Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
East Sheen Avenue
nnier | 14. September 2009 | Topic In echt
Es hätte mich eventuell stutzig machen können, dass ein Bediensteter der Stadt, ein Mitarbeiter des ÖPNV, nicht die Straße kannte, nach der ich ihn fragte. Er rätselte herum, meinte, sie könne wohl in dem und dem Stadtteil sein, ich fand das unerhört: Hätte ich in meiner Heimatstadt einen Busfahrer gefragt, na, der hätte aber sofort bescheid gewusst!

Ich hatte keinerlei Vorstellung von der Größe dieser Stadt. Der Stadtplan wirkte auch nicht größer als andere, gut, nur dass die Straßen darauf deutlich kleiner aussahen, und wahrscheinlich war es nur die Patentfaltung, die es ermöglichte, so viel darauf unterzubringen - wer weiß! Ich hätte womöglich aufmerksam werden können, auch durch die langen Fahrzeiten der Busse und U-Bahnen, in denen ich stundenlang erst in die eine und dann wieder in die andere Richtung gefahren war. Allerdings war ich noch etwas mitgenommen, und schließlich war das mein erster Flug alleine gewesen, und ich war ja so froh, als ich endlich angekommen war, spät am Abend, in jener Straße, nach der ich den U-Bahn-Mitarbeiter gefragt hatte. Dort hatte ich über eine private Verbindung ein Zimmer gemietet, und als ich müde und verfroren dort auftauchte, wollte ich ins Bett, ich hatte kein Ohr mehr für die vielen Ratschläge der Vermieterin, welche Fahrscheine kaufen solle und wo ich am besten entlangfahren könne und was ich sonst noch unbedingt beachten solle.

Als ich am nächsten Vormittag erwachte, war außer mir niemand im Haus, dabei pflegte, so war mir erzählt worden, das mittelalte Ehepaar zahlreiche Zimmer an Jugendliche und junge Erwachsene zu vermieten, es sei ein internationales Haus, die Abende immer lustig, da hatte ich womöglich etwas verpasst am Vorabend, aber nun hieß es erst einmal frühstücken, der altertümliche Toaster sengte die Weißbrotscheiben aus der Packung mit dem abgelaufenen Haltbarkeitsdatum ordentlich an, ich aß einen Berg Marmeladentoast und suchte dann auf dem Stadtplan das Bankenviertel heraus, wo ich die Person treffen sollte, der ich eine größere Geldsumme überwiesen hatte, damit sie mir die Eintrittskarten besorge.

Wie ich dort schließlich hinfand, weiß ich nicht, erinnere mich aber an das aufsteigende Gefühl leichter Panik, als man mir zu verstehen gab, sie habe heute frei und, nein, ihre Adresse könne man mir nicht nennen, sorry. Es folgten ein internationales Telefonat aus der Telefonzelle und diverse fernmündliche Ratschläge, wo ich es eventuell versuchen könne, der Tag ging ins Land, ich fuhr in der Gegend herum und suchte die erste der Adressen auf, die zu probieren man mir geraten hatte, klingelte also irgendwo, ging mutlos die Treppe hinauf und wollte schon verzweifeln, als mir statt der erwarteten jungen Frau ein älterer Herr die Tür öffnete, dem ich, da ich ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte, klarzumachen versuchte, dass ich doch extra hergeflogen sei und nun nicht an meine Tickets käme, ich malte mir schon die tristen, sinnlosen Tage aus, die folgen würden, als er mich anlächelte und, "Wait a minute", in seiner Wohnung verschwand und mit den Tickets in der Hand wieder herauskam. "Have fun!", ich konnte nur debil grinsen, ich weiß nicht, ob ich mich bedankt habe, ich rannte die Treppe hinunter und musste mich ganz schön beeilen, denn schließlich wollte ich rechtzeitig zur Wembley Arena kommen!

Nach dem Konzert ließ ich mir wie üblich Zeit, stürmte nicht mit den Massen hinaus, sondern blieb in der Halle, sammelte mich, ging dann als einer der letzten hinaus und schlenderte zur U-Bahn-Station. Dort verriegelte gerade ein Uniformierter den Eingang: "We're closing!"
"You're what!?", fragte ich entsetzt und musste feststellen, dass meine Vorstellungen von der Weltstadt, in der rund um die Uhr Betrieb herrsche, und erst recht nach einem Konzert in der berühmten Wembley Arena, genauso naiv gewesen waren wie ich die ganze Unternehmung angegangen hatte.

