Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Dienstag, 27. April 2010
Der Bäcker
nnier | 27. April 2010 | Topic In echt
Wollte nie in meinem Leben was anderes sein
Und außerdem fiel mir auch gar nichts Bessres ein
(Mike Krüger)
"Das wäre richtig komisch, wenn in meiner Klasse jemand Thomas heißen würde!", wurde mir neulich mitgeteilt, und wieder einmal musste ich mir klarmachen, dass die Zeiten der Stefans, Andreasse, Thorstens, Franks, Martins und eben Thomasse tatsächlich lange zurückliegen. Damals aber hießen sie alle so. In meiner Nachbarschaft lebten zwei davon, und in meiner Klasse gab es gleich vier, die deshalb meistens nur mit Nachnamen gerufen wurden.

Einer davon war groß und rothaarig. Im Sportunterricht lobte der Lehrer ihn, er sei ein echter Allrounder, er beherrsche jede Form der Leichtathletik, sei ein sehr guter Schwimmer und auch bei den Ballspielen immer gut dabei. Einmal lud er mich zu seinem Geburtstag ein. Ich war einer von nur zwei Gästen, und als er mir öffnete, stand ihm der Angstschweiß auf der Stirn. Wortlos deutete er auf seine Zimmertür, wir schlichen hinein, in der Küche saß der Vater im Unterhemd, man versuchte sich absolut still zu verhalten und nichts falsch zu machen, es gab Kuchen und Kakao, und nach einer Viertelstunde im Zimmer rief es aus der Küche: "Was macht ihr für einen Lärm, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr, ha!, ha!", und man bemerkte die Erleichterung, die sich auf seinen Zügen ausbreitete, nachdem er heftig zusammengezuckt war. Auf Zehenspitzen schlichen wir hinaus und gingen ins Kino.

Als er mich mal besuchte, aß er pausenlos. Beim Mittagessen nahm er mehrmals nach, ging zwischendurch immer wieder in die Küche, um sich Brote zu machen, langte beim Abendessen zu und fragte mich beim Weggehen, ob er noch so eine Tüte Haselnusskerne mitnehmen könne.

Er war der einzige aus meiner Klasse, der schon früh wusste, welchen Beruf er erlernen wollte. Als es in der neunten Klasse darum ging, ein Praktikum zu absolvieren, freute er sich schon wochenlang darauf, in einer Bäckerei arbeiten zu können. Während andere also rumheulten, dass sie pünktlich um 7:00 zum Dienst erscheinen mussten, begann sein Arbeitstag viele Stunden früher, und als man sich nach drei Wochen wieder in der Schule zusammenfand, berichtete er fröhlich, wie viel Spaß ihm diese Arbeit gemacht habe und dass er es kaum erwarten könne, nach der zehnten Klasse mit dem dann erreichten Haupt- oder Realschulabschluss die Schule verlassen und eine Bäckerlehre beginnen zu können. Um diese Sicherheit und das klare Ziel beneidete ich ihn.

Die Klasse teilte sich dann ungefähr zur Hälfte in diejenigen, die nach dem zehnten Schuljahr die Schule verließen und die, die in die Oberstufe wechselten. Nach der Abschlussfeier kamen die großen Ferien, einiges wurde anders, in der Oberstufe ging man in die Cafeteria statt zum Hausmeister, man trug plötzlich Rucksäcke oder schicke Ledertaschen, und nach einigen Monaten begegnete ich ihm auf der Straße. Er fuhr mit einem Fahrrad und hatte eine Leiter über der Schulter. Am Lenker hing ein Eimer. "Ich mach jetzt Maler und Lackierer. Mehlallergie.", sagte er.

Ein Jahr später, ich hatte mich mit einigen der ehemaligen Mitschüler abends in der Stadt verabredet, tauchte er als letzter auf und sagte: "Ihr müsst mir das aber ausgeben, ich habe nix."

Es ist noch nicht lange her, da fragte mich ein guter Freund, ob ich mich noch an den einen Thomas erinnerte. Der habe da vor dem Bahnhof gesessen, er habe ihn schon öfter gesehen und sei sich nicht sicher gewesen, habe ihn jetzt aber angesprochen. Schlimme Geschichten habe der erzählt von Leuten, die hinter ihm her seien, doch, klar, er wisse, wer der andere sei, damals, die Schule, und erst habe das alles noch ganz normal geklungen, dann sei sein Blick aber feindselig und paranoid geworden, er habe ihn beschuldigt, auch "zu denen" zu gehören und so weiter.

