Sandomir ging zum Fenster des Bahnwärterhauses.Etwa ein Jahr, bevor ich offiziell des Lesens befähigt werden sollte, bekam ich ein Buch geschenkt. Auf Vorrat sozusagen, weshalb ich in der Widmung sowohl in der zweiten als auch in der dritten Person sg. angesprochen werde und diese sich ansonsten an meine Eltern richtet.
Er sah etwas kommen.
"Ein kleiner Eisenbahnzug", sagte Sandomir, "kommt langsam näher mit einer dampfenden Lokomotive."
Dann sagte Sandomir nichts.
"Der kleine Eisenbahnzug", sagte er dann, "ist weit entfernt. Ich sehe, der Zug ist klein. Ist er klein, weil er noch weit entfernt ist? Wird er langsam größer, je näher er kommt? Oder bleibt er klein? Bleibt er aber klein beim Näherkommen, dann täuschen mich meine Augen heute früh! Egal, ob klein oder groß - ich muss die Bahnschranke runterlassen, früh genug muss sie unten sein."
Ich hatte mich schon früh für Buchstaben und Wörter interessiert und mir das Lesen irgendwie selber beigebracht. Dazu hatten vermutlich die beiden Gabriele-Schreibmaschinen beigetragen, die es in unserem Haushalt gab.
Ich weiß nicht, wann ich das Buch dann tatsächlich zum ersten Mal gelesen habe. Woran ich mich aber sehr genau erinnere, ist das Gefühl, schon mit der ersten Seite eine ganz eigene, eigenartige Welt zu betreten, in der die merkwürdigsten Dinge vollkommen selbstverständlich sind.
Der Bahnwärter Sandomir lebt in der Landschaft Sandomir. Sein bester Freund ist ein Frosch, Herr Abendtschrey. Ein Haus ist auf der Flucht vor den Spitzbuben, die in ihm gewohnt haben. Die Spitzbuben beschimpfen einander als Klotz, Mistkäfer, Kröte, Vollbartmeerkatze, gestreifter Mausvogel, Rattenkänguruh, maskierter Sack, Schmutzgeier und Zimtbär. Ein Besucher bittet um Tee und sieben Kartoffelpuffer.
Gar nicht selbstverständlich ist dafür manches andere.
"Ich muss arbeiten. Ein kleiner Eisenbahnzug kommt langsam näher mit einer dampfenden Lokomotive. Vielleicht wird der Zug größer, je näher er kommt. Kommt er aber ganz nah bis zur Bahnschranke und ist noch immer klein geblieben, dann möchte ich auch, liebe Frau, richtig angezogen sein."
"Ab morgen", sagte er, werde ich an meiner Erfindung weiterarbeiten. Der Holzkasten, aus dem das Männlein rausspringt, öffnet sich noch zu sperrig."Günter Bruno Fuchs heißt der Verfasser, über den ich nicht viel mehr weiß als das hier, das und das. Ganz viel zu Autor und Werk steht hier.
"Ich meine", sagte Frau Sandomir, "gibt es nicht wichtigere Dinge als einen Holzkasten, aus dem ein Männlein rausspringt?"
"Hm", machte Sandomir. Er schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu seiner Frau: "Sag mal, wie meinst du das? Soll ich dir erzählen, was unser Kind von mir denkt? Es schreibt in sein Schulheft: Mein Vater ist erwachsen, trotzdem kann mein Vater mit den Füßen lachen, daß alle Leute in der Landschaft Sandomir vor Freude krähen. Bittesehr!"
Vermutlich muss es so sein, dass der Autor als "Außenseiter des Literaturbetriebes" und "starker Trinker" beschrieben wird. Und, natürlich: "Wenngleich seine späteren Texte im angesehenen Carl-Hanser-Verlag in München erschienen, erreichte er doch nie ein größeres Publikum, dafür galten seine Arbeiten sowohl der Raffke-Mentalität des deutschen Wirtschaftswunders wie auch den politisch bewußten Lesern nach 1967 als zu skurril. So blieb er ein Künstler für Liebhaber, der hauptsächlich andere Künstler – Graphiker wie Schriftsteller – beeinflußt hat. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk findet kaum statt."
Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bin ich auch nicht der richtige. Ich merke schon beim Schreiben, dass die Zitate viel stärker als alles andere sind. Mir bleibt nur ein Buch, das ich alle paar Jahre hervorhole - selbstverständlich längst ausgelistet, doch antiquarisch für ein paar Cent zu bekommen, bspw. hier. Man sollte es herausklauben, aus dem Bücherkorb da ganz unten.
"Ich bin der Bahnwärter Sandomir", sagte Sandomir, "bin zweiundfünfzig Jahre alt, habe eine Frau und ein Kind, bin außerdem Erfinder. Meine Erfindung ist das Wort Zebräh. Sie verstehen: Zebräh, das Geheimwort für Zebra. Außerdem gehen alle Zweitnamen bestimmter Frühjahrsvögel auf mich zurück. Zum Beispiel: Zamzel, Frossel, Mink und Star. Den Star muss ich noch bearbeiten. Guten Nachmittag! Was haben Sie auf dem Herzen?"
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Danke.
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Mir fällt übrigens immer wieder auf, wie selbstverständlich in den 70er und 80er Jahren gute Kinderbücher zu bekommen waren - die billigen Rowohlt-Taschenbücher ("Rotfuchs") z.B. habe ich fast alle gerne gelesen, und auch vom dtv gab es viel Gutes - kein Vergleich mit den biederen Schneider-Büchern der Jahrzehnte davor.
Nachtrag:
«Aus meinen Gläsern säuft die Uhr sich voll. / Der Stundenzeiger weiß nicht, ob er torkeln soll. / Die Plüschgardine hat sich umgebracht. / Ich bin der Staub, der neben ihrer Leiche wacht.»
«Klein ist unser Kind. Groß / soll es werden. / Gemütlich summt / das Vaterland.»
Günter Bruno Fuchs
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Das erste der beiden Gedichte, die Sie da gefunden haben, gefällt mir ausgesprochen gut. Und ich freue mich, dass ich nicht nur die verschiedenen Sandomir-Ausgaben antiquarisch für wenig Geld erwerben kann (meine ist ein Fischer-Taschenbuch von 1973), sondern dass es noch mehr zu entdecken gibt.
Ich war auch bald bei den Buchstaben, mein Kleiner fängt auch an sich damit zu beschäftigen... auch wenn er nicht richtig weiss wie das geht, sagt er immer,er möchte doch gerne auch "schreiben"....
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Der Sandomir ist nicht als Kinderbuch deklariert, auch wenn "Lesebuchroman" ein wenig danach klingt. Und im inneren Klappentext ist auch die Rede davon, dass Günter Bruno Fuchs einer der wenigen sei, die den speziellen Ton für Kinder mitbrächten - hab's leider gerade nicht vorliegen. Jedenfalls ist bis auf ein völlig missratenes, verplappertes Kapitel, in dem Sandomir zum Rektor der Schule seines Sohnes geht - und das sich erkennbar allzusehr an den erwachsenen Leser richtet, der sich über absurde Bürokratie usw. amüsieren soll - fast alles sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet. Jedenfalls für solche kindlichen wie mich.
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Schauen Sie doch bitte mal nach: Ist Ihr Exemplar eines aus der Friedenauer Presse? Gleichwohl ich mir das bei einem Preis von 2 Mark 80 selbst zu dieser Zeit kaum vorstellen kann, waren das doch seinerzeit handgeklöppelte Bücher und kosteten, wenn ich mich recht erinnere, allesamt nicht unter zehn Mark.
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Der originale Sandomir ist tatsächlich 1971 bei Hanser erschienen, diese Ausgabe werde ich mir sicher auch noch besorgen, und eigentlich ist es erstaunlich, dass man überhaupt versucht hat, etwas so Sonderbares auch als Taschenbuch zu veröffentlichen. Aber für mich war es ein Glück, und auch diese Ausgabe ist sehr schön.
(Zu Fuchs, Krüger und Hanser habe ich noch dieses gefunden.)
Und Rixdorfer Drucke. Und dann auch noch Robert Wolfgang Schnell. Auch so eine Figur, nein, Person, eine großartige, vielleicht weil schwierige. Das löst einiges aus in mir. Danke für dieses Schmuckstück, das wegen seines Inhalts glänzt. Nein, keine Nostalgie. Einfach ein Stück an den Rand geratene Erinnerung.
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