Den Übergang von der Grund- in die weiterführende Integrierte Gesamtschule kann man sich kaum abrupter vorstellen. Nicht nur, dass es plötzlich keine Noten mehr gab, dass man in den Pausen nicht auf den Schulhof musste, morgens nicht aufstand, wenn der Lehrer hineinkam, beim Geburtstag kein Lied mehr sang, die Klasse nicht mehr Klasse hieß und die Lehrer nicht mehr Lehrer - sondern sie wurden auch noch geduzt und beim Vornamen gerufen. So kommt es, dass ich, wenn ich an eine bestimmte Lehrerin zurückdenke, nicht an "Frau X", sondern an "E." denke. Sie war Tutorin (so hieß das) in einer Parallelklasse (so hieß das nicht, aber ich setze ab jetzt auf Ihre Abstraktionsfähigkeit) und fiel zwischen all den anderen unkonventionellen Erwachsenen dennoch äußerlich sofort auf, da sie stets rot oder orange gewandet und mit auffälligen Ohrringen und großen, hölzernen Perlenketten behängt war.
Da so vieles neu und ungewohnt war, die Architektur des Gebäudes, die ganzen neuen Wörter, das Sitzen im Stuhlkreis, die Partner- oder Teamarbeit, das Mittagessen in der Schule, die langen Unterrichtstage, der weitgehende Verzicht auf leistungsbezogene Rückmeldungen, die Konzentration auf "soziales Verhalten" und vieles mehr, war es auch nicht weiter verwunderlich, dass eine, wie man bald von den Mitschülern erfuhr, von diesem Guru, du weißt schon, als Lehrkraft tätig war und aus ihrem Glauben keinen Hehl machte. Was ihr Äußeres anging. Irgendwelche Versuche der Indoktrination habe ich dagegen nie mitbekommen. Jedenfalls nicht, was diese Frau und den Bhagwan von Poona anging.
In unserer Klasse unterrichtete sie Musik, das funktionierte so, wie es damals eben war: Einmal hörten wir das instrumentale Intro von Pink Floyds Shine on You Crazy Diamond und malten dazu psychedelische Bilder. Einmal versuchten wir, Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha von Trio auf dem Klavier zu spielen. Einmal holten wir die ganzen teuren Metallophone aus dem üppig ausgestatteten Instrumentenraum und schlugen darauf herum. Einmal sollten wir, Hacke, Spitze, 1,2,3, hüpf!, klatsch!, tanzen. Ich fand es grauenhaft. Ich fühlte mich wie in einer Parallelwelt, man nannte es Unterricht, aber ich fühlte mich wie in einem Labor. Jeden Tag konnte alles anders sein, meine Bezugssysteme waren hier weitgehend unbrauchbar, vieles schien willkürlich und chaotisch zu sein, aber da ich gerne an diese Schule gewollt hatte und man uns auch täglich erzählte, was für ein Glück wir hätten, dort hingehen zu dürfen, kreidete ich mir mein Unbehagen selbst an, denn wer hier nicht glücklich war, mit dem musste etwas nicht stimmen. Anderswo gab es Noten! Anderswo wurde nicht diskutiert! Anderswo musste man Hausaufgaben machen!, hieß es, wenn jemandem mal etwas nicht gefiel.
Also lief ich manchmal ziemlich desorientiert und mit einem Kloß im Hals durch das riesengroße Gebäude, in dem man so tolle Sachen machen konnte, ein Fotolabor gab es und einen Irrgarten und Theater-AGs. Und saß bockig auf meinem Stuhl, die Arme verschränkt, als Hacke, Spitze, 1,2,3, hüpf!, klatsch! gegeben werden sollte. Warum ich denn nicht mitmachte, fragte mich E. Weil das alles doof ist und Mist und Scheiße, antwortete ich und stierte böse auf den Boden.
Als die anderen in die Pause gingen, musste ich noch dableiben. Und nun geschah etwas Wunderbares.
Statt mir zu erklären, wie toll das ist, was hier gemacht wird, und wie falsch von mir, dabei nicht mitzumachen, statt mich zu fragen, ob ich denn wohl lieber auf eine böse andere Schule mit Noten gehen wolle, statt mir zu sagen, dass gerade ich meinen Mitschülern gegenüber eine ganz besondere Verantwortung trüge und mich an ihrem weiteren Schicksal für immer schuldig machen würde, wenn ich jetzt nicht meine Haltung änderte, statt mich zu fragen, ob das vielleicht meine ganz besondere Form der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenfächern sei, statt mir nahezulegen, es müsse mir doch klar sein, welch negatives Vorbild ich mit meinem Verhalten gegenüber X, Y und Z abgäbe, die sich eine solche Haltung im Gegensatz zu mir gar nicht leisten könnten, statt mir zu verstehen zu geben, dass ich sie mit meinem Verhalten auch ganz persönlich sehr traurig machte, statt mir also zu erklären, wie wichtig und richtig hier alles sei und dass mit mir wohl etwas nicht stimme, sah sie mich einfach nur freundlich an und sagte: "Du hast so einen Brast, hm?"
