Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Freitag, 13. August 2010
You Guys
nnier | 13. August 2010 | Topic Gelesn
Wozu tue ich mir das an, ich habe sowieso Kopfschmerzen - mit etwas Marmelade schmeckt Aspirin übrigens gar nicht mal übel - aber, nein, Herr nnier muss "mal eben" ins andere Internet und nachlesen, wie jetzt alle finden, dass es doch total toll ist, wenn man jeden Winkel der Welt vom Rechner aus beglotzen und "taggen" kann. Natürlich kommt dann jemand auf die Idee, einen Street View-Widerspruch-Widerspruch zu verfassen! Weil es nämlich Leute gibt, die das "Konzept der digitalen Öffentlichkeit" nicht verstanden haben! Weil ja auch nicht jedes Dorf entscheiden darf, ob es im Atlas auftaucht! Und unter dem Beitrag dann lauter "lol"-Kommentare, ha ha, darauf haben sie gewartet, das müssen sie alle "retweeten", deshalb steht da dann "Wer nicht will, dass das Bild seines Hauses bei Google Street View erscheint, der hätte sein Haus nicht an eine öffentliche Straße bauen sollen" - und genauso dumpf geht's direkt weiter: "Und was Diejenigen angeht, die ihr Haus von Google Street View entfernen lassen wollen: Nun, da kann einfach Jedermann mit seinem Fotoapparat vorbeikommen und sie bei Panoramio hochladen", mal nebenbei als Drohung gegen alle, die nicht freiwillig die Beine breit machen, und übrigens: "Gestern war in der Tagesschau ein Bericht darüber, wie ein tapferer Mann [...] Widerspruch gegen sein Haus in StreetView einlegt, weil er nicht möchte dass sein Haus oder gar sein Gesicht im Internet abgebildet wird. Guter Mann, stattdessen wurde Ihr Gesicht nun in der TAGESSCHAU gezeigt [...] Und wussten Sie eigentlich [...] dass die Tagesschau auch im bösen Internet abrufbar ist?", tjaha, diese Deppen, die noch meinen, dass sie sich der Notwendigkeit des historischen Prozesses entziehen können! Denen geben wir doppelt und dreifach, harhar, dann fotografieren wir ihre Häuser erst recht und veröffentlichen ihre Namen gleich dazu! Schließlich veröffentlichen wir selbst auch ständig unseren eigenen Aufenthaltsort, und obendrein, was wir gerade wo für wieviel Geld gekauft haben.

Was natürlich auch nicht fehlt, ist der Hinweis darauf, das es "Bedenkenträger" ja schon immer gegeben und "Deutschland" nicht verstanden habe, dass man doch bitte "einfach machen" solle. Es ist zum Würgen.

Ich will hier gar nicht darüber schreiben, ob und warum ich persönlich bei google nun einen Widerspruch einlegen will oder nicht - was mich entsetzt, ist zum einen, wie brachial durch private Unternehmen einfach neue Realitäten geschaffen werden, und zum anderen, wie begeistert das von manchem noch beklatscht wird. Und es sind neue Realitäten, da braucht keiner das Kindergartenargument hervorzuholen, dass man theoretisch schon immer Straßen und Häuser fotografieren konnte. Die aggregierte Masse und die Geschwindigkeit beim Suchen machen einen entscheidenden Unterschied, wie man am Beispiel der "Rückwärtssuche" nach dem Inhaber eines Telefonanschlusses schnell begreifen wird: Man hätte früher theoretisch auch alle Telefonbücher durchlesen können und wäre dabei irgendwann auf eine gesuchte Nummer gestoßen. Aber erst die digitalen Datensammlungen haben es möglich gemacht, dass man ohne Aufwand eine Nummer eingibt und sieht, wem sie gehört. Ebenso hätte ein Personalchef theoretisch schon immer erst mal zu jeder Bewerberadresse fahren können, um sich einen Eindruck von der Wohnlage zu verschaffen - praktisch wird er das viel eher per Klick am Rechner tun. Und so weiter.

