Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Binsen und Wahrheit
nnier | 29. Juli 2010 | Topic Gelesn
Ich habe dann doch mal angefangen, es zu lesen und werde es wohl dabei belassen, denn es macht keinen Spaß.



Mag sein, dass es mir leichter fällt, in ein Buch hineinzuschmieren, das ich umsonst bekommen habe - aber ich konnte nicht umhin, ein paar Stellen zu kennzeichnen, die mir besonders unangenehm aufgefallen sind.



Es geht dabei um Formulierungen wie:
- "Hier alles irre teuer" rief sie. "Aber für Herr mit Deutschmark billig immer noch."

- Nur weil er und ich vor einem halben Jahrhundert Arsch neben Arsch die Schulbank gedrückt haben sollen?

- ... wäre die zufällige Begegnung zwischen Witwer und Witwe mit dem Kursverfall des Zloty zu vergleichen gewesen.
Weder glaube ich der Polin, dass sie "irre teuer" sagt, noch gefällt mir die unvermittelte und gewollte, möglicherweise anbiedernde Derbheit des "Arsch", und in welcher Hinsicht man eine Begegnung mit einem Kursverfall vergleichen kann, verstehe ich schon gar nicht, doch sind das kleine, ohne den textlichen Zusammenhang möglicherweise gar nicht nachvollziehbare Ärgernisse.

Das größere Problem habe ich mit der umständlichen Konstruktion: Statt eine Geschichte zu erzählen - also, da sind ein deutscher Witwer und eine polnische Witwerin, die lernen sich da und da kennen und die Umstände sind die und die - wird eine vollkommen überflüssige Schicht dazwischen eingebaut. Der Erzähler bekommt nämlich die Aufzeichnungen des erwähnten Witwers zugeschickt, aus denen er die Geschichte mehr oder weniger nacherzählt, und fügt deshalb ständig Bemerkungen ein wie "Schon rede ich, als wäre ich dabeigewesen" oder "Dann schwiegen sie. Oder richtiger: ich vermute Schweigen zwischen dem Paar."

Ständig wird daran erinnert, dass dieses aus der Kladde des Witwers stamme (und deshalb, aufgepasst!, auch anders gewesen sein könne), dass der Erzähler sich jenes selber vorstelle (weshalb man, aufgepasst!, nicht sicher sein könne ...), eine penetrant herumwabernde Metaebene also, auf die ich dann auch noch ständig mit der Nase gestoßen werden, bis ich rufen will: "Ja, verdammt, und wozu?"

Nun habe ich prinzipiell nichts gegen umständliche Konstruktionen, einige meiner liebsten Bücher sind alles andere als geradeaus erzählt, bei GG frage ich mich allerdings ernsthaft, ob diese Erzählhaltung zu irgendwas gut ist außer dazu, den Leser permanent zu nerven. Und wenn man sich die Kritik von MRR am Nachfolgeroman Ein weites Feld mal in Ruhe durchliest, wenn man das dumme Spiegel-Titelbild versucht beiseitezulassen, kommt einem einiges doch sehr bekannt vor:
Ein so sorgfältig kalkulierender Artist wie Sie, Günter Grass, mußte irgendwann die Fragwürdigkeit, ja die Unmöglichkeit dieser Konzeption schon merken. Sie schreiben: "War Fonty ohne seinen Tagundnachtschatten vorstellbar? Hätte dessen Abwesenheit nicht sogleich eine Geschichte beendet, deren Pointen vom Echo lebten und, mehr oder weniger mißtönend, zweistimmig gesungen sein wollten? Was bleibt übrig, fragten wir uns, wenn Hoftaller wegfällt?" Und etwas weiter: "Hoftaller war nicht sterblich!" - sehr richtig: Was nicht lebt, kann nicht sterben. Und daß die Geschichte zweistimmig gesungen sein wollte, stimmt nicht. Denn eine Geschichte gibt es hier eben nicht, leider.
Ja, hach, der Witwer behauptet in seinen Briefen irgendwas, woran sich der Erzähler nicht genau erinnert - ich bin erst auf Seite 54 und habe schon keine Lust mehr, denn ich ahne, dass es den Aufwand nicht lohnt, einem Schriftsteller dabei zuzusehen, wie er aus seiner Konstruktion nicht mehr herausfindet.

