Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Donnerstag, 22. Juli 2010
Pride Of Our Alley
nnier | 22. Juli 2010 | Topic In echt
Das mit dem Wüstenklima ging ja schon vor mehr als drei Wochen los. Nach gewissen Schwierigkeiten schließlich doch ins Empire eingedrungen, suchte ich zügig das Hotel auf. Wohlweislich, denn die Ausdehnung der Stadt hatte ich mir dereinst ja ausgiebig bewusstmachen dürfen, hatte ich eines in der Nähe des Hyde Parks gewählt, duschte den Schweiß weg und marschierte also gegen abend mit meiner jugendlichen Begleitung schon einmal zum Ort des Geschehens, um für den kommenden Tag hinreichend orientiert zu sein.



Die Temperaturen waren dankenswerterweise dem brüllenden Mittage gegenüber merklich gesunken, so dass der knapp halbstündige Gang zum Rande des Parks uns nicht vollständig auslaugen konnte, und während man sich langsam dem umzäunten Gebiet näherte, traf man in den Weiten des Parks immer dichtere Horden von Menschen an, die sich, ausgerüstet mit Picknickkorb, Spielgerät und mobilem Sitzmobiliar, ganz offensichtlich einen vergnüglichen Tag gemacht und der dargebotenen Musik gelauscht hatten. Von sommerlichem Abendlicht überstrahlt bot diese Szenerie einen gar friedlichen und entspannten Anblick. Gerade hatte ich angesetzt, einen kurzen Abriss über das Leben und Wirken des auch nicht mehr unbedingt jedem bekannten Stevie Wonder zu geben, da schwappte einem auch schon das unvermeidliche I Just Called to Say I Love You entgegen, woraus abzuleiten können ich glaubte, dass der Auftritt dieses Herrn sich wohl gerade dem Finale zuneigte, und tatsächlich endete das Konzert des Mundharmonikamannes bald darauf mit dem gar nicht mal so üblen Superstitious und, na klar, Happy Birthday. Zu diesem Zeitpunkt allerdings befanden wir uns bereits auf dem Rückweg, bis ein großer und breitschultriger Brite sich uns in den Weg stellte und in Richtung des Ursprungs jener Schallwellen deutete: "You can't leave now!"



Doch blieb dies der einzige Ansatz einer Konfrontation, so dass ich mich wieder einmal in meiner Theorie von den zwei britischen Völkern bestätigt sah, das eine bestehend aus den distinguierten, höflichen und immer hilfsbereiten Schlangestehern bzw. deren entspannt federballspielenden Nachfahren, das andere aus den rotgesichtig gröhlenden Stiernackenhooligans, derentwegen ab und zu Flugzeuge nach Lloret de Mar irgendwo zwischenlanden müssen.



Fast bedauerte ich angesichts der so lebensfrohen Szenerie rund ums Festivalgelände, im Besitz der Konzerttickets für den Folgetag zu sein, denn so entspannt, so schattig und getränkeselbstversorgt wie drumherum konnte es innerhalb wohl kaum zugehen. Zudem begab es sich, dass eine gewisse Partie des Spiels Fuss-Ball just an jenem Folgetag stattfinden sollte, die bei ungünstigem Ausgang womöglich zu schlechten Vibrations zumindest bei den Exemplaren der zweitgenannten Britensorte führen mochte, wodurch ein interkulturelles Konzerterlebnis auf engem Raum zu einer umso anstrengenderen Angelegenheit zu werden drohte.



Nach extrem kondensiertem Tourismusprogramm am nächsten Vormittag kehrte man kurz zum Hotel zurück, wo zwischendurch ein Zimmerwechsel stattgefunden haben sollte, um vor dem Gang zum Konzertgelände noch eine dringend benötigte Dusche zu nehmen, erfuhr an der Rezeption jedoch, dass der Umzug noch nicht erledigt sei, man nun aber unverzüglich in die Gänge kommen werde, und ob man nicht solange Platz nehmen wolle, es könne sich nur um Minuten handeln.



