Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sonntag, 26. April 2009
Morgentau
nnier | 26. April 2009 | Topic In echt
Waschverfahren, bei dem 80 bis 100 fertige Jeans zusammen mit rauhen Steinen in großen Waschtrommeln behandelt werden.
Es gab diese Zeit. Sie war nicht lang, aber es gab sie. Ich trug stonewashed.

Einige Jahre davor, die Streifenhosen - das habe ich mich nicht getraut. Lieber unauffällig bleiben mit den ewigblauen Röhrenjeans! Und noch früher, die Jeans mit den weißen Nähten (gesteigert: mit extra aufgesetzten, schmalen, weißen Stoffstreifen auf den Nähten), die sind an mir noch vorbeigegangen. Ein Mitschüler trug die Sachen seines älteren Bruders auf. Ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen, denn weiße Nähte oder gar weiße Stoffstreifen, die extra aufgesetzt sind, die konnte man nur in einem schmalen Zeitkorridor tragen. Zwei Jahre später waren sie ein Stigma. (Gibt es das schon als Modelabel? Stigma? Ich kriege da gerade eine Idee!)

Ich bin mir nicht sicher, ob es damals schon so schlimm war mit der Ausgrenzung durch Kleidung. Aber das Thema existierte. Auch bei uns, an der oh-so-sozialen Gesamtschule, war es extrem wichtig, sich "richtig" zu kleiden, und damit meine ich nicht nur die korrekte Friedensbewegungsausstattung mit Jutetasche, besticktem Kittel und Ökoschuhen, und auch nicht die Abgrenzungskleidung, mit der man kundtut, Teil einer Jugendbewegung zu sein (damals i.W. Punk, Popper). Sondern ich spreche von den ganz normalen Kindern, die selbstverständlich sehr genau registrierten, wer wieviele Streifen auf dem Turnschuh, wer das rechte Fähnlein an der Gesäßtasche der Jeans hatte oder eben nicht hatte. Und neben den Marken spielten natürlich auch Modezyklen eine große Rolle, plötzlich gab's knallbunte Bundfaltenhosen (traute ich mich nicht), hohe Basketballschuhe mit einem Stern (durfte ich haben), und irgendwann dann plötzlich die unregelmäßig gebleichten stonewashed-Jeans, die ich damals wirklich cool fand und kaufte.

Ich ergänzte meine Garderobe durch eine Jeansjacke, die ebenfalls stonewashed war. Und somit übrigens auf eine Weise behandelt, die bei außerirdischen Beobachtern wieder einmal das Äquivalent eines Runzelns auf ihrem Äquivalent einer Stirn hervorgerufen haben dürfte: Die komischen Primaten da, erzählen sich dann Andorianer und Zylonen beim Drink, die färben Stoffe, stellen daraus Kleidung her - und legen die Kleidung dann in ätzenden Kloreiniger! Da können sie sie ja gleich sandstrahlen, ha ha!

Oper ist eine Gelegenheit, den Smoking auszuführen. Und Marius ist die Gelegenheit, die Stonewashed-Kombi auszuführen. Ich war nie ein Fan, aber schon damals wurde man schräg angesehen, wenn man bei den ersten Takten von Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz auf Feten nicht in Begeisterung ausbrach. Und wenn dann Westernhagen und Nina Hagen und Roger Chapman (glaube ich) und Rory Gallagher (kannte ich schon damals nicht) die kleine Universitätsstadt beehrten, im Jahnstadion auftraten, dann dachte man schon darüber nach, mal hinzugehen. Auch ohne Geld. Denn, überlegte man weiter, jetzt mal ernsthaft: Geld bezahlen? Tsss! Wir wissen doch, wie's geht!

Tatsächlich war es in all den Jahren kein Problem gewesen, die Heimspiele des 1. SC Göttingen 05 auch ohne gültige Eintrittskarte zu besuchen. Das Stadion war überdimensioniert, ein paar hundert Zuschauer verloren sich darin, es gab einen weitläufigen Zaun, dies- und jenseits an vielen Stellen von Bäumen gut blickgeschützt, so dass man mit Räuberleiter und einem beherzten Sprung unbehelligt das Stadioninnere erreichen und sich dann diskret unter die Zuschauer mischen konnte.

Außerdem wollten wir das Konzert erst gegen Ende besuchen, wenn es schon längst dunkel wäre - was also sollte das Problem sein!

Das Problem waren die vielen Security-Mitarbeiter, die alle hundert Meter postiert waren, das Problem waren die aggressiv bellenden Hunde, die sie mit sich führten, und das Problem waren die sehr hellen Scheinwerfer, die man am Zaun montiert hatte. Wir spazierten also äußerst unauffällig (Hände in den Taschen! Pfeifen! In die Luft gucken!) ums Stadion, schätzten die Lage als kritisch, doch nicht ausweglos ein und guckten uns schließlich eine Stelle aus, an der wir es trotzdem wagen wollten. Hier gab es besonders viele Bäume, dichtes Unterholz, und auf der anderen Seite, im Innern des Stadions, ging es ein gutes Stück zwischen dichten Büschen bergauf. Das sollte zu schaffen sein!

"Nimm mich mit / zeige mir den Weheg", sang Westernhagen gerade, als wir uns ein Herz fassten, den Zaun überwanden, wütende Schreie eines außen (puh!) entlangpatrouillierenden Sicherheitsdienstlers und Hundegebell hörten, wie von Sinnen durch den dichten Bewuchs rannten, uns den Hügel hinaufkämpften, durch die Büsche schlugen, die nassen Zweige ins Gesicht bekamen, fast oben waren, ständig wieder nasse Zweige zur Seite bogen und endlich Menschen sahen. Viele Menschen. Sie standen, obgleich das Konzertgeschehen hinter ihnen stattfand, uns zugewandt und sahen direkt in unsere zerschundenen, nassglänzenden Gesichter.

Hatte ich eigentlich erwähnt, dass es ein richtig trockener Sommer war? Ich frage nur. Also der nassen Zweige wegen. Richtig nass waren die! Und es hatte seit Tagen nicht geregnet!

Die Menschen sahen uns an. Sie grinsten blöd. Sehr blöd. Ausschließlich Männer, übrigens.

Wir starrten uns an, sahen auf unsere nassen Hände, suchten verzweifelt, aber erfolglos rauhe Steine und eine große Waschtrommel. Dann liefen wir ins Publikum und lauschten Marius.

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