Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Samstag, 2. Dezember 2023
I wie Ikarus
nnier | 02. Dezember 2023 | Topic Musiq
Es ist einige Jahre her, da erhielt ich eines Abends einen dringlichen Anruf. Er sitze gerade mit Kollegen beim Kaltgetränk, sprach der Anrufer, und man könne sich in einer wichtigen Frage nicht einigen: Wie ich denn darüber dächte? Habe die Progressive-Phase von Genesis bereits 1975 mit dem Weggang Peter Gabriels geendet, oder erst zwei Alben später, als sich Steve Hackett von der Band trennte?

Manchmal verstehe ich die Leute nicht. Ganz eindeutig kamen mit A Trick Of The Tail (1976) und Wind And Wuthering (1977) noch zwei kristallklare Exemplare aus dem Genre Progressive, da spielt der Sängerwechsel keine Rolle, und schon mit Peter Gabriel hatte man sich auf The Lamb Lies Down On Broadway hin zu einer Abfolge von kürzeren, konventioneller strukturierten Songs mit Refrain entwickelt, die teilweise auch außerhalb des Albumkontextes funktionieren - und dennoch sind genügend Prog-Elemente zu finden, wie längere Instrumentalpassagen, verstiegene Texte, komplexe Rhythmen und überraschende Taktwechsel, vor allem aber dieses übergreifende Albengefühl, unter anderem dadurch, dass Melodiefragmente und Klänge aus früheren Stücken an späterer Stelle wieder aufgenommen werden.

Steve Hackett war der prototypische Prog-Gitarrist, sitzend über die Gitarre gebeugt, das Kassengestell im Gesicht, einen größeren habituellen Abstand zu den extrovertierten, phallischen E-Gitarrenhelden der Hard- und Glamrocker konnte man sich schwerlich vorstellen. Noch heute wird er von Kennern als einer der am meisten unterschätzten Rockmusiker überhaupt gepriesen - u.a. für bestimmte, von ihm wohl erfundene, Spieltechniken wie das sogenannte Sweeping und Tapping. Kann sein, ich bin da auf der technischen Seite nicht so bewandert, mag aber seine Gitarrenarbeit auf den insgesamt sechs Genesis-Alben, an denen er beteiligt war, sehr gerne.

Als erstes Mitglied der Band brachte er ein Soloalbum heraus, frustriert von den Begrenzungen der stocksteifen Privatschülercombo, und nach seinem Ausstieg 1978 sein zweites, für mich bestes Album mit dem Titel Please Don't Touch. Danach kam nicht mehr viel, das mich interessiert hat, es sind zahllose Alben und er hat seine Kultgefolgschaft, die jedes kurze Genesis-Zitat auf seinen Konzerten bejubelt, aber das besagte Album erschien jüngst auf meiner inneren Playlist. Man weiß ja nie, woran es liegt, dass nach einer Latenzzeit von 10 oder 20 oder 30 Jahren plötzlich und sehr intensiv das Verlangen nach genau diesem einen, bestimmten Stück Musik aufkommt und sich dann wochenlang nicht stillen lässt. Nun also Please Don't Touch auf Heavy Rotation.

Schon die erste Seite ist erfreulich, da sind unerwartet flotte Liedchen wie zum Einstieg mit dem Gastsänger Steve Walsh von Kansas oder von Hackett selbst mit Stimmverzerrer gesungen, und da geht's eben schon los, am Ende dieses Liedes ist so etwas wie eine Jahrmarktsorgel zu hören, auf die man später zurückkommen wird.

Eine durchgängige Suite, und das ist nun mal das eigentlich Schöne am Prog, ist dann die zweite Seite: Vollkommen unerwartet geht es mit einem angejazzten Song mit der damals noch unbekannten Gastsängerin Randy Crawford los, normalerweise nichts für mich, hier passt aber alles und es werden zwischendurch klangliche Vorbereitungen getroffen, die für das zentrale Stück dieser Seite, Please Don't Touch noch wichtig werden, das nach einem instrumentalen Übergangsstück folgt. Und kaum fragt man sich, was danach noch kommen soll, wird ein weiterer sehr schöner Übergang angefügt, der zum unerwarteten Ende hinleitet.