Sie war es auch, die sich um mich kümmerte, als ich auf einer Klassenfahrt krank wurde und fiebernd in einem Hauszelt lag, gegen dessen Stirnwand den ganzen Tag Elfmeter geschossen wurden. Und die einem ihrer Kollegen, der fürchterlich geschafft aussah und den man vormittags in seiner Klasse laut und ausdauernd hatte herumbrüllen hören, einen kalten Waschlappen auf die Stirn legte. "Na, Kranker?", sagte sie und ich beobachtete, wie er kurz die Augen schloss, ihre Hand nahm und für wenige Sekunden entspannt und friedlich aussah.
Wir machten ständig Witze über sie, die Worte Bhagwan und Poona und Rolls Royce fielen immer öfter, und es gab ein zwinkerndes Einverständns mit manchen ihrer Kollegen, die selbst ab und zu durchblicken ließen, für wie unsinnig sie es hielten, dass "eine erwachsene Frau" an diesen "Quatsch" glauben könne. Wenn ich mich recht erinnere, kam sie nach den Sommerferien äußerlich noch einmal deutlich verändert zurück, sie musste bei den Sannyasin gewesen sein, man merkte ihr an, dass sie an dieser Schule nicht mehr am richtigen Platz war, und als ihr ein Schüler gehässig entgegenrief: "Ha! Ha! Ha! Dein Guru ist verhaftet worden! Ha! Ha! Ha! Was sagst du jetzt zu deinem Guru!", schlug sie die Hände vor die Augen und rief: "Ihr wisst nicht, was ihr sagt!"
Sie verließ dann die Schule. Wir blieben noch jahrelang da.
Da so vieles neu und ungewohnt war, die Architektur des Gebäudes, die ganzen neuen Wörter, das Sitzen im Stuhlkreis, die Partner- oder Teamarbeit, das Mittagessen in der Schule, die langen Unterrichtstage, der weitgehende Verzicht auf leistungsbezogene Rückmeldungen, die Konzentration auf "soziales Verhalten" und vieles mehr, war es auch nicht weiter verwunderlich, dass eine, wie man bald von den Mitschülern erfuhr, von diesem Guru, du weißt schon, als Lehrkraft tätig war und aus ihrem Glauben keinen Hehl machte. Was ihr Äußeres anging. Irgendwelche Versuche der Indoktrination habe ich dagegen nie mitbekommen. Jedenfalls nicht, was diese Frau und den Bhagwan von Poona anging.
In unserer Klasse unterrichtete sie Musik, das funktionierte so, wie es damals eben war: Einmal hörten wir das instrumentale Intro von Pink Floyds Shine on You Crazy Diamond und malten dazu psychedelische Bilder. Einmal versuchten wir, Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha von Trio auf dem Klavier zu spielen. Einmal holten wir die ganzen teuren Metallophone aus dem üppig ausgestatteten Instrumentenraum und schlugen darauf herum. Einmal sollten wir, Hacke, Spitze, 1,2,3, hüpf!, klatsch!, tanzen. Ich fand es grauenhaft. Ich fühlte mich wie in einer Parallelwelt, man nannte es Unterricht, aber ich fühlte mich wie in einem Labor. Jeden Tag konnte alles anders sein, meine Bezugssysteme waren hier weitgehend unbrauchbar, vieles schien willkürlich und chaotisch zu sein, aber da ich gerne an diese Schule gewollt hatte und man uns auch täglich erzählte, was für ein Glück wir hätten, dort hingehen zu dürfen, kreidete ich mir mein Unbehagen selbst an, denn wer hier nicht glücklich war, mit dem musste etwas nicht stimmen. Anderswo gab es Noten! Anderswo wurde nicht diskutiert! Anderswo musste man Hausaufgaben machen!, hieß es, wenn jemandem mal etwas nicht gefiel.