Insgesamt ist es mir allerdings zu blöd, mich auf diese Klein-Klein-Streitereien darüber einzulassen, ob Einbrüche künftig leichter geplant werden können oder Stalking erleichtert wird, und wenn ja, ob das ein Grund dagegen wäre, und wenn nein, was das dann wiederum heißt; das wird bis zum Erbrechen z.B. hier durchdekliniert. Mir geht es nicht um das sofort griffige Beispiel dafür, warum das alles ein Fluch oder eben ein Segen ist. Sondern um eine Machtverschiebung, die von vielen achselzuckend hingenommen oder gar noch bejubelt wird.

Wie gesagt, ich war in dem anderen Internet und habe unter der treffend gewählten Überschrift England vs. Facebook ein Filmchen gesehen, das den Stand der Dinge wohl besser illustriert als ein seitenlanger Aufsatz. Sehen Sie selbst:



Da sieht man den gewählten Regierungschef eines Landes mit dem Chef eines Unternehmens sprechen, und ich kann mich der Diagnose von Frau Bunz nur anschließen, dass es sich dabei um eine Übertragung "Live from from the top of a power shift" handelt. Sie nennt die richtigen Stichworte schon (z.B. "really excited about it" vs. 6 x "you guys"), so dass ich nur noch meine Fassungslosigkeit bekunden kann, wenn ich sehe, wie bereitwillig, devot und bedenkenlos ein Premierminister sich zum Produktplazierer eines privaten Unternehmens macht, dessen junger Vorstandsvorsitzener durch sein ganzes Auftreten mehr als deutlich macht, wer hier der Chef im Ring ist.

Aber das ist ja total cool, dass der immer Badelatschen anhat, und außerdem ist das doch Facebook und nicht Google, und hier in der Datenschutzhölle Deutschland gibt's doch wirklich Politiker, die meinen, dass sie noch irgendwas wollen können, hi hi, und ein paar Hinterwäldler, die noch nicht verstanden haben, wohin der Hase läuft, während wir geschmeidig in jedes Rektum schlüpfen.

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Montag, 9. August 2010
Tilly!
nnier | 09. August 2010 | Topic In echt
Meiner inneren folgt nun die äußere Zersetzung, weshalb ich beim Standesamt wohl meinen zweiten Vornamen (Dorian) werde tilgen lassen müssen.



In der Geburtsstadt von John, Paul, George und Ringo wollte mir eine junge Dame eine Plastikdose verkaufen, der Sonderpreis betrug 10.- GBP und es handelte sich bei deren Inhalt um mehrere hundert Gramm Dead Sea Salt, Salz aus dem Toten Meer also. Was ich damit wohl anfangen könne, fragte ich, schon badete ich meine Hände in dem etwas feuchten, groben Salz und wurde aufgefordert, diese kräftig ineinander zu reiben. Tatsächlich war ich überrascht, wie sauber und weich sich meine Finger hernach anfühlten, doch verzichtete ich trotz der Belehrung über die einzigartige Zusammensetzung dieser Essenz vom tiefsten Punkt der Erde auf den Kauf, da ich zuerst herausfinden wollte, ob sich jener Effekt auch mit anderem groben Salz einstellen würde. Aber ich schweife ab.

Ich habe die Fenster geputzt. "Wahnsinn!", werden Sie nun sagen, "Unglaublich! Leute, hört! Das wird spannend!", und ich werde das souverän weglächeln und meine Erzählung fortsetzen. Sie stellen sich die Sache nämlich womöglich zu einfach vor.

Alkoholhaltige Reinigungsmittel aufsprühen, abwischen, fertig? Einen Spritzer ordinäres Spülmittel in Warmwasser verwenden und mit Zeitungspapier nachreiben? Ich bitte Sie. Ich habe die Fenster geputzt. Nicht nur die Scheiben.



Alles begann in jenen Jahren, als ich meine Zukunft verspielte. Was kostet die Welt, und diese hölzernen Sprossenfenster in Altweiß sehen einfach zu schön aus. Der nette Handwerker fertigt sie extra an, schau, sie haben sogar die Bremer Stange*! Wenn die Fenster nach außen aufgehen, muss man auch nicht immer all die Keramikfrösche und Diddlfiguren von der Fensterbank räumen, um mal ordentlich durchzulüften. Und das mit dem Putzen klappt schon irgendwieTM.