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Montag, 26. April 2010
Zur Melodie von "Vamos a la playa"
nnier | 26. April 2010 | Topic In echt
Meine eigentliche Fußballbegeisterung lebe ich inzwischen am Rande eines Spielfeldes aus, das mit Hütchen abgegrenzt wird. Die kurze Seite eines "echten" Platzes dient hier als lange, man trägt vor Spielbeginn zwei Aluminiumtore an ihren Platz (abmessen muss man nicht - einfach dorthin, wo der Rasen einem durchgepflügten Acker gleicht), bringt sich einen Klappstuhl mit, den man vor lauter Aufregung nicht nutzt, sondern läuft an der Außenlinie entlang und feuert an, man unterdrückt den fast überwältigenden Impuls, ins Spiel einzugreifen, wenn der Ball auf einen zurollt, man gießt anderen Eltern Kaffee ein und nimmt das dritte Apfelmuffin entgegen, und wenn nach tapferem Kampf gegen körperlich übermächtige Gegnerinnen doch nur ein 5:8 herausspringt, freut man sich trotzdem über die immer besser werdenden Spielzüge, die man da gesehen hat und weiß genau, dass in den nächsten Jahren noch viel Spaß auf einen wartet.

Im Stadion war ich seit Jahren nicht mehr (so etwas zählt nicht); aber zu den schöneren Momenten der schlimmen DixiedörnerAaddemosSidkaMagathjahre (natürlich gab ich meine Dauerkarte pünktlich vor der Doublesaision 2003/2004 zurück) gehörte dieser wirklich schöne Fangesang:

Bruno Labbadia - oh - ohohoho!
Bruno Labbadia - oh - ohohoho!


Heute also Ohrwurmtag.

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Freitag, 23. April 2010
Ein Lesebuchroman
nnier | 23. April 2010 | Topic Gelesn
Sandomir ging zum Fenster des Bahnwärterhauses.
Er sah etwas kommen.
"Ein kleiner Eisenbahnzug", sagte Sandomir, "kommt langsam näher mit einer dampfenden Lokomotive."
Dann sagte Sandomir nichts.
"Der kleine Eisenbahnzug", sagte er dann, "ist weit entfernt. Ich sehe, der Zug ist klein. Ist er klein, weil er noch weit entfernt ist? Wird er langsam größer, je näher er kommt? Oder bleibt er klein? Bleibt er aber klein beim Näherkommen, dann täuschen mich meine Augen heute früh! Egal, ob klein oder groß - ich muss die Bahnschranke runterlassen, früh genug muss sie unten sein."
Etwa ein Jahr, bevor ich offiziell des Lesens befähigt werden sollte, bekam ich ein Buch geschenkt. Auf Vorrat sozusagen, weshalb ich in der Widmung sowohl in der zweiten als auch in der dritten Person sg. angesprochen werde und diese sich ansonsten an meine Eltern richtet.

Ich hatte mich schon früh für Buchstaben und Wörter interessiert und mir das Lesen irgendwie selber beigebracht. Dazu hatten vermutlich die beiden Gabriele-Schreibmaschinen beigetragen, die es in unserem Haushalt gab.

Ich weiß nicht, wann ich das Buch dann tatsächlich zum ersten Mal gelesen habe. Woran ich mich aber sehr genau erinnere, ist das Gefühl, schon mit der ersten Seite eine ganz eigene, eigenartige Welt zu betreten, in der die merkwürdigsten Dinge vollkommen selbstverständlich sind.

Der Bahnwärter Sandomir lebt in der Landschaft Sandomir. Sein bester Freund ist ein Frosch, Herr Abendtschrey. Ein Haus ist auf der Flucht vor den Spitzbuben, die in ihm gewohnt haben. Die Spitzbuben beschimpfen einander als Klotz, Mistkäfer, Kröte, Vollbartmeerkatze, gestreifter Mausvogel, Rattenkänguruh, maskierter Sack, Schmutzgeier und Zimtbär. Ein Besucher bittet um Tee und sieben Kartoffelpuffer.

Gar nicht selbstverständlich ist dafür manches andere.

"Ich muss arbeiten. Ein kleiner Eisenbahnzug kommt langsam näher mit einer dampfenden Lokomotive. Vielleicht wird der Zug größer, je näher er kommt. Kommt er aber ganz nah bis zur Bahnschranke und ist noch immer klein geblieben, dann möchte ich auch, liebe Frau, richtig angezogen sein."

"Ab morgen", sagte er, werde ich an meiner Erfindung weiterarbeiten. Der Holzkasten, aus dem das Männlein rausspringt, öffnet sich noch zu sperrig."
Günter Bruno Fuchs heißt der Verfasser, über den ich nicht viel mehr weiß als das hier, das und das. Ganz viel zu Autor und Werk steht hier.
"Ich meine", sagte Frau Sandomir, "gibt es nicht wichtigere Dinge als einen Holzkasten, aus dem ein Männlein rausspringt?"
"Hm", machte Sandomir. Er schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu seiner Frau: "Sag mal, wie meinst du das? Soll ich dir erzählen, was unser Kind von mir denkt? Es schreibt in sein Schulheft: Mein Vater ist erwachsen, trotzdem kann mein Vater mit den Füßen lachen, daß alle Leute in der Landschaft Sandomir vor Freude krähen. Bittesehr!"