Also lief ich manchmal ziemlich desorientiert und mit einem Kloß im Hals durch das riesengroße Gebäude, in dem man so tolle Sachen machen konnte, ein Fotolabor gab es und einen Irrgarten und Theater-AGs. Und saß bockig auf meinem Stuhl, die Arme verschränkt, als Hacke, Spitze, 1,2,3, hüpf!, klatsch! gegeben werden sollte. Warum ich denn nicht mitmachte, fragte mich E. Weil das alles doof ist und Mist und Scheiße, antwortete ich und stierte böse auf den Boden.
Als die anderen in die Pause gingen, musste ich noch dableiben. Und nun geschah etwas Wunderbares.
Statt mir zu erklären, wie toll das ist, was hier gemacht wird, und wie falsch von mir, dabei nicht mitzumachen, statt mich zu fragen, ob ich denn wohl lieber auf eine böse andere Schule mit Noten gehen wolle, statt mir zu sagen, dass gerade ich meinen Mitschülern gegenüber eine ganz besondere Verantwortung trüge und mich an ihrem weiteren Schicksal für immer schuldig machen würde, wenn ich jetzt nicht meine Haltung änderte, statt mich zu fragen, ob das vielleicht meine ganz besondere Form der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenfächern sei, statt mir nahezulegen, es müsse mir doch klar sein, welch negatives Vorbild ich mit meinem Verhalten gegenüber X, Y und Z abgäbe, die sich eine solche Haltung im Gegensatz zu mir gar nicht leisten könnten, statt mir zu verstehen zu geben, dass ich sie mit meinem Verhalten auch ganz persönlich sehr traurig machte, statt mir also zu erklären, wie wichtig und richtig hier alles sei und dass mit mir wohl etwas nicht stimme, sah sie mich einfach nur freundlich an und sagte: "Du hast so einen Brast, hm?"
Sie war es auch, die sich um mich kümmerte, als ich auf einer Klassenfahrt krank wurde und fiebernd in einem Hauszelt lag, gegen dessen Stirnwand den ganzen Tag Elfmeter geschossen wurden. Und die einem ihrer Kollegen, der fürchterlich geschafft aussah und den man vormittags in seiner Klasse laut und ausdauernd hatte herumbrüllen hören, einen kalten Waschlappen auf die Stirn legte. "Na, Kranker?", sagte sie und ich beobachtete, wie er kurz die Augen schloss, ihre Hand nahm und für wenige Sekunden entspannt und friedlich aussah.
Wir machten ständig Witze über sie, die Worte Bhagwan und Poona und Rolls Royce fielen immer öfter, und es gab ein zwinkerndes Einverständns mit manchen ihrer Kollegen, die selbst ab und zu durchblicken ließen, für wie unsinnig sie es hielten, dass "eine erwachsene Frau" an diesen "Quatsch" glauben könne. Wenn ich mich recht erinnere, kam sie nach den Sommerferien äußerlich noch einmal deutlich verändert zurück, sie musste bei den Sannyasin gewesen sein, man merkte ihr an, dass sie an dieser Schule nicht mehr am richtigen Platz war, und als ihr ein Schüler gehässig entgegenrief: "Ha! Ha! Ha! Dein Guru ist verhaftet worden! Ha! Ha! Ha! Was sagst du jetzt zu deinem Guru!", schlug sie die Hände vor die Augen und rief: "Ihr wisst nicht, was ihr sagt!"
Sie verließ dann die Schule. Wir blieben noch jahrelang da.
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vert,
Dienstag, 9. Februar 2010, 21:31
ich kenn die kollegen nur als betreiber einer lokalen disco. morgens immer fleißig in den bioladen, biomilch für die cocktails und den kaffee, davon könnten sich andere clubbetreiber mal eine scheibe abschneiden.
gab's bis weit in die nuller, dann waren sie mit ihrem publikum wohl alt und unrentabel geworden.
ungefähr zur gleichen zeit machte der versackerschuppen auf der anderen straßenseite zu, dort wo man immer erst ab drei hinging. große lücke!
komisch war das irgendwie, die läden waren doch schon immer schon da gewesen! - und es gibt immer noch revival parties.
gab's bis weit in die nuller, dann waren sie mit ihrem publikum wohl alt und unrentabel geworden.
ungefähr zur gleichen zeit machte der versackerschuppen auf der anderen straßenseite zu, dort wo man immer erst ab drei hinging. große lücke!
komisch war das irgendwie, die läden waren doch schon immer schon da gewesen! - und es gibt immer noch revival parties.
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venice_wolf,
Mittwoch, 10. Februar 2010, 13:15
Ich kann von keinem solchen Fall melden. Bei uns war die Schule stinknormal, vielleicht hätte da ab und zu ein Guru gar nicht geschadet.
Mit Duzen usw war bei mir auch nix, ich habe immer Distanz gehalten.