Richie Havens ist so ein Name, den man kennen kann, aber vielleicht nicht unbedingt sofort zuzuordnen weiß. Hier freue ich mich seit Tagen wieder über seine großartige und absolut zu dem opulenten Icarus Ascending passende Stimme, mit allen "Hmmmms" und "Ooooohs", natürlich könnte das ein konventionelles Lied bleiben, aber es gibt jede Menge Bombast, ein falsches Ende und Rückgriffe auf Sounds und Akkorde der vorangegangenen Stücke, alles wie es sein muss.

Und selbstverständlich interessiert das 45 Jahre alte Zeug keine Sau. Aber mir gefällt's.

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Sonntag, 19. November 2023
Grow Old With Me
nnier | 19. November 2023 | Topic Musiq
Nach Adelaide habe ich es nicht geschafft, und das schmerzt, wenn man die Konzertberichte liest, aber doch nach Neuenkirchen-Vörden. Downscaling, nicht ganz freiwillig, aber vielleicht eine gute Übung: Eines Tages sitzt du in deinem Kämmerlein und hast nur noch deine Erinnerungen.



Vorbei die Zeiten, in denen du spontan ins Auto gehüpft bist, um ohne Ticket auf Verdacht zu so einem Geheimkonzert zu fahren, in Stockholm, oder - halt! - war es doch Kopenhagen, bieg erst mal hier ab, ich bin gerade nicht mehr ganz sicher (Kids: Das war lange vor dem Internet).



Es reicht aber noch dafür, an einem gemütlichen Wärmflaschensamstagnachmittag irgendwann unter seiner Decke hervorzukriechen, sich mit Kaffee und Dusche in die Vertikale zu dopen und den Namen eines unbekannten niedersächsischen Provinzorts ins Navigationssystem zu tippen.



Mit etwas Fantasie ist es wie damals im Cavern, klein und heimelig, Eintritt ("AK 22.- EUR") und Getränkepreise inflationsfreundlich, dafür kannst du in Adelaide nicht mal parken, und man lernt die Kulturbahnhöfe und Dorfgemeinschaftshäuser des Landes kennen: Gnadenlos unterschätzt!



Die sympathische Tribute-Band gehört schon lange zu den festen Posten im Jahreslauf. Einmal jährlich sind sie in Bremen, dazwischen passt die eine oder andere Landpartie, es ist ein wenig wie Weihnachten, da gibt's auch keine großen Überraschungen, aber man freut sich doch wieder drauf.



Das Publikum ältere Herrschaften, und komisch: Ich soll genauso alt sein wie die! Auf der Bühne ein neues Gesicht, an das man sich gewöhnen muss - aber das haben wir schon mal geschafft, damals im Cavern mit Pete Best. Und jetzt einen ruhigen Sonntag, Erinnerungen einsortieren.

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Sonntag, 12. November 2023
Good One
nnier | 12. November 2023 | Topic Musiq


Jetzt ist es einige Tage her, ich kann wieder atmen, und es ist diesmal wahnsinnig schnell gegangen: Die Phase der Neugier, dann eine der Verarbeitung, in der ich die ständige Frage "UND?" noch mit abgewogenen Worten ("Schön, nicht weltbewegend, war auch klar, aber dennoch") beantworten konnte. Dann der Moment, in dem es mich erwischt: Ja, es ist unerwartet schön, John noch mal so kristallklar zu lauschen - aber wenn an dieser einen, subtilen Stelle Paul einsetzt, "of you", knackt es mich, später noch mal, "will love you". Es steckt exakt alles darin, der Zusammenklang dieser beiden Stimmen öffnet die Schleusen, der Himmel ist ganz nah. Mehr will ich nicht, mehr brauche ich nicht, danke, Gott!