Zwar hatte ich noch 20 Pfund in der Tasche, doch bildeten diese nach den erheblichen Ausgaben, die ich für Flug, Unterkunft, Eintrittskarten usw. getätigt hatte, schon einen Gutteil meines Restvermögens, das mich durch die Woche bringen sollte. Unschlüssig lief ich durch die Gegend, sah aber irgendwann ein, dass mich dies in der großen, großen Stadt, die viel größer war, als ich es mir hatte vorstellen können, nicht weiterbrachte und steuerte einen Taxistand an. Hoffentlich, so dachte ich, muss ich nicht mehr als zehn Pfund ausgeben, nannte dem unfreundlichen Fahrer die Zieladresse und konnte es zum zweiten Mal an diesem Tag nicht fassen: Er kannte die Straße nicht. Und so etwas wollte ein Taxifahrer sein! Ich faltete meinen Stadtplan auseinander, zeigte ihm das Ziel, er schien zu begreifen und fuhr los. Und fuhr. Und fuhr. Die zehn Pfund waren schon fast erreicht, ich wurde unruhig, zwölf Pfund, 15 Pfund, ich fragte, wie weit es noch sei, 18 Pfund, das sei noch ein gutes Stück, 20 Pfund, nun hätte ich Farbe bekennen müssen, aber ich blieb einfach sitzen. Zu lang war der Tag gewesen, zu kalt die winterliche Stadt, ich nahm mir vor, einfach ganz überrascht zu tun, wenn der Fahrpreis verkündet würde, und bei 28 Pfund standen wir schließlich, es war weit nach Mitternacht, vor dem Haus, in dem es stockdunkel war.

Ich erklärte dem Fahrer meine Situation, beruhigte ihn, er könne die 20 Pfund sofort haben und den Rest würde ich jetzt gleich aus meinem Zimmer holen, er zog die Augenbrauen noch höher, ich suchte den Schlüssel in meiner Jackentasche, ich bekam das Schloss im Dunkeln nicht auf, ich fand den Lichtschalter nicht, ich stolperte auf der Treppe, ich öffnete die falsche Zimmertür, fand schließlich meines, griff ins Innenfach meines Rucksacks, erwischte einen Zehnpfundschein, rannte die Treppe hinunter, die Tür knallte hinter mir, glücklich streckte ich dem Fahrer den Schein hin, der mich vorwurfsvoll ansah, das habe aber lange gedauert und, oh, das sei aber zu wenig Geld. Ich war geschockt. Die Anzeige des Taxameters zeigte inzwischen 32 Pfund. Konsterniert machte ich kehrt, fummelte den Schlüssel heraus, Türschloss, Treppe, Licht, Zimmertür, allerletztes Geld, Treppe runter, Haustür knallt, Taxameter zeigt 34 Pfund, hier, bitte, noch 5 Pfund, stimmt so, der Taxifahrer fuhr wortlos ab und ich schloss zum dritten Mal die Haustür auf, ächzte die Treppe hoch, ließ mich ins Bett fallen und hasste die Londoner.

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jean stubenzweig, Dienstag, 15. September 2009, 00:13
Aber Bremen hat doch zweifelsohne auch eine gewisse Größe?

Ich äußere mich vorsichtig fragend, da ich immer nur im Zentrum war.

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jean stubenzweig, Dienstag, 15. September 2009, 00:20
Obwohl – die Weserburg ist ja nicht mehr Zentrum. Oder?

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nnier, Dienstag, 15. September 2009, 00:39
Bremen war damals nicht mal die Bezugsgröße; Göttingen war es. Dass London viel größer sein musste, war mir schon irgendwie klar - und doch habe ich erst dort verstanden, wie groß. Ich habe dort wirklich Lehrgeld bezahlt - nicht nur im Taxi, auch z.B., wenn ich mich für den Bus statt für die U-Bahn entschied, um "mal eben" in einen anderen Stadtteil zu fahren.

