Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Samstag, 20. Oktober 2012
Literaturbeilage
nnier | 20. Oktober 2012 | Topic Gelesn
Eins ist mal wieder typisch: Erst ist es so - dann ist es wieder anders!

Als Kind merkte man recht schnell, wenn jemand aus südsprachlichen Gefilden wie Bayern oder Österreich kam. Völlig unabhängig von dem lustigen, gesprochenen Dialekt, den eh keiner vernünftig nachmachen konnte, gab es ein untrügliches Kennzeichen: Den Artikel vor dem Namen. Sagte man standarddeutsch: Da kommt Sabine, da hinten geht Herr Krause, ich soll dich von Onkel Richard grüßen, so hieß es ab einer gewissen Sprachgrenze: Da kommt die Sabine, da hinten geht der Herr Krause, ich soll dich vom Onkel Richard grüßen. Ich hatte ein Kinderbuch (ich meine, es war der Gurkenkönig von Christine Nöstlinger), in dem das nebenbei thematisiert wurde: Da schreibt der Erzähler, ein österreichischer Junge, über die Mutti und die Gabi, seine Schwester, die ihm dann regelmäßig sagt, dass das aber Dialekt sei.



Irgendwann hört man sich in so etwas rein, dann wird es umgekehrt komisch, dann fühlt es sich auf einmal falsch und nackt an, wenn man sagt: "Daniela hat mir erzählt" oder "Ich rufe Tante Waltraud an". Natürlich nicht im standarddeutschen Raum, das wäre ja peinlich und albern, wenn man plötzlich in einer norddeutschen Hansestadt anfinge, seinem Kind zu erzählen, dass man jetzt "zum" Joachim gehen werde. Und auch in der schönsten Kuhglocken­umgebung vermeide ich es, die ganzen Regionalismen nachzuplappern (auch wenn ich meine stille Freude an ihnen habe). Es käme es mir andererseits jedoch seltsam vor, zu sagen, ich ginge jetzt "zu" Hansi ins Wirthaus, und ich ertappe mich dabei, dass ich wie selbstverständlich sage: Ich bin der nnier. Hoffentlich ist das nicht so eine Anbiederei, wie wenn jemand mal ein Wochenende in der Schweiz ist und gleich mit Grüezi anfängt!



Den Wolf Haas kannte ich noch nicht. Für einen kurzen Moment überfiel mich panische Angst, es könne am Ende dieser unerträgliche "Verstehen-Sie-Haas"-Schreiber von Spiegel Online sein, aber, puh, er ist es nicht. Und ich weiß auch schon nicht mehr, wie ich auf Das Wetter vor 15 Jahren aufmerksam wurde. Die kurze Inhaltsangabe jedenfalls klang interessant - dass jemand vor 15 Jahren als Jugendlicher zum letzten Mal in seinen österreichischen Urlaubsort gefahren ist und seither die dortigen Wetterdaten jedes Tages auswendig weiß. Dass es um eine unglückliche Ferienliebe geht, stand wahrscheinlich auch dabei, mein Interesse war geweckt, das Buch bestellt, doch es kam zu spät und ich musste ohne es in meinen österreichischen Urlaubsort fahren.



An mir war das tatsächlich vorbeigegangen. Zwar erinnere ich mich daran, dass jemand mir die Brenner-Kriminalromane sehr ans Herz gelegt hatte, die, wie ich jetzt kapiere, eben auch der Wolf Haas geschrieben hat - aber ich lese Krimis nur noch sehr gelegentlich, da bin ich inzwischen etwas wählerischer oder vielleicht hat sich auch nur mein Geschmack verändert. Vor 15 25 sehr vielen Jahren als Jugendlicher am österreichischen Urlaubsort dagegen las ich meine erste Handvoll Jerry Cotton und war für die nächsten Jahre damit beschäftigt, hunderte von diesen Heften zu beschaffen und zu lesen.

Diesmal lagen keine Schundkrimis in der Hütte, und so blätterte ich abends mit meiner Stirnlampe in abgelegten Bildbänden wie "Traumstraßen Europas" und "Das waren die 80er Jahre", worin übrigens der Peter Scholl-Latour in kurzen Zwischenkapiteln vor sich hindräut wie eh und je. Bloß dass es lustig ist, wenn so ein Dekadenbuch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft in den Läden liegen soll, Redaktionsschluss also vermutlich irgendwann im Sommer ist und dann während des Drucks weltgeschichtliche Umwälzungen stattfinden, die das aufwendige Werk schneller in den Ramsch befördern, als man "Makulatur" sagen kann.



Andererseits ist es eine interessante Erfahrung, noch mal die westdeutsche Perspektive von kurz davor einzunehmen: Man hätte ja wirklich nie gedacht!

Und doch war auf einmal alles anders. Genau wie jetzt wieder in Österreich! Da sagen plötzlich Leute zu einem: Ich bin Fritz. Und das ist Lisa.

Ich habe dann erst zu Hause das Buch vom Wolf Haas lesen können. Der erste Versuch endete nach ein paar Seiten damit, dass ich es genervt weglegte: Was sollte das denn? Dann aber, und das müssen Sie mir einfach glauben, musste ich mich innerlich nur ein wenig neu justieren. Ich fing noch mal von vorne an - und hatte so viel Freude wie seit langem an keinem Lesestück.

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