Vermutlich muss es so sein, dass der Autor als "Außenseiter des Literaturbetriebes" und "starker Trinker" beschrieben wird. Und, natürlich: "Wenngleich seine späteren Texte im angesehenen Carl-Hanser-Verlag in München erschienen, erreichte er doch nie ein größeres Publikum, dafür galten seine Arbeiten sowohl der Raffke-Mentalität des deutschen Wirtschaftswunders wie auch den politisch bewußten Lesern nach 1967 als zu skurril. So blieb er ein Künstler für Liebhaber, der hauptsächlich andere Künstler – Graphiker wie Schriftsteller – beeinflußt hat. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk findet kaum statt."

Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bin ich auch nicht der richtige. Ich merke schon beim Schreiben, dass die Zitate viel stärker als alles andere sind. Mir bleibt nur ein Buch, das ich alle paar Jahre hervorhole - selbstverständlich längst ausgelistet, doch antiquarisch für ein paar Cent zu bekommen, bspw. hier. Man sollte es herausklauben, aus dem Bücherkorb da ganz unten.

"Ich bin der Bahnwärter Sandomir", sagte Sandomir, "bin zweiundfünfzig Jahre alt, habe eine Frau und ein Kind, bin außerdem Erfinder. Meine Erfindung ist das Wort Zebräh. Sie verstehen: Zebräh, das Geheimwort für Zebra. Außerdem gehen alle Zweitnamen bestimmter Frühjahrsvögel auf mich zurück. Zum Beispiel: Zamzel, Frossel, Mink und Star. Den Star muss ich noch bearbeiten. Guten Nachmittag! Was haben Sie auf dem Herzen?"

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Heute zwei Arbeitsunfälle
nnier | 23. April 2010 | Topic In echt
Meine Bartstoppeln sind inzwischen so lang, dass sie sich zwischen Ringfinger und Fingerring verklemmen, wenn ich wieder diese resignierte typische Arbeitshaltung vor dem Bildschirm einnehme. Aua. Aua!

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Mittwoch, 21. April 2010
Erschöpfwerk
nnier | 21. April 2010 | Topic In echt












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Freitag, 16. April 2010
Immanuel Cunt a tergo
nnier | 16. April 2010 | Topic Sprak
Einmal waren Engländer bei meinen Eltern zu Besuch, und gegen Ende ihres Aufenthalts wurde der Wunsch immer dringlicher, ein "Ausfahrt"-Schild zu erstehen. Warum sie denn unbedingt so eines haben wollten, wurden sie gefragt, und versuchten dann, unter Wahrung der Tischsitten und ohne unangemessene Vertraulichkeiten zu erklären, was den gemeinen Briten daran so amüsiert. Ich fand's auch komisch, gerade wegen des "h", und auch die Trikots der Deutschen in diesem Video der Lightning Seeds gefallen mir, denn hintendrauf steht natürlich immer "Kuntz". (Wie stellt sich eigentlich der neue "Moderator" der Sendung Verstehen Sie Spaß? seinen internationalen Gästen vor?)

Mich stört schon seit Jahren, dass es erlaubt ist, eine bestimmte Spielkarte mit zwei "s" zu schreiben. Ist denn gegen ein As im Ärmel irgendwas einzuwenden? Doch seit Jahren begegnet man Autos, auf deren beklebten Heckscheiben, Motorhauben und Seitentüren IMMOBILIEN ASS, FINANZ ASS, COMPUTER ASS und dergl. für sich werben. Mir persönlich gibt solches auf einem anthrazitfarbenen Audi A4 natürlich wesentlich mehr als der vielzitierte Mitsubishi Wichser.

Jetzt lass doch dieses Englischzeug mal beiseite, da kann ja kein Mensch folgen. Ich habe vorhin übrigens mein Handy beim Service Point liegenlassen, als ich mit Park&Ride zum Shoppen in der Waterfront war.

Gut, gut. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde die neue Trikotwerbung von Werder Bremen doof. Es gibt da ja eine unselige Tradition, vom unseriösen Wettanbieter bwin über den dümmlichen Umweg we win zur unseriösen CitiBank über den dümmlichen Umweg So geht Bank heute zur umbenannten, unseriösen CitiBank, deren Unseriosität sich doch so langsam herumgesprochen hat, so dass man sich mal lieber einen neuen Namen kaufte: Targobank. Was für ein bescheuerter Name. Dann nennt euch doch gleich Itergo.

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