die die Lebenden darauf hinweist, dass die Verwesenden einen Anspruch auf Verwesung haben, der auch durchgesetzt werden wird, hämisch lachen und applaudieren dann die Verwesenden, wenn die Lebenden ebenfalls niedergedrückt werden, eine Armee von Zombies, die gehässig in ihren Sitz gedrückt nach links und rechts schauen, wir haben bezahlt und wir haben ein Recht auf ein ungestörtes Verwesen, aber eine kleine Gruppe von Widerständlern hält dagegen, und wenn einer aufgeben will, reißen ihn die anderen wieder hoch, und sie halten sich gegenseitig am Leben, und die Strukturen der Verwesenden sind viel zu erstarrt, und plötzlich entsteht eine oppositionelle Bewegung, und dann waren sie hinterher plötzlich alle nie Verwesende und waren eigentlich schon immer auf der Seite der Stehenden, innerlich wenigstens.
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Nur mal angenommen. Also die berühmte Ladenkette DÖDL, die es in echt ja gar nicht gibt, habe sich gemeldet, und die seien ganz versessen darauf, nach Bahnfahrkarten nun auch Konzerttickets zum unschlagbar günstigen Preis anzubieten.
Hm, würde man dann wahrscheinlich erst mal fragen, hm, wie soll das denn nach deren Meinung funktionieren? Denn bei den Zugtickets sei das doch einfach so ein Heft gewesen, blanko, man habe doch einfach vor Fahrtantritt seine Strecke eingetragen, und meinen die etwa ...? Ja - genau, würde dann der Marketingmensch sagen, so in der Art wollen die das auch, nur halt mit Konzerten. Man sei bei DÖDL im übrigen bereits in Verhandlungen mit diversen deutschen Top-Acts. Und das solle wirklich eine ganz große Nummer werden, 50 Konzerte, die ganz großen Hallen, das sei auch praktisch alles schon organisiert, und über den Preis!, über den Preis!, da bekomme man die Hallen schon irgendwie voll.
Sei denn folgendes denkbar, das müsse doch gehen, früge der Marketingmann, also: Die Kunden kaufen bei DÖDL diese Blanko-Tickets, kaufen die wie Hulle, rechnen wir mal kurz aus: 50 mal eine große Halle, vorsichtig geschätzt: 500000 bis 1 mio. Besucher, und dann rufen sie an, und dann sagen sie, in welches Konzert sie denn eigentlich gehen wollen, und dann muss das eben irgendwieTM gemacht werden, das müsse doch gehen?
Hm, würde man dann vermutlich sagen, so stelle ich es mir zumindest vor: Wie man da denn die Auslastung steuern wolle, Angebot und Nachfrage würden doch nicht zwangsläufig zueinanderfinden, da seien doch einerseits die 50 gebuchten Hallentermine und andererseits potentielle 1 mio. Besucher, die sich nicht unbedingt genau so zurechtrütteln, wie es zu den Orten und Terminen passe?
Gut, all das ist rein hypothetischer Quatsch und wahrscheinlich auch eine zu absurde Idee, als dass tatsächlich jemand auf sie käme. Aber tun wir einfach mal so. Die Gedahanken sind frei.
Zähneknirschend wären also, nehmen wir nun mal an, Softwareprogramme umgeschrieben und Geschäftsprozesse angepasst worden, denn das schiere Volumen der erwarteten Ticketmassen und darüber hinaus der interessante Kooperationspartner DÖDL wären in meiner Phantasie Grund genug für einige Entscheider, die absurde Idee umzusetzen.
Käme dann irgendwann die Nachricht, wer der deutsche Top-Act sei, für dessen 50 Konzerte man die billigen DÖDL-Tickets (40.- im Doppelpack) zuhauf an den Mann zu bringen plane, kratzte man sich womöglich kurz am Kopf und überschlüge das Kundenpotential für blonde Barden, mit denen man schon in den 70ern im Fernsehen gesungen hat, aber bevor man richtig nachdenken könnte, käme dann eine große Pressekonferenz, auf der eben jener Barde seine vollkommen überraschende Bühnenrückkehr verkünden täte, diese sei ja ein ganz "dickes Ding", würde er grinsen, und das mit DÖDL, das passe wie die Faust aufs Auge, und da habe er die Journalisten jetzt wohl echt mal überrascht, und übrigens gebe es bei diesen Megakonzerten auch noch was mit Charity und so Kindern, so krebskranken Kindern, denen man Wünsche erfüllen werde, oh!, würde man da doch denken, oh!, der geht auf Nummer sicher, der will die Hallen wirklich füllen!
