Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Generation P.
nnier | 06. März 2014 | Topic In echt
Es muss in der Oberstufe gewesen sein, da hatte ich aus irgendeinem Grund das Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie erwischt: Keine Ahnung, wie und warum ich da gelandet bin, aber in der Kantine gab's das leckerste vegetarische Schnitzel meines Lebens. Es war zart im Biss, paniert nach Wiener Art, und schmeckte dermaßen lecker nach Fleisch, dass ich mich heute noch frage, ob es vielleicht gar kein vegetarisches Schnitzel war.

Mit den Naturwissenschaften hatte ich in der Schule keinen Spaß. Es gab sie von der fünften bis zur zehnten Klasse kombiniert im Fach "NW", da ging es mal um Waschmittel und mal um Gabelschwanzraupen, außerdem ging man immer in den "NW-Raum" im "NW-Bereich", wo es allerlei lustige Schutzbrillen und wunderliche Geräte gab. Interessant waren aber vor allem die Stühle, denn es waren nicht die gewohnten stabilen Schulstühle, sondern Drehstühle auf fünfstrahligem Fuß. Das erschwerte das Kippeln extrem, machte es mithin zu einer echten Herausforderung, der ich mich auch regelmäßig stellte: Nur etwa einmal pro Doppelstunde wurde das empfindliche Gleichgewicht aus Neigungswinkel und Drehposition für einen Sekundenbruchteil gestört, so dass jemand mit lautem Knall auf dem Boden landete und sich mit hochrotem Kopf wieder an seinen Platz setzte, begleitet von mahnenden Worten über die hohe Verletzungsgefahr und ausuferndem Gelächter, womit meine schönste Erinnerung an den NW-Unterricht auch schon beschrieben ist.

Wir kamen in die Oberstufe und mussten zum ersten Mal die getrennten naturwissenschaftlichen Fächer Biologie, Chemie und Physik belegen - bzw. mindestens zwei davon, und so wählte ich Biologie und Chemie. Im vermeintlichen Blümchen- und Schmetterlingsfach lernte ich dann erstaunlicherweise Dinge, die ich noch weiß: Mitose und Meiose, vor der Klausur schrieb ich IPMAT auf meine Hand und kann deshalb heute noch die Phasen der Zellteilung runterbeten, selbst wenn Sie mich nachts wecken: Interphase - Prophase - Metaphase - Anaphase - Telophase. Es ging um Zellorganellen, Mitochondrien und Ribonukleinsäure, und ich weiß noch, wie geschockt ich war, als wir nicht nur in der ersten Stunde die Aufgabe bekamen, die wichtigsten Zellbestandteile benennen und zuordnen zu können, sondern in der nächsten Stunde auch tatsächlich abgefragt wurden.

Ich akzeptierte das und besorgte mir in einem Anflug von Fatalismus ein Buch mit "Abiwissen Biologie". Das Fach Chemie derweil kommt Mathetypen wie mir angeblich entgegen (genauso angeblich auch Physik, das ich aus einer Abneigung gegen Physiktypen gar nicht erst anwählte). Es ist mir aber bis heute nicht gelungen, den Zugang zu finden: Klar kann ich irgendwelche "Wertigkeiten" raussuchen und schauen, welche Atome zueinander passen sollen, um ein Molekül zu ergeben. Da vorne wurde auch immer so getan, als gebe es eine vollkommen logische Systematik, diese aber blieb mir zeitlebens verborgen, so dass ich mit dem Zweifel leben muss, ob das zu schlecht erklärt oder die geistige Anforderung zu hoch war: Meine theoretischen Moleküle gab es jedenfalls nicht, sonst wäre unsere Welt eine andere.

Es ist typisch für mich und meinen Lebensweg, dass ich in der 12. Klasse dann ausgerechnet bei Max Planck mein Praktikum gemacht habe, und wenn ich gefragt wurde, ob ich denn später mal was in der Richtung machen wolle, schaute ich völlig überrascht und sagte: Nee! Aber immerhin saß ich drei Wochen in einem leeren Zimmer und gab den Befehl time in das Unix-Terminal ein, und eines Tages schaffte ich das mit der "Wiederholen"-Taste elfmal in nur einer Sekunde. Einmal schließlich wurden wir durchs Institut geführt, da gab es kleine Affen mit Drähten im Kopf und ein Wissenschaftler erhitzte gerade seine Dosenspaghetti auf einer Kochplatte neben den ganzen Hirnpräparaten.

Einige Jahre davor mussten wir schon mal ein Praktikum machen, da war mir auch nichts eingefallen und ich landete in einem großen Metallbetrieb. Am ersten Tag sollte ich um 7:00 in der Lehrwerkstatt sein, fand mich früh am Werkstor ein und musste auf meine Papiere warten, so dass ich erst um 7:02 am Eingang der Lehrwerkstatt auf meinen Praktikumsbetreuer traf, einen kurz vor der Verrentung stehenden Zuchtmeister, der mich wegen der Verspätung gründlich zusammenfaltete. Ich musste dann den ganzen Vormittag 1-cm-Stücke von einem Metallklotz absägen, "Gerade, herrgottnochmal!", aber sie wurden krumm und schief. Als die Lehrlinge sich nach einigen Stunden ausgefeixt hatten, zwinkerte mir einer zu und verriet mir, dass man mit dieser Säge auch gar nicht gerade sägen konnte: Die bekam jeder Neue am Anfang.