Ich muss zugeben, dass diese Fenster schön aussehen, schöner vor allem als ihre Vorgänger, die zu großen Teilen aus Aluminium bestanden (der freundliche Mann, der sie mitnahm, lebt vom Erlös vermutlich heute noch sehr gut). Doch Schönheit hat seinen Preis**, und zwar nicht nur den unmittelbaren finanziellen, der mich wieder einmal ins Grübeln darüber stürzte, warum ich nichts Anständiges gelernt habe.



Einmal im Jahr, so jedenfalls mein Plan, werden die schönen, weißen Rahmen samt aller Sprossen geputzt, innen und vor allem außen, auf dass sich all der Grind nicht gar zu sehr in den Lack einbrenne, auf dass ein Streichen der Fenster nicht gar zu früh notwendig werde, auf dass man auch im nächsten Jahr noch erkenne, dass es sich um Weiß handelt, Altweiß, nicht ganz so weiß wie Schnee, doch erst recht nicht schmutziggrau wie die schmelzenden Haufen am Ende des Winters. Hat man übrigens schon jemals davon gehört, dass Alufenster gestrichen werden müssen? Und hat eigentlich schon mal jemand überlegt, wie man Fenster streicht, die nach außen aufgehen? Wir nähern uns dem Thema.
Egon sah, wie ihm die Frau von gegenüber durchs Fenster freundlich zuwinkte. Er winkte lächelnd zurück. Dann bemerkte er, dass sie nur die Fenster putzte. Er tat nun seinerseits so, als würde er ebenfalls Fenster putzen.***
Normale Menschen, die normale Fenster reinigen, öffnen diese zimmereinwärts und putzen fröhlich drauflos, Innenseite, Außenseite, einerlei!, umsichtige Naturen decken womöglich kurz den Fußboden ab, um ihn vor Tropfwasser zu schützen. Ich hingegen kann die Innenseite noch halbwegs erreichen, nachdem ich zunächst alle Keramikfrösche und Diddlfiguren von der Fensterbank geräumt habe - dann aber geht es los, dann folgen artistische Höchstleistungen ohne Netz und doppelten Bogen, um auch die Außenseiten zu reinigen, während derer ich den nervös mit den Armen rudernden Menschen auf der anderen Straßenseite freundlich winke.



Ich wasche - je Fenster geht mehr als eine Stunde drauf - zunächst den groben Schmutz von Fenster und Rahmen, wobei es mir gelingt, auf schwer erklärliche Weise das Schultergelenk so weit auszukugeln, dass ich auch die ganz äußeren Ecken erreiche, die eigentlich schon außerhalb meiner physikalischen Möglichkeiten liegen, die innere Falz des Rahmens, die Oberkanten der äußeren Sprossen, wechsle dann das Wasser und wiederhole den Reinigungsvorgang so oft, bis der Inhalt des Wischeimers sich nicht mehr tiefschwarz verfärbt; ab und an stürzt ein Schwamm ab, gelegentlich flattert ein Lappen hinunter, von größeren Malheurs blieb ich ansonsten bisher weitgehend verschont.



Drei Stück habe ich am Samstag geschafft. Gestern dann, als ich mir ("Machen Sie mal eine typische Handbewegung!") mal wieder begeistert die Hände rieb, wunderte mich über ein sandig-staubiges Gefühl zwischen den Fingern, hatte ich doch weder im Sand gespielt noch das Fix-und-Foxi-Heft unter meinem Bett hervorgeholt - und musste bei näherer Betrachtung meiner oberen Extremitäten feststellen, dass stundenlanges Baden derselben in einer Mischung von 2 Verschlusskappen TIP Allzweckreiniger auf 5 l warmes Wasser einen interessanten Peeling-Effekt zeitigt. Und mir fiel ein, dass ich das mit dem Salz ja unbedingt einmal ausprobieren wollte.

Man riet mir zu präventiven Maßnahmen - schließlich warten noch zahlreiche Fensterflügel auf mich .



Im gutsortierten Fachhandel ("Fisting24") wurde ich fündig - und kann nun weiter darüber nachdenken, wie man diese schweren Fensterflügel eigentlich aushängen soll, wenn der erste Anstrich einmal fällig wird. Wir werden wohl ein Gerüst brauchen.

