Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sonntag, 6. März 2011
Als ich mal der Arsch vom Kamel war
nnier | 06. März 2011 | Topic In echt
Und zwar musste ich neulich wieder einmal darüber nachdenken, als mir jemand berichtete, in diesen bürgerlichen und wohlhabenden Stadtteilen sei es für die Kinder und Jugendlichen ein echtes Problem, wenn sie jemandem etwas ersetzen müssten, das sie ihm gestohlen oder kaputtgemacht haben: Das müssten die nämlich von ihrem (oft gar nicht mal so üppigen) Taschengeld selber aufbringen, während andernorts der Konfliktvermittler oftmals auf ein abfälliges "Pff! Die hundert Euro gibt mir meine Mutter" stoße. Über die möglichen erzieherischen Effekte und so weiter möchte ich jetzt gar nicht reden, sondern nur festhalten, dass das mit dem Geld ganz unterschiedlich gehandhabt wird, was mir erst im Laufe des jugendlichen Erwachens mit dem Verlust der Unschuld so richtig klar wurde.

Klar hatte ich schon vorher mitbekommen, dass manche Leute weniger und andere mehr Geld hatten als wir, und die Frage "Wieviel Taschengeld kriegstn du?" war immer eine wichtige gewesen. Manche Kinder konnten sich täglich eine Dose Cola leisten, andere bekamen gar kein festes Taschengeld, dafür aber von der Oma unregelmäßig etwas zugesteckt, zumeist blieb das aber in einem sehr überschau- und vergleichbaren Rahmen; das Geld langte für ein paar Süßigkeiten und gelegentliche Comics oder kleine Plastikspielsachen.

In der Schule hatten sie gefragt, wer Lust dazu hätte, bei einem Theaterstück mitzuspielen. Das Stück wurde am "richtigen" Theater gegeben, es ging um einen Zirkus, und einige Kinder wurden für Nebenrollen und als Statisten benötigt. Es wurde viel und lange geprobt, man wurde aufwendig geschminkt und bekam bunte Klamotten geschneidert, und meine Rolle bestand hauptsächlich darin, am Eingang der Zirkusmanege als Zirkusdiener herumzustehen und manchmal auf die richtige Weise den Vorhang zur Seite zu ziehen. Dieses Herumstehen war übrigens schwieriger als gedacht - für meine Darbietung wurde ich dann auch gelobt, da ich offenbar als einer von wenigen in der Lage war, ohne viel Herumgehampel einigermaßen gerade dazustehen und vor lauter Langeweile nicht die wenigen Momente zu verpassen, in denen man dann doch einmal etwas tun musste - nämlich den Vorhang öffnen oder mal den Direktor anschauen.

Im Urlaub hatte ich meine ersten zwei Jerry-Cotton-Hefte ("Der Tod stand neben uns" und "Der Tod gibt eine Party") gelesen. Ich war vollkommen hingerissen und erzählte zu Hause meinen Freunden in allen Einzelheiten, wie Jerry in der Papierfabrik in den Reißwolf gerät und wie er schon die Messer spürt, die seine Schulter aufschlitzen. Mir war vollkommen unverständlich, dass sie trotz meiner stundenlangen Schilderungen nicht augenblicklich zu ebensolchen Jerry-Cotton-Fans wurden, wie ich jetzt einer war, denn ich hatte sofort angefangen, mir diese Bastei-Hefte in größeren Mengen zu besorgen und las sie in jeder freien Stunde. Allerdings kaufte ich nie eines neu am Kiosk, das war viel zu teuer - sondern ich ging auf den Flohmarkt, wo ich diese großen Stapel schon oft bemerkt, mich aber bisher nicht dafür interessiert hatte.

Eine weitere Bezugsquelle war die Bücherbox, ein seltsamer Laden, der zum Teil vom An- und Verkauf solcher Groschenromane lebte und über den es bei Gelegenheit noch zu berichten geben wird. Für heute soll genügen, dass die Ankaufpreise lächerlich und die Verkaufpreise reichlich überhöht waren, so dass ich nur dann ein paar Hefte kaufte, wenn ich auf dem Flohmarkt keine bekommen hatte und dringend Nachschub brauchte. Konnte man bei gutem Handel auf dem Flohmarkt auch mal 10 Hefte für 2.- DM ergattern, kosteten diese in der Bücherbox einzeln 60 Pfennig, obwohl sie mitten auf der Titelseite mit einem dicken Bücherbox-Stempel versehen waren, und Mengenrabatt gab es kaum.

Nachdem es am Anfang gar kein Thema gewesen war, wurde irgendwann eine Vergütung für unsere Theaterauftritte in Aussicht gestellt: Von unglaublichen 12.- oder 15.- DM Gage pro Auftritt war die Rede, die dann aber aus irgendwelchen Gründen auf einen krummen Betrag um die 8.- DM reduziert wurde, wogegen wir gewohnheitsgemäß protestierten - allerdings tat ich das nur sehr halbherzig, da ich erstens mit keinem Geld gerechnet hatte und mir zweitens die Summe, verglichen mit meinen Taschengeldmaßstäben, immer noch sehr hoch vorkam. Was da am Ende herauskommen musste - bestimmt über hundert Mark!

Ein wenig zusätzliches Geld zum Ausgeben konnte ich mir dadurch verdienen, dass ich mit meinem Kostüm in den Pausen und nach den Vorstellungen noch mit einem Bauchladen herumlief und "Süßigkeiten! Erfrischungen!" verkaufte. Von den Einnahmen durfte ich 10% behalten, was dann auch gerne mal drei oder vier Mark Klimpergeld in der Hosentasche bedeuten konnte. Dass die große Gage, auszuzahlen in einer Gesamtsumme nach Abschluss der Spielzeit, dagegen nicht in meiner Hosentasche landen würde, sondern auf dem Sparkonto, war selbstverständlich, auch wenn ich wirklich gerne so eine Digitaluhr gehabt hätte.

"John Sinclair ist viel besser", hatten meine Freunde beschlossen, kauften und sammelten diese Geisterjägerhefte, während ich vom New Yorker FBI-Agenten nicht genug bekommen konnte, wir führten somit eine friedliche Koexistenz beim Wühlen auf dem Flohmarkt und in der Bücherbox, und bei der großen Tiernummer in der Manege lief mein John-Sinclair-Freund vor mir und hielt den Kamelkopf an einer Holzstange in die Höhe, während ich unter dem gemeinsamen Kostüm in gebückter Haltung blind hinterherlief, mich an seinen Hüften festhielt und an der richtigen Stelle des Musikstücks rücklings zum Publikum auf den Manegenrand stieg, um dort im Takt der Musik mit dem Hintern zu wackeln.

Es soll also niemand behaupten, dass es leicht verdientes Geld gewesen wäre, das uns zum Abschluss nach einer kleinen Feier übergeben wurde, es waren große Geldscheine und ein paar Münzen, ich trug sie nach Hause und legte sie ins "Sparportemonnaie", setzte mich in mein Zimmer und las in meinem Jerry-Cotton-Heft, als es klingelte. Unten an der Tür stand meine vordere Kamelhälfte. Er grinste und kam mit zwei großen Plastiktüten die Treppe hinauf. "Ich sammel jetzt auch Jerry Cotton", sagte er. "Mhm", antwortete ich, nichts Gutes ahnend. Dann schüttete er die beiden Tüten aus. Auf meinem Boden lagen mehrere hundert Hefte, es waren mehr, als ich in all der Zeit gesammelt hatte. Sie alle trugen einen Bücherbox-Stempel auf der Titelseite, und er war direkt vom Theater in den Laden gegangen.

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