Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Car Wish
nnier | 18. September 2011 | Topic In echt


Wenn ich ausnahmsweise mal nach Hamburg fahre, verliere ich ja meistens eine Stoßstange, deshalb fuhr ich diesmal ganz besonders vorsichtig um die Ecken. Auf dem Weg aus der Stadt heraus war ich dann richtiggehend happy, heute mal heile durchgekommen zu sein und auch endlich das blaue Autobahnschild zu entdecken, trat also freudig aufs Gaspedal und sah den dunkelgelben Blitz ungefähr in dem Moment, als die Stimme aus dem Navigationscomputer bei dem Wort "beachten" angekommen war, denn die breite Ausfallstraße war aus unerfindlichen Gründen auf 30 km/h beschränkt. Nach kurzem Nachdenken arbeitete ich einen Witz um, den ich 1978 zum ersten Mal in dem Heft 3 X kurz gelacht! gelesen habe, und rammte meiner Beifahrerin den Ellbogen in die Seite: "Warum fahren die HSV-Spieler immer diesen Weg zum Training? Damit sie wenigstens in Flensburg Punkte kriegen, harhar!"



Das anschließende Schweigen zog sich bis auf die A261, wo ich es beendete, indem ich kurz die Geschichte des Hamburger Sportvereins von 1887 e.V. referierte, wobei der eindeutige Schwerpunkt meiner Kenntnisse (wie eigentlich bei allen Themen) in den frühen 80er Jahren lag, Branko Zebec, Ernst Happel, Hrubesch, Magath, Kaltz, und wie es in jenen Jahren in der Schule nur um eine einzige, entscheidende Frage ging: Bist du Bayern oder HSV?



Das alles spielte in einer Zeit, in welcher die Gleichung Bayern=CSU=Strauß=bäh! noch unwidersprochen galt, man brauchte bloß den Hals einzuziehen und "Jo mei!" zu rufen, musste dabei auch nicht im entferntesten das bayerische Idiom treffen, schon konnte man sich vor grölendem Gelächter und auf die Schulter krachenden Händen nicht mehr retten, und das galt gerade auch für die differenzierten und politisch wahnsinnig aufgeklärten Geister in den Kreisen, in denen ich mich bewegte. Es gab also nur eine Möglichkeit für mich - und auch wenn aus Dieter Hoeneß, Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge inzwischen total verschiedene und dennoch alle gleichermaßen unerträgliche Charaktere geworden sind, auch wenn ich den Verein und seine Protagonisten seit langem nicht mehr leiden kann, so muss ich doch dazu stehen: Damals war ich Bayern. Und es mag daran liegen, dass ich bei den Raufereien zwischen den Bayern- und den HSV-Fans oft genug auf dem Boden lag, daran, dass der grinsend auf mir sitzende HSVer mir aufs Grausamste seine Fingerknöchel zwischen die Rippen grub und einfach nicht aufhörte - ich habe mich später jahrelang am Niedergang des HSV geweidet. Auch dann noch, als ich mich längst nicht mehr für Fußball interessierte, auch dann noch, als mir die Dauererfolge der arroganten Bayern nur noch auf die Nerven gingen, und auch dann noch, als es mich zufällig in eine Stadt verschlagen hatte, die mit diesem Verein eine alberne Fußballfeindschaft pflegt: So ironisch gebrochen ich den Fußball sonst auch sehe (oder gleich ganz ignoriere) - wenn es um die alberne Frage ging, wer "Die Nummer 1 im Norden" sei, konnte ich mir die Freude nicht verkneifen, da war es einfach zu schön, wenn die HSV-Fans am letzten Spieltag im eigenen Stadion das große Banner wieder einrollen mussten, weil ihr Verein doch noch von den Bremern besiegt und damit in der Tabelle überholt wurde.



Längst fuhren wir auf der A1 der Heimat entgegen, meine Stimmung hatte sich ins Nachdenkliche verschoben, die Hamburger, so sagte ich nach einem Räuspern, seien ja an sich auch ganz in Ordnung, man habe ja gerade wieder gesehen, dass die am Samstagnachmittag auch nichts anderes täten als die Bremer, sie seien womöglich, wenn sie bspw. säuerlich-frische Sommeräpfelchen einfach so zum Mitnehmen an die Straße stellten, auch nicht besser oder schlechter als andere Menschen, führte ich an, da wurden im Radio die Ergebnisse des Spieltags verlesen. Der HSV hatte gegen Mönchengladbach 0:1 verloren. "YEAH! YEAH!", schrie es aus mir, und das irritierte die Beifahrerin vermutlich mindestens so wie mich damals die Antwort eines Mitschülers, den ich gefragt hatte: Bist du Bayern oder HSV?

Seine Antwort lautete: Gladbach!

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cabman, Sonntag, 18. September 2011, 23:07
Schreien Sie ruhig, denn Sie haben ja recht und glauben Sie mir, dass mir das Herz blutet. Es tröstet mich nur, dass alles auf dieser Welt in Zyklen verläuft und wir demnach dieses Tal der Tränen irgendwann durchschritten haben werden. Betonung liegt auf irgendwann.

