Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Teufels Werke
nnier | 06. April 2010 | Topic In echt
Ich saß im Commander oder in der Krake, jedenfalls in einem dieser Fahrgeschäfte, die sich insgesamt drehen und deren Krakenarme sich auf und ab bewegen, während die Sitze sich noch irgendwie um sich selbst drehen, und mir wurde schlecht. Ich hasste plötzlich die Musik und die verzerrte Stimme, die sich über das dröhnende Sirenengeräusch legte, um "noch eine Extrarunde und viel Spaaaaß!" zu befehlen, während sich die zentrifugalen Kräfte addierten und meine inneren Organe dorthin verschoben wurden, wohin sie definitiv nicht gehörten. Längst hatte ich genug, und die verbleibenden Minuten dehnten sich zur Ewigkeit, in der ich mühsam die Beherrschung zu wahren versuchte. Danach musste ich nach Hause gehen.

Das ist schon Jahre her und war ein Wendepunkt in meinem Leben. Dabei war es nicht annähernd das, was man sich heute auf den Rummelplätzen zumuten kann, vielmehr ein lächerliches Relikt aus vergangenen Zeiten, als man die Grenzbereiche der Physik nur auslotete, sie aber noch nicht überschritt. Man saß da vielleicht mal im gemächlich hin- und herschaukelnden Piratenschiff und wunderte sich darüber, welchen Drang die gerade noch vertilgten Waffeln und Bratwürste plötzlich speiseröhrenaufwärts entfalteten - war jedoch angesichts all der Stiernacken weiter vorne noch in der Lage, diesem zu widerstehen, ahnte man doch, welch ungute Wirkung ein sofortiges Vomitieren im Zusammenhang mit der aktuellen Position und den Effekten der Schwerkraft zeitigen würde. Man fuhr da auch mal mit der Achterbahn und gruselte sich vor den Fliehkräften der Kurven und den steilen Abfahrten. Glücklicherweise war das Tempo hier viel zu rasant, um sich auf Einzelheiten wie Nietenverbindungen zu konzentrieren oder vertieft über die Möglichkeiten der Materialermüdung an Bahn und Wagen nachzudenken. Viel mehr Gelegenheit dazu hatte man etwa im Kettenkarussell, wo man schon mal seine Flugbahn berechnete und den bevorzugten Landeplatz wählte, während die Geschwindigkeit zunahm, die Ketten in die Waagerechte zwang und man sich klarmachte, dass unter den vielen Kettengliedern ja nur eines zu sein brauchte, das heute mal einen schlechten Tag hatte. Auch im Riesenrad, das so gemächlich seine vertikalen Kreise zog, während die einzeln aufgehängten Gondeln sich langsam um sich selbst drehten, konnte man bei gutem Wetter die halbe Stadt überblicken und sich plötzlich sicher sein, dass der aufkommende Wind ein untrügliches Zeichen für den nun unmittelbar bevorstehenden Stromausfall war, denn man hatte den höchsten Punkt ja fast erreicht.

Ein kalkuliertes Risiko war es, das wusste man, und gewisse Geschichten entfalteten ihren Reiz erst dann, wenn man auf seinem Sitz saß, die zweifelhafte Festigkeit des Klappbügels zum dritten Mal überprüfte und dem mitreisenden jungen Mann einen rosafarbenen Plastikchip in die Hand gedrückt hatte, wenn dann ein zweistimmiges Hupen ertönte und man wusste, dass es kein Entrinnen mehr gab. Etwa die Geschichte von dem betrunkenen Schausteller, der die Regler des Fahrgeschäfts bis zum Anschlag hochgerissen und seinen panisch schreienden Gästen bei Höchstgeschwindigkeit Runde um Runde spendiert hatte, fast eine Stunde lang, während er sie durch die Lautsprecher verhöhnte. Oder die von den Achterbahnbauern, die plötzlich ein paar Teile übrig gehabt hatten und diese schnell beiseiteräumen mussten, bevor der Mann vom TÜV kam. Dennoch war ich begeisterter Rummelplatzbesucher, setzte mich voller Freude in den Autoscooter, schoss mit dem Luftgewehr auf bewegliche Ziele und sah fasziniert dabei zu, wie sich beim "Hau-den-Lukas" schnauzbärtige Jungmänner mit engen Jeanshosen und aufgepumptem Bizeps ("Zwerg", "Möchtegern") vom umstehenden Publikum verhöhnen ließen, während unscheinbare Mittfünfziger vom Typ Metallfacharbeiter ("Casanova", "Preisboxer") begeisterten Applaus einfuhren.

Sei es mein fortgeschrittenes Alter, sei es die zunehmende Entmenschlichung der Rummelplatzmaschinen, etwas ließ mich stets Abstand nehmen von den immer größeren, immer extremeren Apparaten, die einen fünfzig Meter hoch in den Himmel katapultieren, in denen man bewegungsunfähig festgeschnallt und dann in vollkommen hilfloser Position auf immer absurdere Weise herumgeschleudert wird. Dazu brauchte es keinerlei Geschichten, auch nicht die von den Sling-Shot-Mitreisenden, die mit den beiden Vierzehnjährigen dann doch lieber herumshakerten, als sie in ihrer Kapsel zu befestigen, diese gottverdammte Monotonie bei der Arbeit aber auch, und hoppala, und dann hieß das Geschäft eben Power-Shot oder so.

