Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Das muss gar nicht.
nnier | 18. Januar 2009 | Topic Gelesn
Wahrscheinlich geht es darum, vieles zu kennen und zu lassen, was sich als Erzählkunst etabliert hat, um dann das Erzählen noch einmal zu erfinden, Mündlichkeit und Ausformung in eins setzend, was nur gelingen kann, wenn da eine Kraft ist, die das Kalkül hinter sich lässt zugunsten einer Lust, die wiederum nicht die des Fabulierens ist, sondern eher das Unwägbare wägt und der Virtuosität entsagt. Wer so erzählt, hat alle Vorbehalte in Hingabe und alle Hingabe in Form aufgelöst: und darum ging es mir, und dann erst um all das, was über Edgar und Georg und das Land ihrer Kindheit gesagt werden könnte, doch in den Erzählungen kaum je gesagt wird, denn es gibt dieses Darüber dort nicht, wo der Raum wie seine Menschen immer nur erzählend erst wirklich werden.
Ich habe ein wirklich schönes Buch gelesen. Geschrieben hat es Michael Donhauser, den ich bisher nicht kannte. Zum Glück kann er besser schreiben als über sein Geschriebenes reden, denn, ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, was er mit dem sagen will, was in der Umschlagklappe steht und ich hier oben zitiert habe.
Es klingt für mich nach einer vollkommen unnötige Rechtfertigung, nach dem Drang, zu zeigen, dass man seine Form ganz bewusst gewählt habe. Aber warum muss jemand, der in einer klaren, starken, einfachen, am Mündlichen orientierten Sprache Kindheitsgeschichten schreibt, noch betonen, dass er "der Virtuosität" entsage, damit andeuten, dass er ja auch anders etc., und dann umständlich von einem "Darüber" sprechen, das es "dort" nicht gebe, wo etc.? Mir hilft das weder beim Verständnis der Texte noch bringt es mir den Autor näher. Der ja anscheinend auch Lyriker ist, man kann das im Internet nachlesen. Schreiben kann er exzellent, ich habe das Buch kaum weglegen können, und es bringt mir nichts, wenn im Klappentext Wendelin Schmidt-Dengler (als müsse man den kennen) mit den Worten zitiert wird, es handele sich hier um "das poetische Modell schlechthin, um von Kindheit zu erzählen". Mach aller wohl sein, würde Anneliese vielleicht sagen. Ich blättere lieber mal kurz das Buch auf:
Edgars Hände sind klein gewesen und blass, runzlig und an den Rändern schwarz vom Dreck, je ein Striemen hat die Handballen gerötet, unter dem Tisch hat mir Edgar seine Hände gezeigt. Ab dem zweiten Jahr sind wir in der Schule meistens nebeneinander gesessen, wir haben zwischen Tatzen, das sind Stockschläge auf die Hände, und Strafaufgaben wählen dürfen, Edgar hat immer Tatzen gewählt, er hat den Arm ausgestreckt, zuerst den rechten, und die Hand hingehalten. Der Lehrer ist schräg hinter seinem Schreibtisch gesessen, er hat den Stock, einen Haselnussstecken, auf der schmalen Ablage unter der Wandtafel liegen gehabt, er hat sich zurückgelehnt und ihn von dort geholt, dann hat er Edgar zwei Tatzen gegeben, auf die rechte Hand eine und eine auf die linke, nur zwei kurze Wischer habe ich gehört. Edgar ist wieder an seinen Platz neben mir gekommen, er hat sich mit dem Ärmel von seinem Pullover die Augen gerieben, ein paar Mal, dann hat er mir unter der Bank seine Hände gezeigt, und seine feuchten Augen haben gelacht. Ich habe immer die Strafaufgaben geschrieben, ich habe das Strafaufgabenheft unter dem Hausaufgabenheft versteckt und die Hausaufgaben gemacht.
Geht doch!

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vert, Sonntag, 18. Januar 2009, 16:35
tja, klappentexte halt. ein ständiges elend, danach kann man eigentlich wirklich keine bücher kaufen. allerdings ist ja meistens der verlag dafür zuständig, möglichst reißerisch am thema vorbei zu fabulieren.

vielleicht sollte man mal wieder foucault lesen. die sache mit der repressionstheorie greift tief.

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nnier, Sonntag, 18. Januar 2009, 22:06
Der Klappentext zumindest hätte mich, wäre das Buch mir nicht geschenkt worden (oder so warm empfohlen, wie ich es nun empfehle), eher abgeschreckt. Reißerisch kann man ihn ja nicht nennen, und ohne in eine Parodie abzugleiten, könnte man diesen leisen Erzählungen ohne Plot wohl auch keinen solchen verpassen - aber ein paar erhellende Worte zum Autor, einen ansprechenden Auszug als Appetitanreger, meinetwegen ein Zitat aus einer Rezension sollte man doch zusammenbekommen (wie z.B. aus dem oben verlinkten HR-Beitrag: ... und das nicht, weil Donhauser spektakuläre, besonders grausame oder besonders komische Geschichten erzählt, sondern weil er mit seiner Genauigkeit und Sprachkunst die Erlebnisse des Kindes zu etwas Allgemeingültigem macht. Diese Ängste, dieses Glück, diese Enttäuschungen kennen wir alle, selbst wenn sich äußerlich nichts mit dem erlebten Alltag des Kindes deckt.) Das verstehe ich, das weckt mein Interesse und meine Leselust - und die (vollkommen legitimen, das soll hier nicht missverstanden werden) Reflexionen des Verfassers über seinen Zugang zum Schreiben können gerne in einem Nachwort, einem Interview oder dergleichen untergebracht werden. Dort stehen sie dann vermutlich auch in einem Zusammenhang.

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vert, Sonntag, 18. Januar 2009, 23:48
ja stimmt, der vorwurf "reißerisch" greift hier wohl nicht ganz;-)

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