Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Holland eben
nnier | 01. April 2012 | Topic In echt






Mir sagte mal jemand, der in Düsseldorf lebt, in Bremen sähen die Menschen irgendwie arm aus. Ich fragte nach Beispielen und Details, konnte ich doch weder in dem Café, in dem wir saßen, noch später in der Fußgängerzone und überhaupt in den Wochen darauf irgend etwas Ungewöhnliches bemerken; für mich sahen die Bremer ganz normal aus. Später musste ich noch lange darüber nachdenken.

Selten sind es ja einzelne Personen, die mit ausgeleiertem Trainingsanzug oder 500-Euro-Jacke den einen oder eben den anderen Anschein vermitteln, es ist eher ein Gesamteindruck, der einen, ähnlich wie eine Landschaft sich im Vorbeifahren langsam ändert, die sozialen Unterschiede von Viertel zu Viertel, Stadt zu Stadt, von Land zu Land mehr spüren als an Einzelheiten festmachen lässt. Blitzt es hier straff und gesund, schlurft es dort schlaff durch die Gassen, strahlen hier die weißen Gebisse, starren dort die grauen Gesichter.













Vielleicht sehen Düsseldorfer oder Münchener das ja ganz anders; auf mich jedenfalls macht dieses Holland immer diesen propperen Eindruck, nicht nur in den kleinen, feinen Städtchen, sondern auch dort, wo normalerweise Natur wäre, im Wald, am Strand, da ist alles Kulturlandschaft, die Deiche schnurgerade und die Strände gepflastert, selbst die Dünen sehen aus wie am Reißbrett entworfen. Das ist nicht abwertend gemeint, denn ich habe ein paar schöne Urlaubstage gehabt, man kann sehr schön mit dem Fahrrad herumfahren, Kaffee trinken, Geschenke kaufen. Ich bekomme nur manchmal dieses irritierende Gefühl. Es hat mit einer Art von Wohlstand zu tun, die ich seit längerem nicht mehr selbstverständlich finde.

Damit meine ich nicht dieses gerne mal eingestreute "Anderswo hungern sie", auch wenn sich die Tage mehren, an denen ich ganz ernsthaft empfinde, was für ein großes Glück ich habe, dass ich z.B. warm duschen kann, wann ich will. Wenn ich aber durch Siedlungen oder in Kleinstädte komme, in denen lauter neue Einfamilienhäuser nebeneinanderstehen, ein oder zwei Autos davor, nicht älter als drei Jahre, die Straßen akkurat gepflastert und von hübsch historisierenden Laternen gesäumt, muss ich immer öfter denken: Das geht zu Ende, das merkt ihr noch nicht, weil ihr mit eurer Technik künstliche Inseln vor arabische Küsten schütten könnt, ihr liefert Rollrasen und könnt Tunnel bohren, das bringt Geld, aber das geht zu Ende.

Ich war nur ein paar Tage weg, und auf der Rückfahrt erfuhr ich, dass ein Schutzwall beschlossen worden sei, ein paar hundert Milliarden irgendwofür und von irgendwem, jedenfalls gegen die Krise, neulich hieß es Hebel und vielleicht kommt ja bald der Hammer oder die Wunderwaffe, da sind noch einige Metaphern verfügbar, und ich habe keine, wirklich keine Ahnung, was EFSF und ESM sind und wer was wofür bezahlt. Es ist absurd, Länder gehen pleite und Menschen arbeiten in 1-Euro-Jobs, sie spazieren durch gigantisch teure Einkaufsklötze, die schon mal pleite gegangen sind und trotzdem weiterbetrieben werden, ich habe keine Ahnung, wie das alles funktioniert, aber jemand wird es bezahlen müssen. Nicht dass es hilft, aber ich rechne mit immer weniger Holland und mit immer mehr St. Andreasberg, und das wäre noch glimpflich.



Auch wenn ich nichts zu verbergen habe, geht Sie meine Privatsphäre nichts an!, so lautet mein Motto, deshalb die Gardinen, dann schlummert es sich sanft unter warmer Decke und man kann - einfach so! - warm duschen gehen am nächsten Morgen, nur ein paar Münzen muss man einwerfen, das alles ist sehr einfach, man könnte sagen: reduziert, man könnte vielleicht auch sagen: arm, ich will das nicht romantisieren, es ist immerhin Urlaub, es sind bloß ein paar Tage, da lässt sich leicht von Verzicht schwärmen.



Das blöde Werbeblättchen bringt den Aprilscherz, die Bremer Finanzsenatorin plane, von jedem Bürger, der aus Bremen wegzieht, vorher dessen Anteil (von aktuell etwa 28000 EUR) an der städtischen Schuldenlast einzutreiben. Dann kann ich hier nicht weg. Dann beibe ich eben hier.

Ich weiß auch gar nicht, ob ich Düsseldorf so toll finde.

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jean stubenzweig, Montag, 2. April 2012, 18:56
Ja, bleiben Sie besser zuhause. Aprilscherzchen hin oder her. Denn fremd ist der Fremde, um es mit dem großen Philosophen Valentin zu sagen, nur in der Fremde.

Danke für das feine Stückchen.