Was ich statt dessen vermisse, ist eine inzwischen wohl endgültig vergessene Attraktion, die schon in den frühen 80ern als fahrende Antiquität galt und auch nur ein einziges Mal in meiner Heimatstadt auftauchte. Es handelte sich dabei um eine große Scheibe, deren Oberfläche aus spiegelglatt poliertem Holzparkett bestand. Ich schätze den Durchmesser auf etwa acht Meter, sie befand sich waagerecht am Boden eines Zeltes und war ringsherum von irgendwelchem Polstern umlegt. Man zahlte den erschwinglichen Eintritt, suchte sich einen möglichst zentralen Platz und wartete auf das Startsignal, bei dem die Scheibe langsam zu rotieren begann. Das Ziel war, als letzter auf der Scheibe zu bleiben, deren Geschwindigkeit sich langsam steigerte, wodurch die meisten Fahrgäste auch schon bald nach außen rutschten, nicht ohne sich noch an irgendwelchen Beinen festzuhalten und weitere Personen mit von der Scheibe zu ziehen. Befand man sich in der Mitte, war man also zu einem ständigen Abwehrkampf genötigt und versuchte gleichzeitig, seine Sitznachbarn von der Scheibe zu drängen, ohne selbst ins Rutschen zu geraten.

Gesteigert wurde der Spaß durch das Personal. Der Mann am Mikrophon, ein Bayer, feuerte an, kommentierte und verhöhnte so gekonnt, dass es eine Freude war. Erst nach einigen Tagen erkannte ich, dass seine so spontan wirkenden Sprüche sich doch wiederholten ("Wo kommst denn du her?" - "Aus Hamburg!" - "Trau di aufs Teufelsrad, dann fliegst' ruckwärts bis nach Hamburg!"). Besonders schön war allerdings das Zusammenspiel zwischen dem Ansager und seinem Helfer, der in jeder Runde die Fahrchips kassierte. Dieser war ein routinierter Teufelsradler, konnte auf der drehenden Scheibe herumlaufen, ohne jemals hinzufallen und führte dabei noch allerlei Kunststückchen vor. Kam nun ein neuer und unerfahrener Kunde ins Zelt und flog nach Sekunden von der Scheibe, so sprach es aus den Lautsprechern: "Geh, des woar nix, Rudi, zoagst as eahm amoi", und als leidenserpobter Fliehkraftspezialist konnte man sich nun auf ein wunderbares Schauspiel freuen.

Der Helfer betrat die schnell rotierende Scheibe nicht, wie es eigentlich die einzige Möglichkeit für Normalsterbliche war, gegen die Rotationsrichtung, sondern stieg mit dieser auf, tat dabei auch noch einen schwer beschreiblichen Hüpfer und lief so elegant zur Mitte, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Was folgen musste, war klar: Der unbedarfte Neuling versuchte es ihm nachzutun, bekam die Beine weggerissen und landete auf derart slapstickhafte Weise in der Bande, dass es die reine Freude war. Glucksend und mit vom Lachen schmerzender Bauchmuskulatur kam man irgendwann heraus, und wenn man Glück hatte, war noch etwas Geld für ein paar Lose übrig.

Jahrelang hatte ich von der sagenhaften Freien Auswahl geträumt. Und als es eines Tages wirklich so weit war, dass ich die magischen Worte auf meinem gelben Loszettel stehen hatte, wurden mir tatsächlich die Knie weich. Ich konnte mein Glück nicht fassen und wollte den Moment so weit wie möglich auskosten. Der routinierte Blick des Losverkäufers ("Was willstn haben?") verstörte mich ein wenig, hatte ich doch mit einem sensationellen Jubel und einer Verkündung als Hauptgewinner gerechnet, der auf die Bühne gebeten wird und sich eine halbe Stunde lang nicht zwischen all den Kostbarkeiten zu entscheiden weiß. Einen großen Stoffwal habe er da anzubieten, drängelte der Mann, ich aber sagte: "Ich nehme die Anlage!" und deutete auf das wirklich brauchbar aussehende Ensemble aus Verstärker und Cassettendeck. Nun begann der Mann zu lachen, und ich verstand die Welt nicht mehr. Ein Transistorradio könne er mir geben, kicherte er, griff ins Regal und gab mir das Plastikding, womit der Fall dann auch erledigt war.

Beschweren mochte ich mich nicht, zumal mir dieses Henkelradio in den folgenden Jahren ein treuer Begleiter wurde. Man konnte es mit Batterien bestücken und samstags damit die Bundesligaübertragung hören, während man mit seinen Freunden Elfmeterschießen spielte. Dennoch begriff ich erst im Auto, was den Mann von der Losbude so erheitert hatte: Es war genau jene Anlage, mit der er seine Bude beschallte und durch die er seine Ansagen ("Gewinnegewinnegewinne!") machte.

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vert, Dienstag, 6. April 2010, 16:27
per movendum ad vomendum. es bleibt aktuell.

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monnemer, Dienstag, 6. April 2010, 18:38
Zuckerwatte, kandierte Äpfel, Bratheringbrötchen mit viel Zwiebeln. Und ab in den Weißen Blitz.
Das war ganz leicht. Das konnte früher jeder. Also dieses Vomendings.
Es wird schon seinen Grund haben, warum diese Veranstaltung in Mannheim "Mess" genannt wird.

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jean stubenzweig, Mittwoch, 7. April 2010, 17:20
Ach, Sie mein großer Helfer, mein Retter vor Verlusten, mein virtueller Therapeut.

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nnier, Mittwoch, 7. April 2010, 23:07
Vielleicht finde ich ja doch noch meinen Beruf.

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