Die Weserburg, die ich übrigens schändlich selten besuche, liegt schon ziemlich zentral. Man versucht seit einigen Jahren, die Stadt "an den Fluss" zu holen, d.h. baulich Trennendes zu entfernen und das schöne Weserufer zu beleben, und siehe da, es sind vom Dom oder von Karstadt aus zur Weserburg fünf Minuten zu Fuß, ein knapper Kilometer.

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jean stubenzweig, Dienstag, 15. September 2009, 07:10
Alles klar. Ich bin von Bremen ausgegangen.

London, Paris et cetera – Bus immer dann, wenn man Zeit hat. Ich habe zum Beispiel gerne Green Lines genommen, um über die Dörfer zu fahren. Wenn ich mich recht erinnere, dauerte es das letzte Mal etwa zwei Stunden für die dreißig Kilometer bis nach Windsor. Aber an jeder Milchkanne sah man was von Land und Leuten. Und es kostete weniger als die Hälfte des Fahrpreises anderer Buslinien. Aber ein jugendlicher Göttinger will ja nicht in so eine olle Kate auf dem Land, sondern nach Wembley. Auch konnte er nicht wissen, daß die Londoner so früh schlafen gingen. Ich mußte auch erleben, daß die Pubs um elf am Abend dichtmachten. Fast wie in Hessen. Da mußte man ins niedersächsische Hedemünden fahren, wo's einen Laden gab, der bis drei Uhr früh geöffnet hatte. Das wird wohl der Maßstab gewesen sein.

«Schändlich selten ...» Ich gestehe zu meiner Schande, nach der Verabschiedung des Gründungsdirektors nicht mehr dort gewesen zu sein. Das sollte ich korrigieren, denn es ist durchaus ein interessanter Ort. Auch in der Kunsthalle sollte ich mal wieder Guten Tag sagen.

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kid37, Dienstag, 15. September 2009, 12:14
Die Weserburg ist eine der wenigen Gründe für mich, ab und an nach Bremen zu fahren.

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nnier, Dienstag, 15. September 2009, 14:12
Ähem, ist es tatsächlich schon wieder zehn Jahre her ... ?

Herr Stubenzweig: Ja, die Busse nehme ich inzwischen auch gerne, wenn ich weiß, dass ich Zeit habe und viel von der Stadt sehen will. Besonders schön auch zum ziellosen Herumfahren. Meine Vorkenntnisse zum damaligen Zeitpunkt beschränkten sich allerdings darauf, dass ich einige Male Scotland Yard gespielt hatte. Und wenn man dann an einem Nachmittag meint, man könne ja mit dem Bus zur Wembley Arena fahren, kann die Zeit verdammt lang werden.

Herr kid - vergessen Sie nicht das Rundfunkmuseum!

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frau braggelmann, Dienstag, 15. September 2009, 23:48
bremen... da gibt es auch whirlpools...und die weserburg mit einem – für mich gigantischen oelgemälde (ich hoffe öl...sonst gibts wieder prügel vom fachmann) von "campbells soup".......oh gott, es ist synthetic polymer on canvas 50,8 cm x 40,6 cm von 1962...vergib mir, oh herrlicher...

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jean stubenzweig, Mittwoch, 16. September 2009, 07:13
Wenn ich mich da moderierend einschalten dürfte: Campbell's Soup wurde von einem geschaffen, der Öl allenfalls noch im Salat genossen oder im Auto verheizt, es zu diesem Zeitpunkt als Ingredienz der Malerei jedenfalls liquidiert hatte; hier also: Kunst(stoff) auf Leinwand. Dieser Herr hat nämlich gedruckt, und zwar mit dem Sieb, wie in der Warenwerbewelt üblich, die er unter anderem zur Kunst erklärt hatte. Außerdem hängt diese Dose überall, so oft, daß man dieser Suppe überdrüssig werden kann. Und in der Weserburg dürfte es auch nur vorübergehend gehangen haben, da es sich um ein Museum handelt, das alleine zu dem Zweck gegründet wurde, unterschiedliche Privatsammlungen temporär zu präsentieren.

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vert, Mittwoch, 16. September 2009, 13:07
schließlich ist campbell's auch in lübeck;-)

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jean stubenzweig, Mittwoch, 16. September 2009, 13:32
Ja, der Warhoi-Nachlaß kauft sämtliche Suppenfabriken auf.

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