Bis dahin gönne ich Ihnen Ihre Freude und sehne den Tag herbei, wo wir dann wieder auf Augenhöhe mitspielen. Manno.

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nnier, Montag, 19. September 2011, 16:12
Ganz ehrlich, das war gar keine richtige Freude, eher ein uralter Reflex. Dimap-Infratest hat mir vorhin schon gesteckt, dass meine Sympathiewerte nach Erscheinen dieses Artikels um 0.5 Punkte gesunken sind, und zwar bundesweit, nicht nur in Hamburg.

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dings, Montag, 19. September 2011, 10:18
Sich die Köppe einzuhauen für Unternehmen mit millionenschweren Mitarbeitern in einer Branche, die jeden freien Millimeter auf belebten und unbelebten Objekten mit Werbung zukleistert, ist kognitiv schon interessant.

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mark793, Montag, 19. September 2011, 16:37
@dings: Nach ähnlichen Worten habe ich gerungen, brachte es selber aber nicht auf den Punkt. Ich werde mir Ihre Sentenz einprägen und in künftigen Diskussionen zum Thema locker einflechten, "wie Herr Dings übrigens mal so treffend gesagt hat..."

In meiner Kindheit/Heimat lautete die Frage übrigens "Bist Du Waldhof oder VfR?" - und ich war immer versucht zu antworten, ich verstünde die Frage nicht. Wobei ich die Frage natürlich sehr wohl verstand - nicht aber, warum ein oder ein anderer beschissener Kickerverein für mich irgendeinen Wallungswert haben sollte.

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nnier, Montag, 19. September 2011, 17:18
Ich wäre ja VfR gewesen: Verein für Rasenspiele, das klingt noch eine Spur vielversprechender als das auch schon aparte Waldhof. Zu dem anderen Thema: Seit man in den 80ern über "Jägermeister Braunschweig" lachte und das im Kabarett hingeworfene "Coca Cola Hamburg" noch wie eine ins absurde gesteigerte Kapitalisten-SciFi klang, ist tatsächlich noch mal einiges passiert. Der archaische Städtevergleich war es schon damals nicht mehr, aber man meinte noch regionale Eigenarten zu erkennen, wahnsinnige (lokale) Mäzene eingeschlossen. Das alles ist ein Kontinuum und wirkt ja oft auch nur rückblickend so "echt" und ehrlich wie ein Panini-Sammelbild von Lothar Woelk. Aber es waren noch regionale Wurzeln spürbar, das behaupte ich, die Bundesliga gab es ja gerade mal seit 1963 und die Summen, um die es ging, waren auch inflationsbereinigt noch wesentlich geringer als heute, gerade was den Durchschnittsprofi anging. Seit sich russische Milliardäre britische Spitzenclubs halten und Controller die Rendite überwachen, wundert mich endgültig, wie das mit der "Identifikation" so funktioniert, und seit PR-Profis wie Bierhoff am Mikrofon stehen statt schnauzbärtiger Autoschiebertypen kommt es mir so vor, als hielten sich die Vereine bloß noch ein paar fanatische Stehplatz-Fans, weil diese zwar wenig Geld, dafür aber eine Menge Stimmung ins Stadion tragen. Man will dem VIP-Logen-Gast schließlich was bieten! (Dass hinter all dem eine schöne, zu Emotionen hinreißende Sportart steht, erlebe ich inzwischen nur noch ganz woanders.)

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dings, Montag, 19. September 2011, 21:42
Ja, man denkt an Zeiten, als das Alles nocht "echt" war. Aber die "Professionalisierung" (die jedem Arbeitnehmer gegönnt sei) ging schon erstaunlich früh los. Und mit den milliardenschweren Großturnieren hat das Dimensionen erreicht, bei denen die Freuden des einfachen Mannes merkwürdig anachronistisch wirken.
Spaß am Zirkus ist ja schön, nur die Inbrunst der Identifikation wächst dann doch auf ziemlich künstlichem Rasen. Dann kann man auch für Ariel oder Lehman Brothers sein. Oder wäre das nicht so abwechslungsreich?

@mark793: ... wo ich doch ihre Formulierkunst immer bewundere.

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nnier, Montag, 19. September 2011, 22:10
Wau. Das Spiel muss ich sehen!

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vert, Dienstag, 20. September 2011, 02:56
ach gladbach. Heute isses ja so: in hamburg, bremen und münchen und sogar in mannheim kann man es irgendwie ganz passabel aushalten. mönchengladbach hingegen gehört zu den traurigeren orten des landes. Da kann man nur fan sein, wenn man nienicht hinfaehrt...