Zu der Frage, ob das ein Beatleslied ist, gibt es unterschiedliche, wohlbegründete Ansichten. Ich schließe mich dem Rolling Stone an:

“Now and Then” could have been cheap or cloying or overblown, but instead, it’s a pained, intimate adult confession. You can hear why Paul never forgot this song over the years, and why he couldn’t let it go. You can also hear why he knew this needed to be a Beatles song, and how right he was to pursue his mad quest to the end. In other words, it’s a real Beatles song, adding one more classic to the world’s greatest musical love story.

Tatsächlich habe ich das Lied erstaunlich schnell in meinen inneren Kanon aufgenommen (während z.B. "Real Love" für mich klipp und klar nach einem aufgeplusterten Demo klingt und ein angestückelter Fremdkörper bleibt). Warum ich bei aller Künstlichkeit und Ingenieurskunst, die dem neuen Stück innewohnt (an einer Stelle im Making-Of-Video sagt Ringo so etwas wie: "Paul sent me the files, I played the drums" - nicht mal diese beiden waren also in einem Raum), ein solches Beatles-Gefühl erlebe, erklärt sich aber am besten hierdurch:



Es ist eine Beatles-Melodie, ganz eindeutig, und Paul hat ein paar kluge künstlerische Entscheidungen getroffen, so z.B. den Teil "I don't want to lose you ..." aus Johns Demo komplett wegzulassen oder die Geschwindigkeit des Songs etwas zu erhöhen. Er weiß, was einen guten Song ausmacht, und dass dazu neben Inspiration auch Handwerk gehört, dafür war er sich nie zu schade. Zum großen Glück.

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Montag, 30. Oktober 2023
Whatever happened
nnier | 30. Oktober 2023 | Topic Musiq
Ihr sagt dann wieder, es ginge ums Geld. Dazu sage ich nur, man kann das gar nicht zurückzahlen.

Im November 1995 lief alles auf die groß angekündigte Anthology zu, und ich glaubte, den sechs Jahre zurückliegenden, lebensverändernden Schock inzwischen halbwegs verarbeitet zu haben.

Außerdem: Jeff Lynne, und ich kannte Johns verrauschte Skizze von irgendwelchen Bootlegs. Das konnte ja nach all dem Hype vorab nur enttäuschen, also besser nichts erwarten!

Abends endlich alleine, legte ich die frisch gekaufte CD ein. Natürlich klangen die eröffnenden Schläge auf der Snaredrum genau so, wie man es bei einer Jeff-Lynne-Produktion erwartet hat. Georges Slide-Gitarre setzt ein, dann der dünne Geistergesang des seit 15 Jahren toten John, bald begleitet vom ebenso dünnen Falsett der mittelalten Herren Harrison und McCartney: Ich weiß noch, wie sich ganz leise die Vorahnung einer kleinen Enttäuschung einstellen wollte.

Es hat mich umso voller erwischt, genau an dieser Stelle. Wenn der älter gewordene Paul einsetzt und die Bridge singt, trifft mich das ins Mark, das hat sich bis heute nicht verändert. Ja, es ist ein mittelmäßiges Lied, und ich bin zutiefst dankbar, dass sie es zu Ende gebracht haben.

Später singt George eine abgekürzte Version derselben Bridge, und bevor man sich fragen kann, ob es davor schon ein Lied gegeben hat, in dem alle drei, John, Paul und George, jeweils einzeln zu hören sind, setzt die Gitarre von George zum weinenden Solo an, und im Hintergrund ist wieder 1967, das hört man ganz deutlich.

Ich habe buchstäblich Tage gebraucht, um mich davon zu erholen.



So war das, ihr Zyniker, bald ist wieder November, und ich sollte mir wohl ab Donnerstag besser freinehmen.

