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Als Kind habe ich mal in eine Weihnachtskugel gebissen. Meine Eltern waren die Treppe schon weiter hochgegangen, ich aber war vor dem großen, dunklen Baum stehengeblieben und konnte mich nicht beherrschen: Die sahen so verlockend aus, dunkelrot und matt.
Da unten im Erdgeschoss wohnten die Vermieter. Sie hatten zwei Söhne, einen in meinem Alter, einen etwas älteren. Manchmal spielten wir zusammen im Hof. Einmal war ich zum Mittagessen dort. Man saß in einem großen Speisezimmer. Die Gabeln waren ungewohnt schmal, die Zinken geradezu furchterregend lang. Sie führten die Gabeln umgekehrt zum Mund, das wirkte auf mich fremd und vornehm. Zu Hause wurde ich später gefragt, warum ich so komisch äße.
Im Kellergeschoss lebte der Hausmeister mit Frau und zwei Kindern. Sie kamen aus Jugoslawien, die Kinder waren nett und ein wenig älter als wir und spielten nur ganz selten mit. An das gebrochene Deutsch der Eltern erinnere ich mich, wie die Kinder sprachen, weiß ich nicht mehr. Aber Jahre später, als ich längst nicht mehr dort wohnte, kam ich auf dem Weg von der Grundschule nach Hause an einem Gymnasium vorbei. Dort sah ich den großen Jungen noch mal: "Herr Schneider, haben Sie die Geschichtsklausur schon korrigiert?"
Es gab im Garten eine sogenannte Köhlerhütte, um die herum wir mit unseren Fahrrädern immer schneller im Kreis fuhren. Kommt zur Kinderstunde!, hatten wir auf einem Werbezettel im Hausflur gelesen und traten in die Pedale: "Kommt zur Kinderstunde! Kommt zur Kinderstunde!", riefen wir immer lauter und rasten noch schneller im Kreis, "Kommt zur Kinderstunde!", legten wir uns in die Kurve, "Kommt zur Scheißerstunde!", rief ich noch und schrammte mit dem Pedal über den Boden, dann musste ich heulen und nach oben rennen.
Da oben wohnten wir in einer Wohnung mit langem Flur, nebenan eine Familie mit fast gleichaltrigen Kindern. Obwohl Berufe, Autos und politische Einstellungen sich deutlich unterschieden, lebten wir Kinder viele Jahre fröhlich nebeneinander und stritten höchstens mal über CDU und SPD. Mit großer Selbstverständlichkeit aßen wir mal hier, mal da zu Mittag, übernachteten beieinander und mussten nicht mal gegenseitig klingeln: Statt dessen fuhren wir mit den Fingernägeln über die in den Wohnungstüren eingelassenen Scheiben. Bei uns war das Glas streng senkrecht gerippt, das ergab ein scharfes, hohes Schrappen wie bei manchem Metallreißverschluss. Nebenan war es ein unregelmäßiges Linsensuppenrelief, da rubbelte man einen tiefen Blubberton.
Einmal stand ich auf der Fensterbank, das Fenster offen, schmiss ich irgendwelche Dinge in den Hof, die mir die anderen Kinder aus dem Zimmer anreichten. Einmal wusste ich nicht mehr, wie man bremst und fuhr mit dem Fahrrad quer über die große Straße. Ich verstand gar nicht, warum der Busfahrer ausstieg und wissen wollte, wo ich wohne.
Es ging noch weiter nach oben, da wohnte eine Frau mit einem behinderten erwachsenen Sohn, vor dem ich unbestimmte Angst hatte. Es gab dazu sicher keinen Grund; aber beim Martinsingen klingelten wir da nicht.
Oben wohnte auch eine weißhaarige Frau, die uns Kinder gerne zu sich einlud. Wir bekamen dann Tee und Plätzchen und hörten Peter und der Wolf von Schallplatte. Einmal spielten wir im Garten Fangen und sie kam dazu. Sie lief hinter meiner Schwester her, die unter einer Turn- oder Kletterstange hindurchrannte. Plötzlich lag die alte Dame auf dem Boden, begann mit hoher Stimme zu wimmern, hielt sich die Stirn und rief: "Holt mal ein Messer! Holt mal schnell ein Messer!"
Ich wagte nicht zu widersprechen, malte mir aber die schrecklichsten Dinge aus und rannte die endlose Treppe hoch. Zur Kühlung wollte sie das, drückte die kalte Klinge auf ihre Stirn und es war ja auch nur so ein stumpfes Buttermesser.
