Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Ein Missgeschick! Ein Missgeschick! Ein Fehler in der Eisfabrik!
nnier | 06. Juli 2009 | Topic Gelesn
Oberflächlich ist dieses bekannte Blog einfach nur eine amüsante Pannensammlung, und manchmal merkt man beim flüchtigen Anschauen der dort präsentierten Missgeschicke selbst dann nicht auf Anhieb, was hier falsch ist, wenn ein ganzer Arm fehlt.

Ich habe mich dort kürzlich festgelesen und stundenlang weitergeklickt. Und dabei noch mal einiges über die Allgegenwart der Bildmanipulation gelernt. Denn eines ist ja klar: Was einem da von TV TODAY & Co. entgegenlächelt, sind keine Menschen. Diese bilden lediglich das Rohmaterial und werden vor der Auslieferung dermaßen geschreddert und mit Schlüsselreizverstärkern angereichert, dass ich mir die allzu naheliegende Analogie zur Nahrungsmittelindustrie glatt spare.

Auch didaktische Filmchen über die erstaunlichen Möglichkeiten der computergestützten Bildfälschung habe ich mir schon mal angesehen; dennoch hat die vergnügte Stunde, die ich bei den PhotoshopDisasters verbrachte, bei mir eine viel tiefere Wirkung entfaltet. Denn erst die wirklich groben Schnitzer haben mir gezeigt, wie hoch die Wahrnehmungstoleranzschwelle ist; ein Nacken muss schon extrem verschlankt und verlängert werden, bis man stutzig wird, ein Kopf grotesk verdreht oder das Konzept der Proportionen komplett ignoriert werden, bevor man an der Wahrheit zweifelt, die fotorealistischen Bildern ja scheinbar innewohnt.

Zu einem wirklichen Vergnügen machen den Besuch in diesem Blog übrigens viele der begleitenden Texte, von denen ich einige wenige hier mal frei übersetze:
Dies bringt zärtliche Erinnerungen daran zurück, wie man mit neun Jahren keine Ahnung davon hatte, was unter den Röcken der Frauen los war.

"Hey, toll, wie du die Frau da rausgelöscht hast, aber du hast da, glaube ich, ein Stückchen vergessen."

Yo! Was geht! Check mal meinen total echten Schlitten ab, wo ich ganz in echt habe!
Ach, sehen Sie sich das selber an. Oder fahren Sie zwischendurch hier mal mit dem Mauszeiger hinüber: Hatten Sie nicht auch schon ganz vergessen, wie echte Menschen aussehen?

(Am Thema vorbei, muss trotzdem mit rein:
In Frankreich bekommt man CDs anscheinend billiger, wenn man seine Fürze anzündet. Toll!
Das haben Sie doch auch gleich gedacht, oder.)

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jean stubenzweig, Montag, 6. Juli 2009, 19:50
Vor einiger Zeit sah ich einen ausführlichen Bericht auf arte, in dem unter anderem ein Graphikdesigner vorführte, mit welcher Perfektion das beherrscht wird, und der äußerte zudem, überhaupt keine unbearbeitete Photographie mehr hinauskäme aus den Redaktionen ...

Als Ivo Kranzfelder das 1994 (!) im Laubacher Feuilleton thematisiert hatte, waren es nicht eben wenige, die das für g'spinnert und auch kritikasterisch hielten oder teilweise es auch nicht glauben wollten. Dabei braucht man, was beispielsweise die überproportionalen Verlängerungen oder sonstigen «Verschönerungen» betrifft, nur mal in die bildende Kunst des 19, Jahrhunderts zu schauen. Ingres ist dafür quasi ein Paradebeispiel, etwa seine Odalisque oder diese Dame sowie weitere seiner Figuren. Nun behaupte ich, obwohl ich das alles seit langem weiß und nachdem ich diese Seite (die ich nicht kannte – Dank!) dennoch wieder mit Staunen und Verwunderung betrachte, einmal mehr, was ich bereits in den Achtzigern postuliert hatte: Die Werbung (et cetera) klaut bei der Kunst.

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nnier, Montag, 6. Juli 2009, 20:22
Und nicht nur aus den Redaktionen; auch beim Fotografen, wenn man ein Bewerbungs- oder sonstiges Foto anfertigen lässt, wird am Ende routinemäßig noch hier und da ein wenig oder auch mehr retuschiert.

