Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Montag, 10. Januar 2011
Bevor ich losgehe
nnier | 10. Januar 2011 | Topic In echt
Wenn Sie mich hier liegen sähen, mit meinen wirren Haaren, dem um den Hals geknoteten lila Handtuch, dem glasigen Blick, würden Sie sich übrigens nicht weiter wundern. Aber so ...

Fangen wir mal mit dem Orientierungssinn an. Zu behaupten, ich hätte gar keinen, wäre, so meinte vorhin die Tischgenossin, dann doch übertrieben, aber die will mich bestimmt nur aufbauen. Ich hatte von meinem Traum erzählt, der ging so:

Sie so: Wir müssen los
Ich so: Ist doch noch Zeit
Sie so: Doch, wir müssen los
Ich so: Na meinetwegen

In fremder Umgebung Schuhe anziehen, umständlich minutenlang schnüren und zubinden - das müssen unverarbeitete Traumata aus dem Kindergarten sein -, während sie unten ungeduldig wartet, Treppe hinunterrennen.

Sie so: Wir müssen zum Bahnhof
Ich so: Ist doch noch Zeit
Sie so: Trotzdem
Ich so: Na gut.

Hinaus auf die Straße, sie zielstrebig vorneweg.

Ich so (zu mir selber): Du hast die Tüte mit den Brötchen vergessen! Geh schnell noch mal hoch und hol sie! Dann ist immer noch massig Zeit, um zum Bahnhof zu laufen.

Treppe hoch, Schuhe aus, Tüte mit acht Brötchen holen, Schuhe umständlich wieder an, zurück auf die Straße. Wo sich alles verändert hat. Den simplen Weg zum Bahnhof finde ich nicht mehr. Statt dessen irre ich durch die Geschäfte, wo man mir umständlich den Weg zu ganz anderen Zielen erläutert, während meine Zeit abläuft und sich draußen schon wieder alles verändert hat.


Gut, womöglich habe ich nicht keinen, aber doch einen unterentwickelten Orientierungssinn, sagte ich, gerade vor ein paar Tagen wieder, als ich nur nach V. fahren wollte und hatte erst noch nachgesehen, wie ich innerhalb von V. zum Bahnhof komme, und wie ich dann stundenlang über die Autobahn fahre und mich zu fragen beginne, ob die Abfahrt nach V. nicht schon längst hätte kommen müssen, dann erst noch weiter fahre, um schließlich doch umzukehren, dann eine ganz andere Abfahrt nehme, aus dem Gedächtnis nach irgendwelchen Orten suche, die ich in der Nähe von V. wähne, mich immer tiefer verfranse, schließlich nach absurd langer Sucherei den Ort V. erreiche, allerdings aus ganz anderer Richtung, so dass ich den Bahnhof dann auch nicht so schnell finde - und es sei mir übrigens auch nach weit über zehn Jahren in diesem Haus noch nicht klar, wo Norden sei und wo Osten, wo Westen -

na, sagt sie, da ist Osten, da geht doch die Sonne auf, dann wandert sie nach da und geht da drüben unter -

ja, klar, ich kann mir das auch stundenlang herleiten und im Geiste mit dem Stadtplan übereinbringen, bloß kann ich mir nicht merken, wo die Sonne aufgeht, und in welcher Ausrichtung unsere Straße verläuft, und wie ich mich relativ zu ihr gerade im Haus befinde, und bereits jetzt, da ich dieses schreibe, habe ich es schon wieder vergessen, es ist fast so schlimm wie mit den Musiknoten, da muss ich auch immer erst fragen: Welche ist noch mal das "C", dann hangle ich mich CDEFGAHC irgendwie hoch, aber runter wirds schon schwieriger, und das mir, wo ich sofort höre, wenn es um einen Halbton danebengeht, aber ich finde den Zugang zu den Noten einfach nicht und bin schon mal, da ich mich nicht zurechtgefunden habe, stundenlang in einem riesigen Bogen um Berlin herumgefahren und hatte es doch so eilig, da wegzukommen, aber ich fand mich nicht zurecht, und bei meiner alten Arbeit brauchte ich bloß mal in eine andere Etage zu gehen, schon wusste ich überhaupt nicht mehr, wie ich jetzt wieder zum Fahrstuhl komme.