Man würde dann vermutlich nach drei, vier Wochen mal vorsichtig nachfragen: Wie viele Blankotickets seien denn inzwischen so verkauft? Keine Ahnung, das sagt uns DÖDL nicht, wäre wahrscheinlich die Antwort, aber angerufen, mit Wunschtermin und -ort, um blanko- in reales Ticket umzuwandeln, angerufen haben bisher ein paar hundert Kunden, es seien "jeden Tag ein paar". Und, so würde der Kollege nebenbei womöglich anmerken, ich war neulich selber mal bei DÖDL, man sieht da gar nichts, keine Werbung oder so, aber als ich gefragt habe, und als ich darauf bestanden habe, und als ich nicht lockergelassen habe, da hat die Frau irgendwo hinten nachgesehen und gesagt, ja, stimmt, diese Tickets, die haben wir.
Als regelmäßiger Leser der Knallpresse bekäme man dann wohl auch mit, dass der Barde einige Monate später noch nachlegen würde: Es laufe alles super, und um die Fans noch glücklicher zu machen, kämen sogar noch weitere Top-Acts dazu, einer sogar aus den USA, das Lied kennen Sie bestimmt, es geht so: Hmm-hm-hmmm-hm-hmmm-hmmm, und dann noch die eine Schlagersängerin, wissen Sie doch, kennen Sie doch, die Schwester von dieser anderen, die hatte doch in den 70ern mal so einen halben Hit! Ja, dächte man, das ist dann wirklich schön für die mehreren hundert Zuhörer, die vermutlich ziemlich gleichmäßig auf 50 Hallen verteilt wären, allerdings stellt sich auf Dauer doch auch die Frage der Finan -
aber schon läse man voller Schrecken die Schlagzeile der großen Zeitung: Zusammenbruch, Mist!, war alles so schön geplant - und dann bricht der Barde zusammen. Und wäre so gerne auf Tournee gegangen! Welch ein Unglück.
Man läse dann wohl auch ziemlich sicher so Geschichten wie: Der Amerikaner sei ganz schön enttäuscht und wolle sein zugesagtes Geld, und man habe ihm so viel versprochen und nichts eingehalten, und irgendwann kämen dann bestimmt auch solche Meldungen wie: Die Versicherung sei gar nicht so scharf darauf, den gesamten Ausfall finanziell zu tragen, ich meine: 50 Hallenmieten und die ganzen Mitarbeiter und Vorschüsse, das wären bestimmt ein paar Millionen Verlust, und dann würden die am Ende noch anfangen, das anzuzweifeln mit dem Zusammenbruch und so.
Aber andererseits ist diese ausgedachte Geschichte dermaßen blöd, dass ich Sie damit jetzt lieber mal damit in Ruhe lasse, denn da draußen, da wartet die Realität, komm in meinen Wigwam, Polenmädchen!
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Kaum aber sind die Gäste weg, findet ein merkwürdiger Attributionswandel statt. Unaufhaltsam. Statt sich nämlich an der verbliebenen Hälfte der eilig von der durchgebogenen Tafel abgeräumten Esswaren fröhlich zu laben, beginnt ein hektischer Wettlauf mit der Zeit: Sind genug Tupperschüsseln da? Der Kühlschrank ist zu klein! Hält sich das Tiramisu auch abgedeckt auf dem Balkon?
Und statt sich freudig zu fragen, welche der zehn Käsesorten jetzt die perfekte wäre, flüstert ständig jemand davon, dass "der gute Frischkäse vom Markt" nicht mehr lange hält und "bald weg muss", und dass aus der großen Tupperschüssel nur noch das Stück Pfälzer Leberwurst "weg muss", dann kann die Schüssel in die Spülmaschine, jippieh!
Du blöde Psyche, du! Das machst du mit Absicht! Du weißt genau, wie etwas schmeckt, das "weg muss"! UND WARUM FRAGST DU AUSGERECHNET JETZT NACH SCHEIBENGOUDA!?