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Sonntag, 29. Oktober 2023
Cotton Fields / Butt
nnier | 29. Oktober 2023 | Topic In echt
Wir hatten das Thema neulich erst, aber ich muss noch mal mit Handtüchern kommen.



Die Optik war mir nie besonders wichtig, das galt übrigens auch für Bettwäsche, bevor ich mir im letzten Jahr gleich mehrere neue Garnituren gönnte und merkte, wie angenehm mir der Anblick plötzlich war. Sogar das Beziehen macht mir seither nichts mehr aus, ich schlüpfe abends noch einen Tick lieber hinein und denke morgens, doch, richtig schön so!

Handtücher sollten mich gut abtrocknen, nicht muffig oder fleckig sein, weitere Ansprüche hatte ich nicht. So bildete sich über die Jahrzehnte eine wilde Ansammlung heraus. Wurde z.B. eine 70er-Jahre-Wohnung aufgelöst und es fanden sich ganz unten im Wäscheschrank originalverpackte Handtücher, war ich derjenige, der den Finger hob. Und schimpften später andere Haushaltsmitglieder, dass man davon Augenkrebs bekäme, war meine Antwort: Ihr müsst sie ja nicht benutzen.



Ich bestellte also eine Auswahl unterschiedlicher, jedoch für meine Begriffe zueinander passender Handtücher aus den Farbwelten Blau und Grau. Zweidreimal durchwaschen, bis die anfängliche, nervige Weichheit nachlässt - und auf einmal stapele ich sie im Bad an prominenter Stelle, lege Wert auf einheitliche Faltung und beschließe, nun Nägel mit Köpfen zu machen und auch noch die Waschlappen auszutauschen. (Ja, ich gehöre zu dieser Generation, und ein Waschlappen ist zu vielem Nütze.)



Sie ahnen, wohin das führt: Bei den Geschirrtüchern sieht die Lage nicht besser aus, hier haben die tapfersten Exemplare weit über 20 Jahre mitgearbeitet, und das sieht man ihnen an. Was für eine Erleichterung für das Auge, welche Freude beim Abtrocknen, wenn nun einheitliche, neue Tücher Ruhe und Verlässlichkeit ausstrahlen!

Ach - wegen "Butt", das ist deutsch ausgesprochen, Sie kennen doch die Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Weil eines ist klar, man darf auch nicht übertreiben. Einmal auf dem Trip, meint man, nun auch fürs winzige Gästebad eine Ladung einheitlicher Hand-, Seif- und Gästetücher besorgen zu müssen und bestellt aus budgetären Gründen eine petrolfarbene Ladung der etwas günstigeren Art, die, einmal durchgewaschen und akkurat zusammengelegt, in ihren Fächern auch sehr schick aussieht.

Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
mine Fru, de Ilsebill,
will nich so, as ik wol will.


Bis man zu Vergleichszwecken mal einen solchen Waschlappen verwendet und schon beim ersten Auswringen das dunkelgrüne Wasser im Waschbecken bemerkt, dann seine dunkelgrünen Hände anschaut und denkt: Oh, besser noch mal waschen, die färben ja noch.

[Hier folgt ein textlicher Einschub mit 5 Waschgängen, einer innen komplett grün verfärbten Waschmaschine, die man aufwendig reinigen muss, testweise beigelegten aussortierten, weißen oder rosa Handtüchern, die danach intensiv durchgefärbt und nicht wiederzuerkennen sind, sowie zu spät bemerkten petrolfarbenen Flecken auf dem hellen Lieblingshoodie.]

Also immer schön langsam, ihr wisst ja, wie das sonst endet:

Da war die See ganz schwarz und dick und fing an, so von unten herauf zu schäumen, dass sie Blasen warf, und es ging so ein Wirbelwind über die See hin, dass sie sich nur so drehte. Und den Mann ergriff ein Grauen.

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