Dafür ist es jetzt lustiger, wenn mich manch unbekannter "Alter" ganz spontan Duzt, in der Annahme das ich weit jünger als mein Alter bin und er sich sowas erlauben kann.
Die schauen dann ganz blöd wenn man gleich "Du" antwortet.
Weiteres bringt es mich auf die Palme, wenn jugendliche mich mit "Sie"ansprechen, in der Annahme dass ich weit älter als mein Alter bin...
Die Aelteren glauben ich bin jünger, die Jüngeren glauben ich bin älter ??? was ist denn das??
midlife crisis?
take it easy... jeder hat etwas zum verstecken, ausser ich und mein Affe.
Mit Duzen usw war bei mir auch nix, ich habe immer Distanz gehalten.
Dafür ist es jetzt lustiger, wenn mich manch unbekannter "Alter" ganz spontan Duzt, in der Annahme das ich weit jünger als mein Alter bin und er sich sowas erlauben kann.
Die schauen dann ganz blöd wenn man gleich "Du" antwortet.
Weiteres bringt es mich auf die Palme, wenn jugendliche mich mit "Sie"ansprechen, in der Annahme dass ich weit älter als mein Alter bin...
Die Aelteren glauben ich bin jünger, die Jüngeren glauben ich bin älter ??? was ist denn das??
midlife crisis?
take it easy... jeder hat etwas zum verstecken, ausser ich und mein Affe.
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nnier,
Mittwoch, 10. Februar 2010, 15:31
Zum Distanzhalten gehören ja meistens zwei. Es gibt da diese Zeichnung von Marie Marcks mit einem Lehrer, der spricht: "Ihr könnt ruhig 'du' zu mir sagen!", und die Schüler antworten: "In Ordnung, und du kannst ruhig 'Sie' zu uns sagen!"
Ansonsten ist es schon weit über zehn Jahre her, dass ich aufgrund eines von mir getragenen T-Shirts aus jüngerem Munde wie folgt angesprochen wurde: "Was - Sie waren auf dem XY-Konzert!?", und irgendwann in dieser Zeit merkte ich auch, dass ich mich gar nicht mehr angesprochen zu fühlen brauchte, wenn von "Jugendlichen" die Rede war.
(Hast du jetzt auch den Affen-Ohrwurm? Come on, come on - come on, come on! Come on, it's such a joy! Come on, it's such a joy! Come on, let's take it easy! Come on, let's take it easy! Take it eeeeeeaaasy! Den ganzen Tag.)
Ansonsten ist es schon weit über zehn Jahre her, dass ich aufgrund eines von mir getragenen T-Shirts aus jüngerem Munde wie folgt angesprochen wurde: "Was - Sie waren auf dem XY-Konzert!?", und irgendwann in dieser Zeit merkte ich auch, dass ich mich gar nicht mehr angesprochen zu fühlen brauchte, wenn von "Jugendlichen" die Rede war.
(Hast du jetzt auch den Affen-Ohrwurm? Come on, come on - come on, come on! Come on, it's such a joy! Come on, it's such a joy! Come on, let's take it easy! Come on, let's take it easy! Take it eeeeeeaaasy! Den ganzen Tag.)
venice_wolf,
Mittwoch, 10. Februar 2010, 16:03
Ohrwurm...ja. Das passier mir öfter. Genauso wie ich oft Strofen oder Zitate im Alltag gebrauche.
Nur die wenigsten kommen dahinter, wenn man
" es geht schon vorbei, mit etwas Hilfe meiner Freunde"
" meine schlechten Gedanken sind so weit entfernt"
" und da gibt es diese lange und kurvenreiche Strasse"
" der Himmel war blau und die See grün"
" toll heute, es kommt di Sonne"
locker in einem Satz (ver)steckt
Nur die wenigsten kommen dahinter, wenn man
" es geht schon vorbei, mit etwas Hilfe meiner Freunde"
" meine schlechten Gedanken sind so weit entfernt"
" und da gibt es diese lange und kurvenreiche Strasse"
" der Himmel war blau und die See grün"
" toll heute, es kommt di Sonne"
locker in einem Satz (ver)steckt
nnier,
Donnerstag, 11. Februar 2010, 10:09
Erst heute früh wieder: Wachte auf, fiel ausm Bett, zog mir n Kamm übern Kopf. Ging irgendwie runter und trank ne Tasse, sah dann hoch und merkte, ich war spät dran. Fand meinen Mantel, schnappte mir den Hut und erwischte gerade noch den Bus. Ging nach oben und rauchte eine, jemand redete und ich begann zu träumen.
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