--
* Der Link soll nicht werben, da mir der Anbieter unbekannt ist - aber immerhin ein kleines Beispielbild für besagtes Bauteil vorweisen kann.
** 52.800:12.700; Vgl. auch hier.
*** Aus einem Cartoon von papan, so meine ich, und nur sinngemäß zitiert.

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Sonntag, 8. August 2010
Grang Hang
nnier | 08. August 2010 | Topic In echt
Ich bin absolut nicht dafür, Seniorinnen zu diskriminieren, dennoch muss ich lachen, wenn man in Ermangelung eines dritten Mitspielers "Skat mit Oma" spielt. Hat man einige Tage lang die Grundzüge des Spiels - Bedienen! Stechen! Abwerfen! - gelehrt und sich über ein paar Bauernskat-Partien hin zu einigen Dreierrunden mit offenem Blatt vorangetastet, hat man dann die komplexe Berechnungsvorschrift und den aufregenden Vorgang des Reizens auch schon erklärt und ein paar Runden unfallfrei gespielt, kann einen das unkonventionelle Spielverhalten der virtuellen Oma ernsthaft zum Lachen bringen. Zugleich bestätigt es den Skatlehrer in seinen Bemühungen, wenn er beobachten kann, wie die junge Mitspielerin sich darüber amüsiert, dass "Oma" fröhlich eine Farbe ausspielt, die sie gerade erst gestochen hat. Das fängt gut an!



Es gab wohl nichts Unglamouröseres als dieses Kartenspielen, doch war ich begeistert und jahrelang dabei. In den Pausen saßen wir da und spielten Skat oder Doppelkopf, und oft genug verabredeten wir uns abends und am Wochenende, buken eine gigantische Pizza mit allem, was die Vorratsschränke so hergaben, aßen Kühlschränke und tranken Keller leer und spielten bis zum Morgengrauen. Gerne erinnere ich mich an das Spiel, als jemand fröhlich seine blanken Asse durchgebracht hatte und nun begann, seinen Gegenspielern ihre paar niedrigen Trümpfe herauszuziehen. Das Spiel hatte ich innerlich verloren gegeben, als ich das leise Zwinkern meines Mitspielers bemerkte. Er hatte zwei Karten in der Hand und ließ diese unauffällig auf den Tisch sinken, woraufhin ich ebensolches tat; und als der Spieler mit wachsender Begeisterung seine stehenden Trümpfe der Reihe nach ausgespielt hatte, erblickte er vor dem letzten Stich voller Entsetzen die jeweils drei Karten in den Händen seiner Gegner bemerkte er voller Entsetzen, dass seine Gegner nur noch jeweils eine Karte auf der Hand hatten, während er noch drei besaß.* "Du hast vergessen zu drücken!", rief mein Mitspieler und mischte schon mal die Karten, und auch wenn wir das Männlichkeitsprogramm alle durchlaufen hatten, musste da einer doch ernsthaft mit den Tränen der Verzweiflung kämpfen.

Ein richtiger Skatspieler sagt "Grang", auch wenn er Grundzüge des Französischen beherrscht, das ist wie in der Arbeitswelt, in der alle von "Stati" sprechen, man ist dann ja immer wieder in diesem Dilemma, als eingebildeter Bildungsspießer entweder mit dem korrekten Plural "Status" anzuecken oder sich mit Erfindungen wie "Statuswerte" um den offenen Widerspruch herumzudrücken. Man fordert Rewangsch, nicht Revanche, und wenn es dann doch mal zum seltenen Fall eines Grand Hand kommt, kann man sich nicht nur über das großartige Blatt freuen.

--
*Dass ich zuerst einen so unlogischen Blödsinn schreiben konnte, ohne hohntriefende Kommentare zu ernten, könnte für das Taktgefühl meiner Leser sprechen. Aber wahrscheinlich haben die einfach keine Ahnung vom Skatspielen. Ts.