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Dabei fand ich die Bässe als kleines Kind ganz furchtbar. Ich hatte richtiggehend Angst, wenn der Untermieter Musik hörte und lediglich die Basstöne bis in unsere Wohnung durchdrangen. Ob das die Sesamstraßen-Konditionierung war? Vermutlich nicht alleine; denn auch bei Derrick und noch schlimmeren Filmen werden gerne die ganz tiefen Töne gezupft, wenn's gruselig ist. Angst hatte ich aber komischerweise auch bei dem Lied El Condor Pasa von Simon & Garfunkel, das ist eine ganz frühe Erinnerung, vielleicht konnte ich noch nicht mal sprechen - ich höre dieses Lied entfernt aus dem Radio, und die vibrierenden Flöten jagen mir zusammen mit dem Umpah-umpah-Rhythmus und dem schaurigen, sinnlosen, jammernden Gesang peinigende Wellen der Furcht durchs Rückenmark.
"Der Bassist ist immer der coolste", hieß es irgendwo, und man muss zugeben, dass diese Geschichte schon mit Stuart Sutcliffe anfängt - man sehe sich mal die frühen Hamburg-Bilder an. Und während in den 70ern und 80ern die E-Gitarren-Machos manisch auf ihr Instrument eindroschen, stand der Bassist meist stoisch mit Sonnenbrille, gerne auch mit dem Rücken zum Publikum, bewegungslos da.
Der Bassist legt das Fundament, wie wichtig dieses ist, merkt man oft erst daran, wie erbärmlich ein Stück klingt, wenn man den Bass entfernt. Andererseits verkündete mir eine Dame kürzlich auf dem Konzert einer probefaulen Ramones-Coverband, nein, der Spruch gehe anders, in ihrer Heimat sage man: "Der Bassist ist immer der dümmste."
Ob ich älter würde, fragt Herr Stubenzweig, und die grausame Antwort lautet: Ja, ja, das kommt regelmäßig vor, erst neulich wieder, und die Friseurin ist wirklich nett, aber sie kann auch nichts machen, sie hält mir nach getanem Werk den Spiegel hinter den Kopf, und ich sage, ja, schön, prima, nur das da, in der Mitte da, da hinten da, das geht doch nicht, das können sie doch bestimmt auch anders, und sie lächelt und sagt, nein, wenn ich's könnte, würde ich's tun.
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Irgendwas hat sich verändert. Ich habe noch keine Tickets. Rein rational lässt sich nun rumargumentieren: jaah, die Preise sind sehr hoch und jaah, es gibt wieder nur Sitzplätze und jaah, das alles lässt sich gerade schwer mit dem sonstigen Leben vereinbaren. Aber hat mich das jemals abgehalten?
Irgendwas hat sich verändert. Es gibt schon seit einer Weile das neue Buch zu kaufen. Ich habe es noch nicht. Rein rational lässt sich nun rumargumentieren: jaah, das läuft nicht weg und jaah, als reiner Illustrator hat er mich nie so fasziniert wie mit seinen persönlichen und autobiograpischen Sachen. Aber hat mich das jemals abgehalten?
Ich will's nicht an die Wand malen. Vielleicht ist es ja nur der Herbst. Oder dieses eine graue Haar da neulich.
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Seit langem frage ich mich, warum ausgerechnet Tankstellen von Schmierereien so auffällig verschont bleiben. Dabei bietet sich das Logo einer bekannten Spritmarke gleich doppelt zum Übersprühen an, und vor Aufregung könnte ich mich wieder nicht entscheiden, und heraus käme ONAL.
Ich begleitete eine kleine Musikerin zum Instrumentalunterricht. Die Lehrkraft legte ein neues Notenblatt vor. "Kennst du Bizet?", wurde die Flötistin gefragt und verneinte dieses, woraufhin die nächste Frage lautete: "Aber was ein Bizet ist, das weißt du? Nicht?", ich wurde auch langsam neugierig und erfuhr: "Man kann es in der Bäckerei kaufen oder auch selbermachen, das ist aus Eischnee und Zucker!"