Es entspann sich nun ein recht interessantes Gespräch zwischen der koreanischstämmigen Hotelfachangestellten hinter dem Tresen sowie einer Inderin mittleren Alters, welche mitsamt ihres Einkaufswägelchens - a.k.a. Hackenporsche - ebenfalls in die Rezeption gekommen war und sich ganz offensichtlich ein wenig ausruhen und vor allem abkühlen wollte. Um die Temperaturen in Indien und England ging es da, um Herzprobleme und karitatives Engagement jeweils hier und dort, all dies in sehr freundlichem, distinguiertem Tonfall, und da man stets in meine Richtung blickte, blinzelte ich gelegentlich auch freundlich zurück oder deutete ein Lächeln an, bis ich gefragt wurde, woher ich denn käme, woraufhin sich ein gut dreiviertelstündiges Gespräch über aggressive Londoner Obdachlose bei der wohltätigen Essensverteilung, einen undankbaren Pfarrer, die großartigen Duscharmaturen im Hotel (in der Tat, da habe ich in England schon Grauenhaftes gesehen), verständnislose Ehemänner ("I spent 100 pounds a week for the homeless and he asked me, who asked you to do this? But I did it anyway"), den bekannten Musiker und Komponisten Paul McCartney ("You came here for the concert? Didn't he write that song, 'Michelle'? And that other one, 'Yesterday'?") und dergleichen entwickelte, zu dem auch ich meinen Beitrag ("Mhm", "I see", "Oh, really?") leistete, bis ich vom strahlenden Hotelmanager darüber informiert wurde, dass der Umzug nun stattgefunden habe, so dass ich mit meinem inzwischen eiskalt am Rücken klebenden T-Shirt mich höflich verabschieden, einen schönen Aufenthalt wünschen und die wohlklimatisierte Rezeption verlassen konnte, aus der mir die freundlichen Worte: "Very nice young men. Very polite, very ... entertaining" hinterherklangen.



Solchermaßen innerlich gewärmt und nach lauwarmer Viertelstundendusche äußerlich abgekühlt, ausgerüstet mit zwei 1,5-Liter-PET-Flaschen voller Wasser, machten wir uns auf den nun schon bekannten Weg in den Park, wo die Sonne dermaßen erbarmungslos herunterschlug, The sun was beating down, you know, dass mir noch vor dem Erreichen des Ziels eindeutig klar wurde, dass wir, Elvis Costello hin und Crowded House her, auf keinen Fall schon zu diesem Zeitpunkt hineingehen konnten, wollten wir nicht Gefahr laufen, den eigentlichen Grund der Anreise am Abend aufgrund von Kreislaufkollaps, Wassermangel oder Hitzestich zu verpassen.



Mein Vorschlag, statt dessen im Hotelfernsehen das Fuss-Ball-Spiel anzuschauen, wurde dann auch sofort angenommen, so dass man, hochrot ins Zimmer zurückgekehrt und in der Dusche angenehm heruntergekühlt, der TV-Vorberichterstattung lauschen und sich über die nicht enden wollende Masse der zum Teil nur noch strunzdummen Kriegsmetaphern doch ein wenig wundern durfte, gerade wenn man, wie meine jugendliche Begleitung, die ganze "Don't-mention-the-war"-Kulturgeschichte eben doch nicht mehr so unmittelbar präsent hat, so dass es nach einer Stunde auch in enerviertem Tonfall hieß: "Das ist ja fünfmal schlimmer als im deutschen Fernsehen", und, ja, die seltsamen Schlagzeilen der Zeitungen seien ihm auch aufgefallen.



Wie das Spiel gelaufen ist, weiß man ja - die Straßen waren leer, es wurde stiller und stiller, es wurde einmal laut gejubelt und einmal laut geschimpft - zu jenem Zeitpunkt war ich über meinen Aufenthaltsort nicht unfroh - und nach dem Spiel herrschte ungläubige, fassungslose Stille, übrigens auch bei den TV-Kommentatoren, die immerhin eingestehen konnten, dass die schlimme Niederlage nicht allzuviel mit dem nicht gegebenen Lampard-Tor zu tun gehabt habe, nein, man habe einfach schlecht gespielt.