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Mittwoch, 4. August 2010
Sprach der Rabe: Nimmermehr
nnier | 04. August 2010 | Topic In echt
Ah, ich kann's genau bestimmen: im Dezember war's, dem grimmen,
und der Kohlen matt Verglimmen schuf ein Geisterlicht so leer.
(Aus E. A. Poe: Der Rabe)


Vorbemerkung: Schon klar, ihr ökologischen Blockwarte, dass ihr jede freie Diskussion unterbinden wollt, denn bestimmt wart ihr es, die die Besucher dieses Blogs persönlich daran gehindert haben, den vorangegangenen Beitrag wie gewohnt zu kommentieren* - bzw. überhaupt nur zu lesen, denn ihr wisst ja, was gut für die Menschen ist, gell, und habt das Recht auf eurer Seite, so wie Stalin damals, man muss bloß mal so einige Kommentare unter dem Glühlampenartikel in der taz lesen, dann merkt man, woher der Wind weht: Gehirn aus, Energiesparlampe an, und dann fröhlich Leute gängeln! Auf freiwilliger Basis geht nix, eh, "vic"!

Aber wisst ihr was, ganz ehrlich, ich bin eigentlich auch einer von den Guten. Ich fahre z.B. viel Fahrrad und möchte heute zu diesem Thema sprechen, wenn's genehm ist, den Motor lasse ich nebenbei laufen, dann kann ich mich besser konzentrieren.


Fangen wir mal mit dem grünen(!) Condor an: Eigenmarke von Karstadt, der Verkäufer hatte es wärmstens angepriesen, ich war ein Weilchen damit herumgefahren, bis es mich einmal hingeschmissen und dem Radl dabei gleich den ganzen Rahmen verzogen hatte. Nun stand ich in der Karstadt-Werkstatt, der Meister sah sich das Fahrrad fachkundig an und stellte fest, dass es in der Mitte, dort, wo die Pedale sitzen, nach rechts geknickt war. "Sind nicht mehr die stabilsten!", tat er kund, hob das ganze Fahrrad über seinen Kopf und hieb es, WAMM!, WAMM!, zweimal waagerecht in Höhe des Tretlagers auf den Schraubstock an seiner Werkbank. Dann prüfte er, ein Auge zugekniffen, nach, ob die Linien nun wieder in der richtigen Flucht verliefen, hob das Rad erneut an und semmelte es mit erhöhter Wucht, WAMM!, WAMM!, WAMM!, noch ein paar Mal auf die stabilen Stahlbacken. Ohne weiteren Kommentar gab er mir das Fahrrad zurück, und ich weiß nicht mehr, was diese Reparatur gekostet hat, doch erinnere ich mich gut daran, dass ich beim Hinausgehen überlegte, was in dieser Werkstatt wohl stattfand, wenn kein Kunde anwesend war.

Einige Jahre später, zu Abi-Zeiten, kaufte ich ein gebrauchtes, gut erhaltenes Raleigh-Rennrad für sehr faire 370.- DM, es war schön leicht und der Rahmen aus elliptischem Rohr gefertigt, es hatte dünne Rennradfelgen und ich flitzte jahrelang damit herum, bis es gestohlen wurde. Allerdings hatte ich festgestellt, dass mir die gebückte Rennradhaltung nicht guttat und dass ich viel eher ein gemütliches Stadtfahrrad brauchte. Ein (gebrauchtes) Mountainbike wurde dann auf Anhieb gestohlen, ein (geerbtes) und fast unbenutztes, solides Peugeot-Herrenrad mit großartiger 7-Gang-Nabenschaltung war nach ebenso kurzer Zeit weg, so dass sich etwa ab diesem Zeitpunkt für mich das Thema "teure Fahrräder" definitiv erledigt hatte. Statt dessen kaufte ich billige Neufahrräder - teilweise kann man ja für unter 200.- EUR Herrenräder mit einer Shimano-Schaltung bekommen, dieser Name stand ja mal für das Gute, das Raleigh hatte zumindest, so meine ich, auch eine besessen.

Leider sahen diese Billigräder, jedenfalls fürs nicht fachkundige Auge, auch noch ganz ansehnlich aus, so dass ich nicht nur regelmäßig auf mein "schickes" Fahrrad angesprochen, sondern auch weiterhin gelegentlich bestohlen wurde. Da ich nun mal keinen Spaß daran habe, an Fahrrädern herumzubasteln, gewöhnte ich mich an den Gedanken, ab und zu mal ein neues und billiges Fahrrad zu kaufen, auch wenn ich tief drinnen wusste, dass vieles wenig reparaturtauglich und mehr auf Effekt als auf Langlebigkeit hin konstruiert worden war. Benutzte ich zwischendurch einmal das tolle, teure, inzwischen 15 Jahre alte und seltsamerweise in all den Jahren nicht weggeklaute Damenrad der Gefährtin, dann wurde ich daran erinnert, wie leicht, stabil und insgesamt einfach wertig sich ein Fahrrad anfühlen kann.