Die wollten plötzlich schick sein und schraubten so Plexiglasschilder in ihre Glasstahlmarmorbauten. Ich knibbelte mühsam ein "e" von der Rückseite und weidete mich innerlich am legasthenisch im Empfangsbereich prangenden "Fachbereich Psychologi". (Das war aber nichts, um Frauen herumzukriegen.)
Seit wann eigentlich trägt Karl-Heinz Rummenigge eine Brille?
"Hol dir Kraft", "Atme dich frei", "Fühl dich jung", "Träum schön", "Freu dich": Es gibt so tolle Teesorten, und was wird mir wieder eingeschenkt - "Wichs dir einen", na danke.
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Andererseits verhält es sich in meinem Fall so, dass ich z.B. die allermeisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler aus der Grundschule, die Lehrerinnen und Lehrer sowieso, mit Vor- und Nachnamen aufzählen kann, und ich bin doch oft überrascht, wenn ich erfahren muss, dass das nicht jedem so geht. Ich lese ein Buch oder einen Comic nach dreißig Jahren wieder und erinnere mich an bestimmte Stellen sehr genau, und das wäre ja auch alles schön und gut, gäbe es nicht auch so viel Peinliches, das eben nicht im gnädigen Dunkel der Amnesie versinkt wie offenbar bei vielen anderen, die, das sei mal deutlich gesagt, auch genug Grund hätten, sich mal gepflegt in Grund und Boden zu schämen. So eine gelegentliche Amnesie ist manchmal ganz praktisch, wenn man plötzlich seine Persönlichkeit wandelt, dann braucht man sich nicht um sein dummes Geschwätz von gestern zu kümmern, ich meine: nichts gegen neue Erkenntnisse und gewandelte Sichtweisen, nicht wahr, Kopf rund Gedanken Richtung, komisch kommt's mir nur manchmal vor, wenn gar zu abrupt und vor allem übergangslos der Schnee von gestern nicht nur weg ist, sondern wenn er, ganz ehrlich, auch nie dagewesen ist.
Na, das führt jetzt aber doch ein wenig fort von dem Gleis, auf dem ich mich hier bewegen wollte, Sie sehen schon, ich vermeide durch Geschwätzigkeit das eigentliche Thema. Ähem. Das ist jetzt aber wirklich gar nicht so einfach. Also. Es gibt eine hochnotpeinliche Erinnerung, die mich immer wieder heimsucht, und ich werde sie nicht los. Ich hab's schon oft versucht, mit Ignorieren und Verdrängen und Älterwerden und allem, allein: es hilft einfach nichts. Und da dachte ich mir, schlimmer kann's ja auch nicht werden, erzähle ich es einfach Ihnen, vielleicht ist das dann so ein befreiendes, kathartisches Erlebnis, bei Star Trek V hat das immerhin auch einigen geholfen: "Teile mit mir, wie es war! Der Schmerz muss heraus! Er hat deine Seele zu lange vergiftet!", und ich bin immer noch der Ansicht, dass der vielgescholtene fünfte Film einige der schönsten Szenen überhaupt beinhaltet, alleine schon der Landurlaub im Yosemite-Nationalpark mit dem Trio Spock (Ratio, Überich), Pille (Emotion, Es) und Kirk (Ego i.S.v. Ich), es sind schöne Momente zwischen den dreien, ganz egal, dass man nicht ernsthaft einen Film mit "Gott" als Energiewesen auf irgendeinem Planeten hinter einer Barriere aus Zigarettenqualm machen kann. Kirk im Aufzug: "Ich könnte eine Dusche gebrauchen!", Spock: "Ja."
Der Berg, den Captain Kirk im Yosemite Park erklimmt, heißt natürlich El Capitan, und das erinnert mich dann wieder daran, was ich hier eigentlich niederschreiben will. Die Szene, die mich so regelmäßig heimsucht, wird nämlich wesentlich durch einen Käptn gestaltet. Bzw. einen Mann, der in seiner ganzen Ausstrahlung etwas sehr streng Kapitänsmäßiges an sich hatte. Er hatte schlohweißes Haar, war groß und hanseatisch, schien unter Bluthochdruck zu leiden, jedenfalls war seine Gesichtsfarbe tiefrot, und bekleidete die Position des Rektors an einer Schule, an welcher ich einst ein Praktikum absolvierte. Ich war Student und mithin etwas älter als die Schülerschaft, und manchmal rauchte ich irgendwo auf dem Gelände eine Zigarette.