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prieditis, Dienstag, 20. September 2011, 04:34
das kann ich ja mal so nicht stehen lassen!
ich will gar nicht die vorzüge preisen, aber das zum beispiel, nach münster, gefühlte 50 km keine ausfahrt mehr kommt, das hat doch sicher einen grund ;o)

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nnier, Dienstag, 20. September 2011, 10:21
Jeder Zweite hält das ohnehin für einen Stadtteil von München (München-Gladbach). Ich habe von der Gegend keine klare Vorstellung, auch wenn ich Aachen, Düsseldorf, Köln schon mal besucht habe und Oberhausen kennenlernen musste. Aber dass das dort immer "Bökelberg" hieß und lange ein sehr kleines Stadion, vollkommen sub-standard, war, fand ich sympathisch.

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nnier, Dienstag, 20. September 2011, 10:49
Ugh. Ich hatte ja keine Ahnung! Und diese Namenswillkür, das ist ja fast wie in Karl-Marx-Stadt!

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mark793, Dienstag, 20. September 2011, 11:33
Ich kann dem Kollegen vert da nur beipflichten: Mönchengladbach atmet eine Trostlosigkeit, die ihresgleichen sucht. Westzonenrandgebiet, das mangels Solizuschlag zunehmend auf den Hund kommt und verfällt, dabei aber nicht annähernd den ausgesuchten-kernigen Abfuck-Faktor von sagenwirmal Duisburg hingekriegt hat. Kann man nicht beschreiben, diese spezifische Traurigkeit. Um die so richtig zu erspüren, muss man mal mit dem Fahrrad durchfahren oder vielleicht auch die Öffis benutzen.

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dings, Dienstag, 20. September 2011, 11:35
Och, ganz lauschig da offenbar - verspielte Wasserläufe in abwechslungsreicher Natur, in der Ferne einladende Architektur ... (Könnte jetzt auch Bremen-Hemelingen, Hanau, oder Magdeburg sein.)

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monnemer, Dienstag, 20. September 2011, 11:48
(Wenn Sie dann von Magdeburg aus noch planen, Wolfsburg, Salzgitter und Hannover zu besichtigen, liegt Suizidgefahr in der Luft.)

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prieditis, Dienstag, 20. September 2011, 12:53
Hallo!? Das ist der Niederrhein! Die Landschaft des ewigen Novembers!

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mark793, Dienstag, 20. September 2011, 13:10
@prieditis: Der Ortsfremde und Zugezogene hat hier durchaus Mühe, Originallandschaft und rekultivierte ehemalige Tagebaugebiete zu unterscheiden. ;-)

Wenn nun also unter Mönchengladbach Braunkohle in nennenswerter Menge vorkommen sollte, wäre das Abbaggern dieser Gebietskörperschaft und die Umsiedlung der Bewohner das beste, was man tun könnte. Dafür könnte man dann auch die Dörfer wie Borschemich und Immerath stehen lassen.

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nnier, Dienstag, 20. September 2011, 13:15
Ist doch aber offenbar ein vergnügtes Völkchen! (Erzähl mir noch mal du verstehst was von nem Fußball Mätch ...)

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prieditis, Dienstag, 20. September 2011, 13:19
Von mir aus könnten die um Gladbach herum alles zubetonieren... auch die Vögel.
Das ist nämlich auch einer der großen Vorteile:
Die Anbindungen an die Autobahnen sind hervorragend und man ist immer sehr schnell weg ;o)

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monnemer, Dienstag, 20. September 2011, 13:40
Das würde dem Expertentum den Lebensraum nehmen. Das kann man doch nicht wirklich wollen!

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nnier, Dienstag, 20. September 2011, 15:46
Hahaha! Hajo Friedrichs. Und am Ende der Expe-ch-te, "im Grunde genommen ... auch der Meinung, dass ...", da merkt man noch den Soziologenslang 70er - und zugleich war er seiner Zeit voraus: "Das ist ein Service auch an die Zuschauer!"

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vert, Dienstag, 20. September 2011, 16:19
@mark: mg-öpnv=möbus ist ein sehr gutes stichwort. ach, eigentlich möchte man gar nicht drueber sprechen.

@monnemer: nana, hannover hat zwar ein maximum an verwirrenden stadtautobahnen und der kroepke ist ...na, lassen wir das. Aber sonst ist die stadt doch eigentlich recht huebsch.
(als mannheimer wäre ich da wirklich _etwas_ vorsichtiger!)

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mark793, Dienstag, 20. September 2011, 17:23
@vert: Ich dachte mir, dass das Stichwort ÖPNV in Verbindung mit MG bei Ihnen Kopfkino auslöst.

Von Hannover habe ich nur mal ein Stück Fußgängerzone vom Hauptbahnhof aus erwandert, das war schon ziemlich schlimm, selbst wenn man die Breite Straße in Mannheim als Vergleichsmaßstab nimmt. Wobei die Klötze rund um den Monnemer Hbf auch nicht gerade städtebauliche Perlen sind. Aber man hat dort ja immer den Trost, dass Ludwigshafen noch viiiiel schlimmer ist...

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vert, Dienstag, 20. September 2011, 18:05
na dann haben sie exakt das stück hannover entdeckt, um das man besser einen bogen macht...
nach hinten raus sieht's zwar auch erstmal nur sehr begrenzt besser aus, aber ab dem pavillon wird's dann eigentlich ganz huebsch.

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