Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Normaluhr
nnier | 30. September 2009 | Topic Brainphuq
Bestattungen / Fuhrunternehmen
(Werbeschild, das ich leider nicht fotografieren konnte)
Ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst, einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum zu verursachen. Das Licht von der Sonne braucht, so meine ich, immerhin acht Minuten, bis es die Erde erreicht hat. Die ja nicht, so wie Sie sich das vorstellen, schön gleichmäßig eingereiht nach Merkur und Venus, vor Mars und Jupiter sowie den noch entfernteren Mitgliedern der hiesigen Planetengemeinde um das Zentralgestirn kreist, jedes Planetchen schön brav etwas weiter weg als das vorige, der eine mal etwas kleiner und der andere mal etwas größer - nein, da liegen Sie leider völlig falsch. Was mir mal die Augen öffnete, war folgender Vergleich: Wäre die Sonne eine Orange, dann wäre unser Heimatplanet eine Erbse, die sich um die lebensspendende Zitrusfrucht dreht - in elf Metern Abstand. Und nach außen wachsen die Abstände noch drastischer! Leider fehlen mir als derzeit von Internet und Literatur (Ausnahme: Die aktuelle HörZu) abgeschnittener Mensch jegliche Recherchemöglichkeiten, deshalb nageln Sie mich bitte nicht fest. Aber ungefähr ist es so, dass schon die Gasriesen sehr weit entfernt sind, und dann ist es noch mal ein echter Fußmarsch bis zum Uranus – dann denkt man so, puh!, jetzt bin ich zum Glück fast da, ich habe immerhin schon acht von den neun Planeten erwandert, doch da täuschen Sie sich mal besser nicht! Von dort bis zum Pluto läuft man sich echt noch mal die Sohlen ab. Wenn Sie ihn überhaupt antreffen. Denn er ist ja im Verhältnis kleiner als eine Fruchtfliege (Drosophila Melanogaster, das Lieblingstier der Genetiker) – und vor allem: Wer sagt denn, dass die alle schön auf einer Linie liegen? Sie beschreiben auf ihrer Reise ja elliptische Bahnen, in deren Zentrum die Apfelsine pulst! Und da kann es schon mal vorkommen, wenn du bspw. in Richtung Alpha Centauri loswanderst, dass du den einen auch in dieser Richtung antriffst, und der andere aber so: Nee, ich bin gerade genau auf der anderen Seite - komm doch in 4000 Jahren noch mal vorbei.

Acht Minuten also, so alt ist das Sonnenlicht, wenn wir es sehen, und wenn dann mal was ist, kann man sagen: Ein irrer Effekt, diese Eruption da oben, Wahnsinn! Schade nur, dass das nicht live ist, das macht es irgendwie ... unauthentisch. So wie damals, als die Griechen Europameister wurden. Da ging das nämlich los mit dem DVBT, und während ich die Flanke noch in Richtung Strafraum segeln sah, brüllten sie bei Mykonos schon wie die Wahnsinnigen. Ich gönnte das den Hellenen ja von Herzen, denn auch wenn ich schon lange kein Bifteki mehr gegessen habe, lecker ist es doch, und den Weißkrautsalat können sie einfach wirklich gut, und wir grüßen uns immer freundlich, zudem fand ich es einfach schön, dass Otto Rehhagel, nachdem er schon mit Kaiserslautern im ersten Saisonspiel (als Aufsteiger! Auswärts!) bei den Bayern, die ihn zuvor geschasst hatten, gewonnen hatte und dann (als Aufsteiger!) Meister geworden war, nun auch noch mit den Griechen die Europameisterschaft holen sollte mit seiner antiquierten Spielweise, und mit seinen Allüren muss man da einfach leben – nur, dachte ich, was jubelt ihr denn, der ist doch noch gar nicht drin!

An diesem Tag begriff ich, wie fragmentiert die Welt ist, und dass jeder in seiner eigenen Realität lebt. Denn während mein DVBT-Receiver noch die Signale des MPEG-Streams entschlüsselte*, konnten die Griechen bereits den Siegtreffer des heute erfolglos beim 1. FC Nürnberg kickenden und damaligen Werder-Spielers Angelos Charisteas bejubeln. Noch krasser ist das natürlich für die Marsbewohner, wenn die total aufgeregt ankommen: "Ey, wisst ihr was?? Die Sonne ist gerade explodiert!" Und wir dann so: "Gähn, das wissen wir längst! Aber erzähl’s denen vom Jupiter, denen verkaufen wir übrigens auch immer unsere alten Zeitungen."