Eines Tages sprach mich der Kapitänsrektor darauf an, erwähnte das "Gesundheitsprofil" seiner Schule und die gesundheitlichen Folgen des Rauchens, und nach zehn Minuten Vortrag hatte ich verstanden, dass ich gerade darum gebeten wurde, auf dem Schulgelände nicht zu rauchen. Daran hielt ich mich auch.
Bis ich eines Morgens, es war mein Geburtstag, vom Fahrrad stieg, mir eine Zigarette ansteckte, den Schulhof überquerte und plötzlich vor einem Paar Kapitänsbeine stand. Reflexartig verbarg ich die Kippe mit der linken Hand hinter meinem Rücken, als eine Hand sich mir entgegenstreckte und der Rektor mir wortreich gratulierte. Hinter mir qualmte es, Schüler gingen an uns vorbei, ich wusste nicht ein noch aus, ich stammelte und faselte und bedankte mich für die Glückwünsche, die Zeit dehnte sich endlos, der Käptn drehte ab und ich schlich wie ein begossener Pudel ins Gebäude.
Tja, das war's schon. Was haben Sie denn erwartet? Herrje, ist mir das peinlich!
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Bestattungen / FuhrunternehmenIch bin mir der Gefahr durchaus bewusst, einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum zu verursachen. Das Licht von der Sonne braucht, so meine ich, immerhin acht Minuten, bis es die Erde erreicht hat. Die ja nicht, so wie Sie sich das vorstellen, schön gleichmäßig eingereiht nach Merkur und Venus, vor Mars und Jupiter sowie den noch entfernteren Mitgliedern der hiesigen Planetengemeinde um das Zentralgestirn kreist, jedes Planetchen schön brav etwas weiter weg als das vorige, der eine mal etwas kleiner und der andere mal etwas größer - nein, da liegen Sie leider völlig falsch. Was mir mal die Augen öffnete, war folgender Vergleich: Wäre die Sonne eine Orange, dann wäre unser Heimatplanet eine Erbse, die sich um die lebensspendende Zitrusfrucht dreht - in elf Metern Abstand. Und nach außen wachsen die Abstände noch drastischer! Leider fehlen mir als derzeit von Internet und Literatur (Ausnahme: Die aktuelle HörZu) abgeschnittener Mensch jegliche Recherchemöglichkeiten, deshalb nageln Sie mich bitte nicht fest. Aber ungefähr ist es so, dass schon die Gasriesen sehr weit entfernt sind, und dann ist es noch mal ein echter Fußmarsch bis zum Uranus – dann denkt man so, puh!, jetzt bin ich zum Glück fast da, ich habe immerhin schon acht von den neun Planeten erwandert, doch da täuschen Sie sich mal besser nicht! Von dort bis zum Pluto läuft man sich echt noch mal die Sohlen ab. Wenn Sie ihn überhaupt antreffen. Denn er ist ja im Verhältnis kleiner als eine Fruchtfliege (Drosophila Melanogaster, das Lieblingstier der Genetiker) – und vor allem: Wer sagt denn, dass die alle schön auf einer Linie liegen? Sie beschreiben auf ihrer Reise ja elliptische Bahnen, in deren Zentrum die Apfelsine pulst! Und da kann es schon mal vorkommen, wenn du bspw. in Richtung Alpha Centauri loswanderst, dass du den einen auch in dieser Richtung antriffst, und der andere aber so: Nee, ich bin gerade genau auf der anderen Seite - komm doch in 4000 Jahren noch mal vorbei.