Die verlockende Kugel krachte und splitterte, und im Krankenhaus sagten sie mir, dass ich Glück gehabt hätte, sie müssten mir keinen Schlauch in den Hals schieben, aber ich sollte viel Sauerkraut essen die nächsten Tage.
Da unten im Erdgeschoss wohnten die Vermieter. Sie hatten zwei Söhne, einen in meinem Alter, einen etwas älteren. Manchmal spielten wir zusammen im Hof. Einmal war ich zum Mittagessen dort. Man saß in einem großen Speisezimmer. Die Gabeln waren ungewohnt schmal, die Zinken geradezu furchterregend lang. Sie führten die Gabeln umgekehrt zum Mund, das wirkte auf mich fremd und vornehm. Zu Hause wurde ich später gefragt, warum ich so komisch äße.
Im Kellergeschoss lebte der Hausmeister mit Frau und zwei Kindern. Sie kamen aus Jugoslawien, die Kinder waren nett und ein wenig älter als wir und spielten nur ganz selten mit. An das gebrochene Deutsch der Eltern erinnere ich mich, wie die Kinder sprachen, weiß ich nicht mehr. Aber Jahre später, als ich längst nicht mehr dort wohnte, kam ich auf dem Weg von der Grundschule nach Hause an einem Gymnasium vorbei. Dort sah ich den großen Jungen noch mal: "Herr Schneider, haben Sie die Geschichtsklausur schon korrigiert?"
Es gab im Garten eine sogenannte Köhlerhütte, um die herum wir mit unseren Fahrrädern immer schneller im Kreis fuhren. Kommt zur Kinderstunde!, hatten wir auf einem Werbezettel im Hausflur gelesen und traten in die Pedale: "Kommt zur Kinderstunde! Kommt zur Kinderstunde!", riefen wir immer lauter und rasten noch schneller im Kreis, "Kommt zur Kinderstunde!", legten wir uns in die Kurve, "Kommt zur Scheißerstunde!", rief ich noch und schrammte mit dem Pedal über den Boden, dann musste ich heulen und nach oben rennen.
Da oben wohnten wir in einer Wohnung mit langem Flur, nebenan eine Familie mit fast gleichaltrigen Kindern. Obwohl Berufe, Autos und politische Einstellungen sich deutlich unterschieden, lebten wir Kinder viele Jahre fröhlich nebeneinander und stritten höchstens mal über CDU und SPD. Mit großer Selbstverständlichkeit aßen wir mal hier, mal da zu Mittag, übernachteten beieinander und mussten nicht mal gegenseitig klingeln: Statt dessen fuhren wir mit den Fingernägeln über die in den Wohnungstüren eingelassenen Scheiben. Bei uns war das Glas streng senkrecht gerippt, das ergab ein scharfes, hohes Schrappen wie bei manchem Metallreißverschluss. Nebenan war es ein unregelmäßiges Linsensuppenrelief, da rubbelte man einen tiefen Blubberton.
Einmal stand ich auf der Fensterbank, das Fenster offen, schmiss ich irgendwelche Dinge in den Hof, die mir die anderen Kinder aus dem Zimmer anreichten. Einmal wusste ich nicht mehr, wie man bremst und fuhr mit dem Fahrrad quer über die große Straße. Ich verstand gar nicht, warum der Busfahrer ausstieg und wissen wollte, wo ich wohne.
Es ging noch weiter nach oben, da wohnte eine Frau mit einem behinderten erwachsenen Sohn, vor dem ich unbestimmte Angst hatte. Es gab dazu sicher keinen Grund; aber beim Martinsingen klingelten wir da nicht.
Oben wohnte auch eine weißhaarige Frau, die uns Kinder gerne zu sich einlud. Wir bekamen dann Tee und Plätzchen und hörten Peter und der Wolf von Schallplatte. Einmal spielten wir im Garten Fangen und sie kam dazu. Sie lief hinter meiner Schwester her, die unter einer Turn- oder Kletterstange hindurchrannte. Plötzlich lag die alte Dame auf dem Boden, begann mit hoher Stimme zu wimmern, hielt sich die Stirn und rief: "Holt mal ein Messer! Holt mal schnell ein Messer!"
Ich wagte nicht zu widersprechen, malte mir aber die schrecklichsten Dinge aus und rannte die endlose Treppe hoch. Zur Kühlung wollte sie das, drückte die kalte Klinge auf ihre Stirn und es war ja auch nur so ein stumpfes Buttermesser.
Die verlockende Kugel krachte und splitterte, und im Krankenhaus sagten sie mir, dass ich Glück gehabt hätte, sie müssten mir keinen Schlauch in den Hals schieben, aber ich sollte viel Sauerkraut essen die nächsten Tage.
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