Ärgerlich wird es auch dann, wenn der Autor GG z. B. nicht dazu stehen will, welche Vornamen er seinen beiden Hauptfiguren verpasst hat - das klingt dann so:
Was hilft es, wenn seinem nur berichtenden Mitschüler [...] dieser Gleichklang zu stimmig ist, passend allenfalls für ein Singspiel nach berühmtem Vorbild, geeignet für Märchenfiguren, doch nicht für dieses vom Zufall verkuppelte Paar; es muss dennoch bei Alexander und Alexandra bleiben, schließlich ist es deren Geschichte.
Es gibt übrigens unendlich viele Krimis, in denen irgendwann davon die Rede ist, dass etwas "wie in einem schlechten Krimi" geschehe; ein alter und dann doch zu simpler Kniff.

Den ganzen Debatten um seine SS-Mitgliedschaft, die GG "zu berichten vergessen" hatte, bin ich nicht ernsthaft gefolgt. Woran ich mich jedoch erinnere, ist, dass auch seine Einlassungen zu diesem Thema diesen merkwürdigen Meta-Sound hatten, ungefähr so: Hier ist der Bericht des Jünglings, der ich einst war, und der mich an dieses und jenes erinnert hat ...

Beim (oberflächlichen) Suchen finde ich in diesem Zusammenhang z.B. folgendes Zitat von ihm:
Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsere Erinnerungen, unsere Selbstbilder trügerisch sein können und es oft auch sind. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. [...]
Viele Autobiographien versuchen dem Leser weiszumachen, eine Sache sei so und nicht anders gewesen. Das wollte ich offener gestalten, deswegen war die Form für mich so wichtig.
Das Buch, von dem da die Rede ist, kenne ich nicht. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass ein vorangestellter Absatz für die begriffstutzigeren unter den Lesern ("Übrigens: Das hier sind meine Erinnerungen, alle Angaben ohne Gewähr - aber ich versuche es trotzdem so gut ich kann. Ihr GG.") für eine gewisse Entspannung gesorgt und womöglich ein paar interessante Auskünfte auch zu dem SS-Thema ermöglicht hätte, z.B.: "Ich hätte es am liebsten vergessen, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, und später konnte ich es erst recht nicht mehr sagen, aber nun tue ich es aus den und den Gründen doch" - nur mal so als Beispiel, ich weiß das ja alles nicht.

Aber nun genug davon, und ich weiß natürlich, dass Sie dieses Blog nur der Bilder wegen anklicken, dazu bin ich Realist genug und es macht mir auch nichts aus.

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venice_wolf, Donnerstag, 29. Juli 2010, 18:46
Schönes Bild dieses eine letzte, es macht immer Spass (wegen Ihrer Fotos) vorbeizuschauen...


nee, den Text lese isch dann auch noch, wasn sonst?

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jean stubenzweig, Donnerstag, 29. Juli 2010, 20:40
Sehr interessante Denkansätze sind das. Ich habe nach dem Treffen in Telgte meine Grass-Lektüre beendet – ich hatte wohl das Interesse verloren, obwohl ich seinerzeit von der Danziger Trilogie hingerissen war. Möglicherweise hatte er in Telgte abzubauen begonnen. Nach dem, was Sie hier äußern, hat es den Anschein.

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nnier, Freitag, 30. Juli 2010, 00:39
Für mich, und das muss natürlich gesagt sein: als reinen Gelegenheitsleser ohne weitergehende Kenntnisse seines Werks, stellt sich ein seltsames Gefühl ein. Es geht dabei weniger um einzelne Manierismen wie z.B. die manchmal doch arg aufgesetzt daherkommende Sprache "aus dem Volk", wenn da z.B. von "Arsch neben Arsch" gesprochen wird; bei der Blechtrommel schien mir das alles wesentlich stimmiger. Aber was mich wirklich anstrengt, ist, dass er seine Ebenen offenbar benutzt, um sich dahinter zu verstecken. Siehe oben: " ... es muss dennoch bei Alexander und Alexandra bleiben, schließlich ist es deren Geschichte", nein, es ist seine Geschichte, die er sich ausdenkt - und dass das ja nicht der Autor Günter Grass sagt, sondern der umständlich dazugeholte Erzähler, wie man jetzt einwenden könnte, macht es überhaupt nicht besser. Er scheint es eher als allzu bequeme Möglichkeit zu nutzen, um Dinge, die ihm vielleicht selbst peinlich sind, trotzdem zu tun - also z.B. diese Namenspaarung zu verwenden - und dann nicht dazu zu stehen. Und mir scheint, dass es etwas sehr Ähnliches ist, das auch MRR an einer Stelle ganz deutlich kritisiert:
Aber wer hat was geschrieben? Ein Fontane-Forscher kann das vielleicht erkennen, ich kann es nicht immer. Denn, erstens, umfaßt das Werk Fontanes Zehntausende von Seiten, und, zweitens, imitieren Sie seinen Stil, zumal den Plauderton, gar nicht übel.