(Werbeschild, das ich leider nicht fotografieren konnte)
Acht Minuten also, so alt ist das Sonnenlicht, wenn wir es sehen, und wenn dann mal was ist, kann man sagen: Ein irrer Effekt, diese Eruption da oben, Wahnsinn! Schade nur, dass das nicht live ist, das macht es irgendwie ... unauthentisch. So wie damals, als die Griechen Europameister wurden. Da ging das nämlich los mit dem DVBT, und während ich die Flanke noch in Richtung Strafraum segeln sah, brüllten sie bei Mykonos schon wie die Wahnsinnigen. Ich gönnte das den Hellenen ja von Herzen, denn auch wenn ich schon lange kein Bifteki mehr gegessen habe, lecker ist es doch, und den Weißkrautsalat können sie einfach wirklich gut, und wir grüßen uns immer freundlich, zudem fand ich es einfach schön, dass Otto Rehhagel, nachdem er schon mit Kaiserslautern im ersten Saisonspiel (als Aufsteiger! Auswärts!) bei den Bayern, die ihn zuvor geschasst hatten, gewonnen hatte und dann (als Aufsteiger!) Meister geworden war, nun auch noch mit den Griechen die Europameisterschaft holen sollte mit seiner antiquierten Spielweise, und mit seinen Allüren muss man da einfach leben – nur, dachte ich, was jubelt ihr denn, der ist doch noch gar nicht drin!
An diesem Tag begriff ich, wie fragmentiert die Welt ist, und dass jeder in seiner eigenen Realität lebt. Denn während mein DVBT-Receiver noch die Signale des MPEG-Streams entschlüsselte*, konnten die Griechen bereits den Siegtreffer des heute erfolglos beim 1. FC Nürnberg kickenden und damaligen Werder-Spielers Angelos Charisteas bejubeln. Noch krasser ist das natürlich für die Marsbewohner, wenn die total aufgeregt ankommen: "Ey, wisst ihr was?? Die Sonne ist gerade explodiert!" Und wir dann so: "Gähn, das wissen wir längst! Aber erzähl’s denen vom Jupiter, denen verkaufen wir übrigens auch immer unsere alten Zeitungen."
Ich muss sagen, dass man an den Hanseaten in der Hansestadt durchaus mögen kann, dass die so hanseatisch-zurückhaltend sind. In München z.B., oder Dortmund, Gelsenkirchen, Köln, da wäre so etwas doch gar nicht denkbar. In Bremen dagegen: kein Problem. Thomas Schaaf hat nach der Meisterschaft von 2004 erst mal mit der Korbballmannschaft seiner Tochter Korbball gespielt, Eltern gegen Korbballerinnen, und niemand hat hysterisch gekreischt. Ich saß an dem Tag im Bürgerpark, da lief Klaus Allofs spazieren und wurde auch nicht belästigt. Eine Zeitlang konnte man Andreas Herzog und andere Werderspieler mittags in einem ganz normalen Restaurant antreffen, wo sie genauso in Ruhe gelassen wurden wie Herr Rehhagel, der dort gerne die Zeitung las. Später, in München, half ihm nicht mal mehr das falsche Klingelschild ("Rubens") gegen die investigativen Klatschreporter. In Bremen hingegen, als er mal an einer Tankstelle neben der Waschanlage stand und auf seinen Sportwagen wartete, der dort gerade gereinigt wurde, hätte ihm fast mal jemand seinen Autoschlüssel in die Hand gedrückt mit den Worten: "Einmal das volle Programm, Meister, und bitte mit 1-A-Felgenreinigung!" Ich habe mich dann aber doch nicht getraut.
Das mit dem Riss im Raum-Zeit-usw. wollte ich ja noch erklären. Es handelt sich um folgendes. Was Sie jetzt lesen, werde ich längst geschrieben haben. Anders gesagt: Was ich "jetzt" schreibe, findet für Sie erst in der Zukunft statt – die Sie aber subjektiv als "Gegenwart" erleben. Erleben werden.
Ich kann mir vorstellen, dass das auf sie befremdlich wirkt. Wirken wird. Lassen Sie es mich ganz einfach ausdrücken: Neben mir steht ein Funkwecker, gesteuert durch das Signal der atomphysiologischen Quartzgesellschaft in Braunschweig, deren absolut zuverlässiges Signal maximal 1 Sekunde auf 1 mio. Jahre von der wirklichen** Zeit abweicht. Gut, höre ich Sie sagen (werde ich Sie sagen hören), das läppert sich auch irgendwann, aber darum geht es jetzt gar nicht. Soll ich Ihnen sagen, was der gerade anzeigt:
Dienstag, 29. September 2009, 22:01:43
. Und nun schauen Sie mal auf das Veröffentlichungsdatum dieses Beitrags.
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*Was für ein entsetzlicher Satz.
**Hö hö.
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