Im letzten Sommer bekam ein jüngeres Familienmitglied aus den beschriebenen Gründen - Diebstahlrisiko, dazu das Vandalismusproblem leider auch vor der Schule - ein ebenso billiges Blenderfahrrad wie ich. Es kostete 189.- EUR, es war regelmäßig kaputt, der lokale Fahrradladen nahm für die fälligen Reparaturen und Ersatzteile insgesamt fast 150.- EUR ein, davon die Hälfte erst vor vier Wochen für ein neues Hinterrad (Achsenbruch!) und ein Rücklicht. Seit vorgestern ist dieses Fahrrad aber endgültig kaputt, der Umsetzer von der Schaltung am Hinterrad hat sich in die Speichen gewickelt und ich habe die Faxen dicke.

Textaufgabe

Rechnung 1: Ein Damenfahrrad hat vor 15 Jahren 1700.- DM, also gute 850.- EUR, gekostet und seither vielleicht noch 300.- für Reparaturen und Inspektion, und es ist immer noch ein gutes Fahrrad.

Rechnung 2: Ein Herrenrad hat vor einem Jahr 189.- EUR gekostet, dazu knapp 150.- EUR für Reparaturen und Ersatzteile, und es ist nur noch ein Haufen Schrott.

Was ist billiger? Erläutern und begründen Sie Ihre Ansicht.


Es bleibt allerdings das Problem mit den Diebstählen, ein wirklich teures Fahrrad mag ich mir nicht kaufen. Also schaut man doch mal nach gebrauchten Fahrrädern, in dieser Jahreszeit leider ein schwieriges Unterfangen, die Läden haben schlicht nichts im Angebot, und privat gibt es viel Müll und sonst kaum etwas - aber dann findet man eines aus der Zeit, als die Postleitzahlen noch vierstellig waren, ein nicht besonders schönes, stellenweise leicht vom Flugrost befallenes und doch auf Anhieb vertrauenerweckendes, stabiles, leicht laufendes Fahrrad zu einem Preis etwa in Höhe dessen, was die beiden hochwertigen Mäntel, die auf den Felgen sitzen, vermutlich kosten.





Das Fahrrad nehme ich für mich selber; die Reaktion einer jungen Person ("Iiih! Dein altes sah viel besser aus!") stimmt mich zuversichtlich, dass auch das Diebesgesindel sich von äußerem Blendwerk mehr als von inneren Werten leiten lässt, und mein letztes Blenderrad darf nun von einer anderen jungen Person zuschandengefahren werden. Aber dann ist Feierabend.



Die gelben Aufkleber werde ich wohl noch ablösen. Und auch dann wird aus meinem Raben kein Schmuckstück - aber alt werden, das kann so eine ordinäre Saatkrähe auch ganz gut.

--
*Na gut. Einer hat sich inzwischen doch getraut. Aber das ist selber so ein Renegat.

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Dienstag, 3. August 2010
Ganz Gallien. Ganz Gallien?
nnier | 03. August 2010 | Topic In echt
Wenn man sein altes Auto durch ein noch älteres ersetzt, muss man natürlich damit leben, dass schon bei der Zulassungsstelle die freundliche Dame ihren Computer befüttert, den Steuerbescheid ausdruckt und dann mehrfach irritiert auf das Blatt schaut, bevor sie schließlich fragt: "Was ist das denn für ein Auto - soviel zahle ich ja im Jahr nicht an Steuern, was Sie im Monat berappen!"

Gerne leiste ich meinen Beitrag zu Straßenbau und Schilderwald, antworte ich, und statt mich über die perversen Strafsteuern zu ärgern, genieße ich lieber das schöne Gefühl, zu wissen, dass mir schon bald eine ganze Ampelanlage gehört. Im übrigen muss man so etwas halt wollen und dem mit nur noch äußerst fadenscheinigem Ökomäntelchen bedeckten, stalinistischen Industriepolitikterror des Konsumpflichtkomittees mit buddhistischer Gelassenheit begegnen, indem man sich die passende Umweltplakette beschafft und außerdem den unteren Mittelstand fördert - also die kleine Autowerkstatt regelmäßig frequentiert.