Ich muss sagen, dass man an den Hanseaten in der Hansestadt durchaus mögen kann, dass die so hanseatisch-zurückhaltend sind. In München z.B., oder Dortmund, Gelsenkirchen, Köln, da wäre so etwas doch gar nicht denkbar. In Bremen dagegen: kein Problem. Thomas Schaaf hat nach der Meisterschaft von 2004 erst mal mit der Korbballmannschaft seiner Tochter Korbball gespielt, Eltern gegen Korbballerinnen, und niemand hat hysterisch gekreischt. Ich saß an dem Tag im Bürgerpark, da lief Klaus Allofs spazieren und wurde auch nicht belästigt. Eine Zeitlang konnte man Andreas Herzog und andere Werderspieler mittags in einem ganz normalen Restaurant antreffen, wo sie genauso in Ruhe gelassen wurden wie Herr Rehhagel, der dort gerne die Zeitung las. Später, in München, half ihm nicht mal mehr das falsche Klingelschild ("Rubens") gegen die investigativen Klatschreporter. In Bremen hingegen, als er mal an einer Tankstelle neben der Waschanlage stand und auf seinen Sportwagen wartete, der dort gerade gereinigt wurde, hätte ihm fast mal jemand seinen Autoschlüssel in die Hand gedrückt mit den Worten: "Einmal das volle Programm, Meister, und bitte mit 1-A-Felgenreinigung!" Ich habe mich dann aber doch nicht getraut.

Das mit dem Riss im Raum-Zeit-usw. wollte ich ja noch erklären. Es handelt sich um folgendes. Was Sie jetzt lesen, werde ich längst geschrieben haben. Anders gesagt: Was ich "jetzt" schreibe, findet für Sie erst in der Zukunft statt – die Sie aber subjektiv als "Gegenwart" erleben. Erleben werden.

Ich kann mir vorstellen, dass das auf sie befremdlich wirkt. Wirken wird. Lassen Sie es mich ganz einfach ausdrücken: Neben mir steht ein Funkwecker, gesteuert durch das Signal der atomphysiologischen Quartzgesellschaft in Braunschweig, deren absolut zuverlässiges Signal maximal 1 Sekunde auf 1 mio. Jahre von der wirklichen** Zeit abweicht. Gut, höre ich Sie sagen (werde ich Sie sagen hören), das läppert sich auch irgendwann, aber darum geht es jetzt gar nicht. Soll ich Ihnen sagen, was der gerade anzeigt:
Dienstag, 29. September 2009, 22:01:43.
Und nun schauen Sie mal auf das Veröffentlichungsdatum dieses Beitrags.

--
*Was für ein entsetzlicher Satz.
**Hö hö.

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venice_wolf, Mittwoch, 30. September 2009, 12:09
Venedig, Mittwoch 30.9.09, 10:09:20, die Zukunft: ich steige ins Auto und fahre nach Mailand, die Vergangenheit: ein gutes Frühstück... ist das nix?
Obwohl ich eine teure Uhr habe, geht die nicht ganz genau wie ich mir das vorstelle... immer fix ein paar Minuten Voraus, aber mit der Zeit werden es (komischerweise) nicht mehr.
Also auch das ständige justieren sinnlos. Die bleibt so und soll eigentlich nur schön sein.
Wobei die eigentliche Zeit sowieso bei bestem Willen und mit keinem Gerät messbar ist.
Manche Sachen dauern ewig lange und sind ganz kurz (und umgekehrt)

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jean stubenzweig, Mittwoch, 30. September 2009, 13:03
Was ist das denn? Reisenden-Literatur, also Literatur eines Immer-Unterwegs-Seienden? Auf jeden Fall gegen die Sinnlosigkeit des Keine-Zeit-Habens geschrieben.

Ganz fein. Ich habe lange nicht mehr so lang anhaltend geschmunzelt. Und das bei ziemlicher Kurzweil.

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nnier, Mittwoch, 30. September 2009, 21:14
Die Herren,

ich danke vielmals.

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monnemer, Mittwoch, 30. September 2009, 13:25
Mir schwirrt der Kopf. Allerdings wusste ich vorher, dass mir gleich der Kopf schwirren würde.

Ihren Text habe ich mehrmals gelesen, so gut gefällt er mir. Auch hier weiss ich vorher, dass ich ihn nochmals lesen werde. Danke.

("Rehakles" ist übrigens ein Spitzen-Spitzname.)

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nnier, Mittwoch, 30. September 2009, 21:16
Auch Ihnen sei herzlich gedankt.

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vert, Donnerstag, 1. Oktober 2009, 02:11
man mag gar nicht über die grammatik nachdenken, sollten zeitreisen jemals möglich werden gewesen sein.

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venice_wolf, Donnerstag, 1. Oktober 2009, 11:20
Und wann man in eine andere Zeitzone kommt und auf einmal heisst es, die Uhr so und soviel vor- oder zurückstellen, und aus 6:00 wird 12:00 und aus 8:00 wird 4:30 (jaja das gibt's... wo war ich da??? Bitte raten)da merkt man erst was das für ein Schwachsinn ist.

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