Es war dann nicht ganz leicht, sich aufzuraffen und erneut zum Park zu marschieren. Die Wasserflaschen in der Hand liefen wir hinüber, tranken so viel wir konnten, da ich als alter Konzerthase natürlich wusste, dass man keine Flaschen und generell eigentlich gar nichts mit hineinnehmen durfte, erst zuletzt in Hamburg z.B. hatten Hektoliter Kaltgetränke beim Einlass weggeworfen werden müssen, so dass wir auf mein Kommando hin in der Warteschlange jeweils einen letzten Schluck nahmen und die Flaschen dann einer großen Müllbox überantworteten. Innerlich wollte ich schon die Arme ausbreiten, um mich der üblichen Leibesvisitation zu unterziehen, als uns der Kartenabreißer mit einem fröhlichen "Have fun, guys" durchwinkte und wir das Innere des Festivalgeländes betraten, auf dem es sich zigtausende Menschen mit Campingstühlen, Kühltaschen, mitgebrachten Bierflaschen usw. bequem gemacht hatten. Entgeistert sah ich mich um und entdeckte die Verköstigungsbuden, an denen kleine Pizzastücke für 7.- und sehr kleine Colaflaschen für 3.- GBP feilgeboten wurden.



"Wir setzen uns jetzt erst mal in den Schatten", entschied ich, steuerte die Rückseite der großen Videoleinwand an und ließ CS&N eben CS&N sein, denn es ging ums Überleben.



Als die Massen nach dem Ende des Auftritts der Herren Crosby, Stills und Nash der Getränkever- und entsorgung entgegenströmten, ergriffen wir unsere Chance: "Lass uns jetzt hingehen, die Sonne steht schon schräg und vorne ist noch richtig Platz!" - und wirklich, entgegen aller Vorsätze und Hoffnungen ließ sich ohne größere Probleme ein sehr bühnennahes Fleckchen Gras besetzen, auf dem man sich zunächst niederließ, bis die Drängelei dann doch losgehen wollte, so dass man sich schließlich hinstellte und gar nicht mehr ganz so lange warten musste, bis ein selten live gespieltes Stück das ersehnte Konzert eröffnete, das natürlich ins grandiose Jet mündete, welches bitte nie aus dem Programm gestrichen werden möge, denn es öffnet seit Oktober 1989 alle Schleusen und ist einfach das ideale zweite Stück für ein McCartney-Konzert.



Wen's interessiert - es war in der ersten Hälfte nahezu ein Wings- bzw. Solokonzert, die Beatlesbox wurde dann vor allem in der zweiten Hälfte geöffnet, allein fünf Stücke aus dem 1973er Album Band on the Run gegeben, dazu das von mir geliebte und schon immer für ein Konzert ersehnte Ukulelenstück Ram on von 1971 sowie als völlig unerwartetes Zwischenspiel das seltsame Tequila. Mein Herz wurde außerdem gewärmt durch das zauberhafte Two of us, Paperback Writer, Day Tripper und alle anderen Lieder. Und es gab endlich wieder Stehplätze!



Nachtrag 1: Morgens im Hotel beim Frühstück kommt der Manager, ein Grieche, augenzwinkernd an den Tisch, richtet den Daumen nach oben, flüstert: "Very good!", spendiert ein Stückchen Kuchen und meint: "For the winners! You deserve it, eh!"

Nachtrag 2: Auf der kleinen, innerstädtischen Parkbank, kurz vor der Rückkehr zum Flughafen, wird man von einem älteren Herrn angesprochen, woher man denn käme. "Germany", antwortet man, immer noch in der Erwartung etwaiger Schmähungen aus Gründen des Krieges oder des Fuss-Balls. Freudiges Grinsen, Daumen hoch: Er könne auch ein wenig Deutsch sprechen, er sei ein "Irländer", lebe aber schon seit Jahrzehnten in London. Die Engländer hätten die Iren immer schlecht behandelt, deshalb: La la la, la la la lalla la (zur Melodie von "Einigkeit und Recht und Freiheit"), eh! Ob ich sein Haus gesehen hätte, gleich in der Nebenstraße? Und woher aus Deutschland ich denn käme? Na ja, Bremen, das sei im Norden und nicht so weit von Hamburg ... "Kennst du Bremen Blumenthal? Kennst du die Heideschänke?", äh, ja, Blumenthal, klar, das kenne ich, aber wie kommt es, dass er ...? "Die Heideschänke ist ein Bar, es gehört mein Schwester." - Wie bitte? "Es ist die Wahrheit. Sag mein Schwester Sally, dass ich noch lebe, wenn du dort gehst."


Und das werde ich verdammt tun, wenn diese Hitze mal wieder nachlässt. Musik, bitte!

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