Das mit dem lila Handtuch kommt übrigens so, dass ich meinen Schal, den man auch als Halstuch bezeichnen könnte, bloß bei Männern macht man sowas nicht, das ist wie mit dem Rasierwasser, man hätte Männern nicht mit Parfüm ankommen dürfen, gut, heute löst sich das langsam auf, aber man brauchte was Männlich-Funktionales, einen rational klingenden Grund, um ein Duftwasser aufzulegen, und so ein richtiges Halstuch ist es auch nicht, es sieht schon aus wie ein Schal, ist aber doch sehr angenehm zu tragen, bloß halt nicht so kratzig wie ein Stück Wolle und etwas breiter, so dass man es erst ein wenig zusammendreht, und diesen Schal, bleiben wir bei dem Ausdruck, Baumwolle ist es vermutlich, aber nicht wie so ein Palästinensertuch, den will ich nicht Tag und Nacht am Hals haben, so verschwitzt wie ich bin, sondern da kam mir neulich im Erkältungsbad, vielleicht weil die Handtuchstapel so in meinem Blickfeld waren, diese Idee mit dem Handtuch, und es ist mir egal, wenn ich "aussehe wie ein Kindergartenkind", und vielleicht hat das auch wieder mit dieser Traumstelle zu tun und mit diesen Schuhen, Sie erinnern sich.

Aber die Sache mit den Schuhen hängt auch mit einem anderen Thema zusammen. Ich will ja mein Leben ändern, und ich gelobe hier und heute, Fieberwahn hin oder her, dass ich an dieser Stelle ein Jahr lang regelmäßig Rechenschaft über meine Fortschritte ablegen werde, denn eigentlich hätten wir in diesem Haus genug Platz, bloß ist alles voller Sachen, teils geordnet, teils ungeordnet, und die nehmen mir die Luft zum Atmen, es ist ja kein Wunder, dass ich mich immer gleich viel wohler fühle, wenn ich im Urlaub mal ein karges und leeres Zimmer zur Verfügung habe und sonst gar nichts.

Jahrelang arbeite ich mich daran schon ab, ohne entscheidend voranzukommen, und ich will mich hier nicht als Messie hinstellen, muss aber bekennen, dass es Räume und Gegenden gibt, auf die ich alles andere als stolz bin. Und was man alles machen könnte: Eine Staffelei aufstellen, ein Trampolin, ein Schlagzeug!

Gut, gestern habe ich erst mal die ganzen Pfandflaschen zusammengesammelt und das Altpapier, aber das zählt nicht, denn es kommt immer neues nach. Bloß war das alles, was ich mit einem lila Handtuch um den Hals zwischendurch erledigen konnte. Künftig jedoch werde ich allwöchentlich berichten, was ich verschenkt, weggeworfen oder verkauft habe.

Das mit den Schuhen hängt damit folgendermaßen zusammen: Ich bin ganz sicher kein Schuhfetischist, schon gar nicht bei meinen eigenen, deshalb hält es sich noch in Grenzen, trotzdem habe ich zuletzt gestaunt, wie viele Paare von mir hier herumfliegen, die ich ganz sicher nicht mehr anziehen werde. Höchstens für die Gartenarbeit, aber da geht es schon wieder los, vielleicht kann man sie ja noch mal brauchen, denk nicht drüber nach, es geht um das große Ziel!, und die meisten dieser Paare hatten eines gemein: Sie waren nicht abgelaufen, sie waren nicht kaputt, sondern sie gefielen mir nicht mehr. Denn ich hatte sie nicht gekauft, weil sie mir so gut gefielen, sondern weil ich sie "erst mal" ganz in Ordnung fand und weil sie ja nicht so teuer waren. Ganz im Gegenteil dazu gibt es zwei Paar, eins davon sind meine Wanderschuhe, die vergleichsweise viel Geld gekostet haben, die jetzt schon viele Jahre alt sind und die ich immer noch gerne und regelmäßig trage. Nun stand ich neulich im Schuhgeschäft und sah diese beiden Treter, sie gefielen mir, waren aber für meine Begriffe sehr, sehr teuer. Und ich kaufte sie und freue mich regelmäßig beim Anziehen und weiß schon jetzt, dass ich das viele Jahre lang tun werde. Auch wenn es Schnürschuhe sind, in die man gar nicht so leicht hineinkommt.

Alptraumhaft ist übrigens auch dieser Film, den ich nur jedem ans Herz legen kann, der mal eine Dreiviertelstunde erübrigen kann, denn man weiß das ja eigentlich alles und mag sich doch nur gegen den Kopf schlagen und alles ganz anders machen, und ich gehe jetzt zum Arzt und hoffe, dass ich den Weg finde.

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