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nnier, Sonntag, 8. April 2012, 19:12
Ich komme ja ohnehin zu nichts. Und ich danke Ihnen.

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mark793, Sonntag, 8. April 2012, 01:44
Ich (als jemand, der an Düsseldorf deutlich näher dran ist) weiß das ehrlich gesagt auch nicht.

Hier in der angrenzenden Verbundgemeinde haben wir landesweit den höchsten Anteil an Einkommensmilionären, an Wohnungen mit Kaltmiete von deutlich über 3000 Euro herrscht kein eklatanter Mangel, und trotzdem könnte ich auch paar Ecken zeigen, in denen man sich genausogut in den outskirts von Bukarest wähnen könnte.

Zum Lob von Düsseldorf sei indes gesagt, dass man der pelztragenden Kö-Klientel ganz gut aus dem Weg gehen kann, und Geld wird hier genausowenig geschissen wie in Bremen.

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nnier, Sonntag, 8. April 2012, 19:20
Ja, diese Unterschiede innerhalb der Städte gibt's natürlich auch noch. Mich überraschte der Ausspruch damals, weil wir eben in keinem besonders prekären oder benachteiligten Viertel unterwegs waren, sondern mitten in der Innenstadt (und zuvor war er in einem bekannten, großen Möbelhaus gewesen, wo mir auch nie etwas in dieser Hinsicht aufgefallen war.)

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mark793, Sonntag, 8. April 2012, 19:39
Ist halt immer auch die Frage, ob man seinen Blick mehr auf das richtet, was anders ist oder das, was ähnlich ist. Max Goldt hat dazu mal den großartigen Satz geschrieben: "Überall läuft der gleiche Schnulli ab." Auch wenn das vor allem auf den Vergleich Hamburg-Berlin gemünzt war, ist die Absage an irgendwelches metropolitan-eingebildetes Distinktionsgewinnlertum doch deutlich herauszulesen.

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nnier, Sonntag, 8. April 2012, 20:38
Wobei fraglicher Feststeller mir eher als Phänomenologe unterwegs schien denn als irgendein Gewinnler - will sagen, da war nichts Abwertendes, eher Fragend-Erstauntes bzw. ein Interesse daran, was genau es eigentlich war, das ihm da so auffiel. Natürlich ist da immer die Macht der Gewohnheit, ich bin da so blind wie jeder, dennoch bildete ich mir natürlich ein, dass ich, wäre ich ein bröckelnder Revierler oder eben Villenbewohner mit Zweit-SUV, mir der speziellen Perspektive natürlich jederzeit bewusst wäre, während hier in Bremen doch alles ganz normal ist.

Zum Schnulli noch das faszinierende Thema der "sozialen Nähe", d.h. man vergleicht sich mit dem Nachbarn oder Arbeitskollegen und beneidet diese um ihren vielleicht etwas besser dotierten Job oder die größere Wohnung - und kommt allzu selten auf die Idee (bzw. muss sich künstlich dazu bringen), sich mit einem russischen Rentner oder einer Versandhauserbin im Verhältnis zu sehen. Da sind die Sehschlitze doch meist sehr eng.

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vert, Montag, 16. April 2012, 00:41
eine sache steht mal fest: wenn man in bielefeld oder hannover ganz normal gekleidet in den zug steigt, steigt man in berlin oder im ruhrgebiet toppgekleidet wieder aus.
und man muss sich nicht mal die haare kämmen!

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nnier, Montag, 16. April 2012, 16:34
Ganze Blogs kreisen um dieses Thema.

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monnemer, Montag, 16. April 2012, 20:07
Ohne jetzt groß nachdenken zu müssen, habe ich das mit dem Aussteigen so oder so ähnlich schon über Bremen und Bremerhaven, Berlin sowieso, Brandenburg generell, Duisburg, Gelsenkirchen> den Ruhrpott als Ganzes, das Saarland, div. Eifelregionen, Niederbayern, ehemalige Zonenrandgebiete, Sachsen-Anhalt, Rostock und Wismar und Schwerin, Mannheim und Ludwigshafen, Hoyerswerda und Bautzen, Offenbach und auch Greifswald gehört.

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vert, Montag, 16. April 2012, 22:44
gehört, gehört!
hier gehts um empirie!

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monnemer, Dienstag, 17. April 2012, 13:00
Hey, vom höchstpersönlichen Augenschein können Sie ausgehen!
Ich bin mir gar nicht sicher, ob meine Wurzeln hier in Mannheim immernoch so derart tief wären, hätte ich nicht so ausgiebig auch in die verstaubten Ecken von Deutschland und Westeuropa geschaut.
Den Schnulli kann ich unterschreiben, auch wenn er mal proper daherkommt ( ein Eindruck, den ich auch immer von Holland hatte und ich habe mich schon des Öfteren gefragt 'Wie zur Hacke machen die das?' Es muss an diesen holländischen Spezialfirmen liegen, die immer zur Stelle sind, wenn auf dem Rhein oder den Weltmeeren Schiffe umkippen.)

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vert, Freitag, 20. April 2012, 13:21
sie machen es sich aber auch einfach, können sie doch einfach über den fluss fahren, sich etwas gruseln und dann schnell zurück.

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