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nnier, Montag, 6. Juli 2009, 22:43
Was mich beschäftigt, ist die Rückwirkung dieser Bilder. Sieht man sich ein Gemälde, eine Zeichnung, eine Statue an, dann sind diese sicher auch oft "geschönt" und waren es immer. Aber es war doch zugleich klar: Hier wird keine "Realität" abgebildet (auch wenn das ein lange angestrebtes Ideal gewesen sein mag), sondern ein Künstler hat mit seiner Sicht auf die Welt innerhalb seiner Möglichkeiten gestaltet. Und wenn schöne Jünglinge aus Marmor oder schöne Frauen in Öl die Menschen fasziniert haben, so war doch immer eine Distanz zwischen der idealisierten Darstellung und den "echten Menschen" spürbar, schon Kinder sagen ja: "Das ist ja auch nur gemalt!"

Fotos und Filme vermitteln da einen ganz anderen Wahrheitsanspruch. Und bis vor kurzem war eine Manipulation als solche auch erkennbar, denn entweder war die Darstellung zu unrealistisch (Supermann fliegt) oder technisch zu unbeholfen oder beides. Und wenn irgendwelche Unpersonen nachträglich aus Fotos herausretuschiert wurden, war das Ergebnis oft mangelhaft und reichte gerade mal für den groben, schwarzweißen Rasterdruck in der Tageszeitung.

All das ändert sich gerade rapide, und auch wenn man es rational vielleicht weiß, ist die Wirkung ist doch ganz unmittelbar (und man muss gelegentlich daran erinnert werden, dass auch die eigentlich so aussieht).

Irgendwo las ich neulich auch einen interessanten Artikel, leider weiß ich nicht mehr wo und finde ich ihn auch nicht im Internet, in dem eine Frau interessante Ansichten betreffend Pornographie und echten Sex vertrat. Ganz grob erinnert im Kern etwa so: Heute fühlen sich echte Menschen nicht mehr als das begehrte Reale, das die Pornographie immer nur ersatzweise abbilden kann, sondern sie fühlen sich mangelhaft, denn sie sind nichts als schlechter Porno.

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mark793, Montag, 6. Juli 2009, 23:54
Wobei die Umkehrung der Verhältnisse von Porno und echtem Sex ein Teilsapekt ist, der sicher nicht alle gesellschaftlichen Gruppen in gleichem Maße betrifft. Wenn wir hier von unrealistischen Darstellungen reden, welche die Wahrnehmung des "Eigentlichen" verändern, dann müsste man mindestens ebenso sehr über den Hollywood-Film- und Fernsehsex reden.

Aber das würde von dem eigentlichen Thema hier dann doch zu weit weg führen.

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nnier, Dienstag, 7. Juli 2009, 00:26
So weit weg ist das doch gar nicht. Es geht ja darum, wie Bilder die Wahrnehmung (dessen, was "schön" und "normal" und "echt" ist) verändern. Und da würde ich dem Hollywood- und TV-Beispiel nur begrenzt folgen. Klar wirken sich auch diese Kino- und Fernsehdarstellungen auf etwas aus, Moden, Schönheitsideale, auch Verhaltensweisen. Und doch ist es in den allermeisten Fällen (nehmen wir Dokumentarfilme und ein paar Exoten mal raus) "nur ein Film". Ein schöner Film, ein spannender oder trauriger, aber eben ein inszenierter. Und da ist es egal, ob wirklich mal eine Titanic versunken ist - schon Kinder haben eine ungefähre Vorstellung davon, was Schauspieler tun und dass hier eben niemand real ertrinkt, und auch die heiße Liebesszene wird eben nicht für eine reale gehalten.

Beim Porno ist das schon schwieriger. Immerhin passieren bestimmte körperliche Vorgänge da ganz real, und gerade was die männlichen angeht, lassen diese sich auch nur schwer vortäuschen. Aber auch das war zu Zeiten der VHS-Produktionen (von den Schmalfilmen mal ganz zu schweigen) eben in eine, manchmal aufwendige, Handlung eingebettet und eben sichtlich gespielt, auch wenn's wahrscheinlich meist nur der kurze Dialog zwischen dem Klempner und der einsamen Hausfrau war.

Was jetzt neu ist, sind die hyperrealistischen Filmschnipsel, das ganze Gonzo-Genre, das einen praktisch anschreit: Das hier ist echt, das passiert wirklich, hier, jetzt.

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jean stubenzweig, Dienstag, 7. Juli 2009, 01:00
Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu, was die Möglichkeiten und (Aus-)Wirkungen betrifft.

Was die Kunst betrifft, ging es mir jedoch primär darum, auf die Abwandlungen von scheinbar natürlichen Ansichten hinzuweisen, die auch dort weniger als Interpretation und Stilmittel angewandt wurden, sondern ebenfalls geradezu als quasi vorweggenommene Retusche. Von vielen Menschen – das ist das hierbei entscheidende – werden diese «Realitätskorrekturen» beim Betrachten kaum wahrgenommen. Es ist mir oft genug passiert, daß ich erst darauf hinweisen mußte, gerade wenn es um neue Medien ging. Interessanterweise war das in Südamerika seltener der Fall als im hiesigen Raum, von dem viele meinen, der Blick sei geschulter. Selbst beim frühen Picasso, um nur ein Beispiel zu nennen, erkennen die meisten die Interpretation. Ingres aber nutzt diese, seine Mittel zur Darstellung von «Realität».