Wahrscheinlich sind Sie auf diese Leistung besonders stolz, ich hingegen würde auf sie gern verzichten. Seit bald 40 Jahren habe ich eine Schwäche für Ihre hämmernde, Ihre unverwechselbare Diktion in der Prosa und auch in der Lyrik, und es tut mir leid, daß es Ihnen jetzt offenbar Spaß macht, bisweilen mit verstellter Stimme zu sprechen. Überdies entsteht durch diese Textmischung ein etwas riskantes Durcheinander. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. [...]

Jetzt, mein lieber Günter Grass, werden Sie vielleicht triumphieren: Ätsch, ätsch - reingefallen. Denn dieser Satz über die deutsche Mittelmäßigkeit, werden Sie eventuell sagen, ist gar nicht von mir, sondern von unserem großen Fontane. Mag ja sein, ich bin da nicht sicher. Nur: Unsinn bleibt Unsinn.
Natürlich ist es nur eine Vermutung von mir und man könnte erst mal ein paar Seminare belegen - aber den Verdacht, dass er sich diese Haltung irgendwann auch seinem eigenen Leben gegenüber angewöhnt hat, den werde ich erst mal nicht los.

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g., Freitag, 30. Juli 2010, 08:07
Die Erzählerfigur ist eine der sensibelsten. Wegen ihrer herausgehobenen Stellung in Erzählungen darf man sie meines Erachtens nicht überkonstruieren. Dies scheint in diesem Roman geschehen zu sein. Wenn ich eine Reihe von Romanen mit herausgehobenen Erzählern Revue passieren lasse, finde ich in der Regel den allwissende Erzähler in der dritten Person, der im Gegenzug fast unkenntlich bleibt oder den Ich-Erzähler, der streng und nur gelegentlich kommentierend, dem Verlauf der Handlung folgt. Der umfassend kommentierende Erzähler wie hier bei Grass ist eine sehr seltene Konstruktion und ich denke durchaus zu recht. Er kann schon ziemlich nerven. Der einzige Roman mit einem ausufernd kommentierenden Erzähler, den ich mit Vergnügen gelesen habe, ist Diderots ‚Jacques le fataliste’. Ach ja, und das Bild mit dem Kursverfall des Zlotys, das ist, auch wenn ich den Zusammenhang nicht kenne, ziemlich schräg. Was soll es denn bedeuten? Einen mit unregelmäßigen Höhen und Tiefen ausgestatteten Niedergang? Was soll das im Zusammenhang mit einer ‚zufälligen Begegnung’ heißen?

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nnier, Freitag, 30. Juli 2010, 13:33
Zumindest sollte man einen guten Grund haben, so zu verfahren - womöglich erschließt sich der noch irgendwann, da habe ich allerdings arge Zweifel. Aber ich werde das Buch nun doch weiterlesen und also sehen, ob ich meine Meinung darüber ändern oder ergänzen muss. Bisher zumindest erscheint es mir willkürlich und dem Lesevergnügen abträglich.

Ja - der Zlotyverfall und die Begegnung, da muss man schon ziemlich gutwillig etwas konstruieren: Aus dem Zloty ist nichts geworden und aus der Begegnung auch nichts oder etwas in der Richtung. Überhaupt hätte man als Lektor auch über Dinge wie "Personalcomputer" stolpern können, denn es geht um keinen Rechner fürs Personal, und noch zweidrei Ausdrücke im Zusammenhang mit diesem Gerät schienen mir da reichlich unglücklich verwendet worden zu sein, ich muss noch einmal nachschauen, es war späte Nacht.

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jean stubenzweig, Freitag, 30. Juli 2010, 15:49
Ich vermute, daß Grass sich von keinem Lektor hineinredigieren läßt.

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monnemer, Samstag, 31. Juli 2010, 13:58
Ein Blick über die Schulter bringt vielleicht Licht ins Dunkel. Das Zloty-Beispiel könnte nach dem Verfahren der letzten Episode entstanden sein.

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