Die Zeit schien endlos, wie ich da im Graumann herumstand und an einem Metallstück herumfeilte und -sägte. Dann musste ich die Kanten schlichten und ein paar Löcher bohren, am Rand senken und schließlich Gewinde schneiden, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass mein Lehrer bei seinem Besuch äußerst schadenfroh reagiert hatte: Schließlich kam ich in der Schule ganz ungerührt zu spät, und hier im Werkzeugbau wurde mir wegen zwei Minuten endlich mal gezeigt, wo es langgeht.

Es folgten zwei Wochen in der Elektrowerkstatt, an die ich keine große Erinnerung habe, aber der Meister sprach zu mir: Wenn du von morgens bis abends durch die Kabelschächte gekrochen bist, dann weißt du, was du gemacht hast.

Ich ging durch die lärmenden Produktionshallen, wo man vor allem "Aluminiumhalbfertigprodukte" herstellte, zur riesigen Kantine, wo es ungewöhnlich still war. Auf dem Rückweg erfuhr ich, dass gerade ein Kollege gestorben war, den hatte es in eine der großen Maschinen gezogen.

In meine polierte Metallplatte sollte ich zum Schluss noch meinen Namen und das Datum mit Einschlagbuchstaben schreiben. Das sind lange, eckige Stahlstängchen, die man vorsichtig ansetzt, bevor man mit einem präzisen Schlag kräftig draufhämmert. "Aber hau dir nicht auf die Finger", raunzte der Meister, und ich hieb mir den Daumen blutig. Irgendwie freue ich mich immer, wenn ich die Platte wiederfinde, eingehüllt in Ölpapier, und an die Worte des Vorkriegsmeisters denken muss: "Ich hab doch gesagt, du sollst dir nicht auf die Finger hauen, du Esel!"

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schneck, Montag, 10. März 2014, 10:04
Diese 2 Minuten Verspätung. An meinem vorletzten Lehrtag kam ich, der ich drei lange Jahre stets um 7.00 Uhr morgens am Werkstor gestanden hatte und unzählige Überstunden anhäufte, ungefähr 8 Minuten zu spät. Der Chef zog mich beiseite und raunte mir drohend ins Ohr "Herr Schneck, wir fangen hier um 7.00 Uhr an und und nicht um zehn nach sieben!". /Auch wenn ich nicht glaube, dass man diese Erlebnisse zwingend gemacht haben muss, um ein besseres Leben zu haben, so ist mir diese dreijährige Gesamterfahrung doch bis heute sehr viel wert und fast heilig. Das Wissen um andere und sehr geerdete Verhältnisse als die der rein akademischen Welt empfand ich immer als meinen geheimen Vorteil und als gütige Stärke, insbesondere während diverser späterer Klageorgien des akademischen Personals über irgendwelche schlimmen Arbeitsverhältnisse. "Da haben Sie sich ja was geleistet, Herr Schneck!" rief mir die Chefin böse zu, als ich mir in einer kleinen gotischen Kapelle ein scharfes Skalpell durch die Unterlippe in den Mundraum gerammt hatte, weil ein Gerüstteil umgefallen war und ich - im Gesicht genäht und orange desinfiziert verschmiert - mit meiner Krankmeldung des Hospitals vor ihr stand, froh, dass das nicht ins Auge gegangen war. /Aber jetzt komm' ich ins Plaudern, pardon. Ein schöner Bericht von Ihnen hier!

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nnier, Montag, 10. März 2014, 18:28
Das kann die akademische Welt sein und ist oft die Instituts- und Behördenwelt, die damit ja auch große Schnittmengen haben. Da trifft man nicht nur auf ganz himmlische Versorgungsverhältnisse und Pensionsansprüche in den höheren, sondern eben auch auf eine pampig-beleidigte Anspruchshaltung in den niedrigeren Rängen, wenn man bspw. morgens um halb neun ankommt und schon was will: Da machen die in Ruhe ihr Flurgespräch, gehen dann in die Teeküche und heulen in der Personalversammlung ganz laut rum, wenn der Kantinenzuschuss um 20 Cent gekürzt wird.

Mir wird erst in den letzten Jahren klar, wie sehr mich die universitäre Welt eigentlich abgestoßen hat, diese Institutsneurosen, diese Profilierungskämpfe, und sicher neige ich zu einer Verklärung des gradlinigen Handwerkerdaseins (das ich ja auch nicht führe): Man muss da schon seine Nische finden, aber ich kenne inzwischen einige Tischler, die ihr gutes Auskommen haben und nicht vor jedem Deppen buckeln müssen. Durch Kabelschächte kriechen möchte ich nicht den ganzen Tag, aber so ein schönes Fenster bauen können oder eine Tür, denke ich oft, das ist schon was.

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