Ich tuckere also gemütlich mit bescheidenem Verbrauch durch die Landschaft und werde von tonnenschweren Gefährten röhrend überholt, in denen Klimaanlagen laufen und fette Dolby-Surround-DVD-Anlagen stündlich ihren Liter Sprit wegschlürfen, während vorne stolz das grüne Plakettchen prangt, denn man hat ja erst kürzlich Gutes getan und das gar nicht mal so schlechte Altauto in die Presse gegeben, um zwoeinhalbtausend Euros aus dem Steuersäckelchen einzustreichen und einen Neuwagen zu kaufen.

Ich aber lehne mich gegen die Ökodiktatur auf und weigere mich, dieses Auto, das einfach nicht rosten will und ohne Computerdiagnose reparierbar, mithin vollkommen wirtschaftsschäd umweltfeindlich ist, auf den Friedhof zu bringen, selbst dann, wenn es mal Lust hat, mich zu ärgern. Nehmen wir also an, das gute Stück bekäme plötzlich Lust, manchmal nicht anzuspringen. Und zwar nicht so, wie man es kennt: Orgelorgel, ächz, Anlasser putt - sondern einfach zwischendurch, vollkommen willkürlich, z.B. wenn man in Österreich vor einer Tunneleinfahrt steht und in der Wartezeit das Motörchen abgestellt hat. Es macht dann einfach: "Pff", das war's, und man muss das ein paar Mal mitgemacht haben, ehe man lernt: Irgendwann springt er einfach wieder an, als wäre nichts gewesen, es kann nach zwei Minuten sein oder nach einer halben Stunde. Vor allem dann springt er an, wenn man jemandem zeigen will, dass er nicht anspringt.

Auf die Dauer ist es dennoch kein schönes Gefühl, z.B. als Deutscher vor einer Tunneleinfahrt mit einer Schlange von Österreichern hinter sich, so dass man also die Werkstatt aufsucht, die eben nicht sofort sagt: Alles raus, alles neu, sondern die meint: Ich kann Ihnen natürlich einen neuen Anlasser einbauen, aber wenn er so schön anspringt, dann warten Sie doch erst mal ab, ob das so bleibt.

Wenn es tatsächlich so bleibt, sucht man irgendwann das Internet ab und lernt, dass exakt jenes Phänomen, die spezielle Alterrsschrulle des so liebenswerten Gefährts, seit Jahren beschrieben wird und dass der Grund in 95% der Fälle darin liegt, dass der Zündanlasschalter nicht so alt wird wie der Rest des Autos. Man kann den dann übrigens einfach so austauschen, die freundlichen Autoschrauber in den Foren bebildern und beschreiben alles so genau, dass auch ich mich herantraue - Ersatz ist nicht teuer, allerdings wartet ein wenig Fummelei auf einen und man könnte einen abgewinkelten Kreuzschraubendreher gebrauchen, da zwischen Lenksäule und Schraubenkopf nur sehr wenig Platz ist, aber mit einer Kombizange und einem Kreuzschraub-Bit kommt man auch zurecht - wenn man einkalkuliert, dass das Bit etwa zehnmal herunterfällt und dann meistens unter dem Kupplungspedal, neben dem man mit seinem Kopf liegt, wiederzufinden ist.

"Ah! Ich gehöre zu den auserwählten 5%!", schmunzelt man später, wenn man gerade überzeugt sein will, dass er nun oft genug angesprungen ist und plötzlich doch das wohlbekannte "Pff!" hört. Und nun wird's kompliziert, es kann hieran und daran liegen und man muss messen und prüfen und probieren. Nix für mich, ich weiß ja nicht mal, wo der Anlasser überhaupt ist - aber dann fördere ich eben wieder den unteren Mittelstand, morgen, das ist doch auch was. Und danach kann ich endlich wieder Glühlampen schmuggeln, ihr Schweine von der Ökomafia.

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