Aber ich will hier jetzt keine Interpretationsgeschichte vorantreiben. Das führte sicherlich zu weit (weg), wenn es meines Erachtens auch kein gänzlich anderes Thema ist als Pornographie etc. Sie haben es angedeutet. Denn all das hat seine Zusammenhänge. Vor allem aber: Die Möglichkeiten der «Veränderung von Realität» gehen auch hierbei einen kahlschlagartigen Weg um den Globus, ohne kulturelle Unterschiede und Hintergründe zu berücksichtigen. Doch jetzt wird's dann abendfüllend ...

Eben sehe ich gerade, daß Sie sich bereits zu den Punkten aufgemacht haben; ich hatte die Seite nicht vollständig aufgezogen. Aber ich schicke mich trotzdem mal los ...

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nnier, Dienstag, 7. Juli 2009, 10:53
Ich kenne mich da ja nicht so aus. Worauf mag er denn zurückzuführen sein, der andere, südamerikanische Blick?

Ein Experiment kommt mir in den Sinn, kultur- oder jedenfalls psychologisch: Man zeigte Japanern und US-Amerikanern eine Aquariumszene, in der u.a. ein auffälliger, roter Fisch eine Rolle spielt. Letztere berichteten etwa so: "Da war ein riesiger, roter Fisch und hat die anderen Fische gejagt.", die Japaner hingegen schilderten ausführlich die Einrichtung des Aquariums, Pflanzen im Hintergrund, die unauffälligen Schwarmfische usw., und erwähnten dann irgendwann auch den roten Fisch, ohne ihn speziell herauszustellen.

Daran musste ich denken, als ich minutenlang das oben verlinkte Bild danach absuchte, wo nun der Fehler lag: Ich hatte mich auf die prominenten Kinder konzentriert, während ich die Türöffnerin, so groß sie auch im Bild ist, kaum wahrgenommen habe. Ähnliches gilt auch für viele der ganz deutlich manipulierten Frauenportraits oder Ganzkörperfotos; hätte ich mir nicht die Zeit genommen (und wäre vorab nicht klar gewesen, dass hier etwas nicht stimmen würde), dann hätte ich auch in ein paar Zehntelsekunden zwei, drei Schlüsselreize abgeprüft und dann weitergeblättert.

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jean stubenzweig, Dienstag, 7. Juli 2009, 12:35
Meine Erfahrungen dort zeigten mir einen unverstellteren Blick, der sich in den Künsten besonders deutlich zeigt und für einen Europäer nicht ohne weiteres zu erfassen ist. Die Bereitschaft, grenzüberschreitend wahrzunehmen, ist sehr viel ausgeprägter. Hier hätte man dafür schon wieder lediglich diesen einen, gleichsam vom Modischen geprägten Begriff: cross over; vor einigen Jahren kam, wenn man es auch vorsichtig aussprechen mußte, da es via Richard Wagner negativ besetzt war, das in der Romantik erdachte Gesamtkunstwerk im Sinn von ganzheitlich auf. Schubladisch denken wie auf dem Erobererkontinent ist dort geradezu verpönt, nein, man kommt erst gar nicht auf die Idee. So stellt es dort, um ein Beispiel zur Verdeutlichung anzuführen, die Schulmedizin neben der überlieferten des Medizinmannes überhaupt kein Problem dar, mehr noch: es gibt Ärzte, die beides anwenden. Dasselbe gilt für Religionen; katholisch geht mit Voodoo recht gut zusammen.

Das dürfte in erster Linie auf die Vermischungen der Ethnien – ich nenne es gerne als Forderung: Durchrassung der Welt. Wenn dem auch immer mal die Findungsuche nach eigener Kultur in die Quere kommt, die allerdings, anders als in den USA beispielsweise, meist in intelligent-ausgelassener Heiterkeit endet; als typisches Beispiel dafür wäre Macunaíma zu nennen, etwa in der Lyrik, im Film oder im Theater.

Unterschiedliche Sichtweisen im einzelnen führen Sie ja selbst an. Dieses überkreuzende, überkreuzte – Sie kennen die hiesige negative Besetzung: überkreuz = verquer = unlogisch = nicht ganz klar im Kopf – Denken führt zu völlig anderem, umfassenderem Sehen. Nenne ich's mal: Durchblick.

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vert, Mittwoch, 8. Juli 2009, 23:46
berechtigte kunstkritik bei den musikfaschisten in der spex.

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