Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Humblingly beautiful
nnier | 12. Januar 2025 | Topic Musiq
(Auf Anfrage)

Was hast du eigentlich in England gemacht, fragt die Kollegin, und ich erzähle es ihr. Wen hast du gesehen, da muss ich ja fast weinen, sagt sie, und ich sage lieber nichts. Am anderen Tag kommt Besuch und will wissen, wie es war. Als ich ein Lied vorspiele, das ich am zweiten Abend mit dem Handy aufgenommen habe, dreht er sich mit feuchten Augen weg und sagt: Dabei bin ich gar nicht so ein Fan wie du.



Seit 35 Jahren weiß ich, wie das ist, und trotzdem hat es mich diesmal vielleicht stärker erwischt als je zuvor - eine geradezu außerweltliche Erfahrung, als würde man seinen Körper verlassen und sich selbst von oben betrachten, wie man da steht und sagt: Das gibt es nicht, das gibt es doch nicht!

Als ich Anfang 1990 bei ein paar Konzerten in London war, wunderte ich mich über das reservierte Publikum. In Deutschland hatte ich ein paar Wochen vorher im Innenraum gestanden, begeisterte Menschen um mich, und saß nun zwischen zurückhaltenden Briten, die nach jedem Stück brav applaudierten und auf dem Weg nach draußen mit steifer Oberlippe sagten, why yes, excellent, brilliant.



Ich werde nicht jünger und war diesmal froh um die Sitzplätze. Dann standen alle auf und blieben stehen, sangen ungehemmt mit und riefen Dinge, vielleicht sind die Engländer lockerer geworden, vielleicht war es auch das Wissen, dass es nicht für immer so weitergehen kann: Ein Hauch von Abschied lag über allem, auch wenn Paul jeden Abend mit den Worten "See you next time!" beendete.



Während man wartet, startet in der sich langsam füllenden Halle ein DJ-Set, oben steht jemand und spielt Remixes, los geht es mit Mother Nature's Son und man denkt unmittelbar, wie kann man nur so ein schönes Lied schreiben? Es ist nur ein kleines Liedchen auf dem Weißen Album, und du sitzt da und fragst dich ernsthaft, kann es etwas Schöneres geben?

Irgendwann gehen die Videowände an und es beginnt eine weitere Folge von Liedern aus der Konserve, Beatles und solo, dazu Bilder aus allen Phasen, man könnte auch sagen: Man wird emotional weichgeklopft, bevor das Konzert überhaupt losgeht, und wenn er auf die Bühne kommt, sagen die Leute zueinander: Das kann nicht sein!



Viel mehr Erinnerungen an den ersten Abend habe ich nicht. Zurück im Appartement tippte ich eine einzige, kurze Nachricht in mein Handy: "Einer der schönsten Abende meines Lebens", und es war genau so gemeint.

Es ist nicht ganz einfach, wenn man sich innerlich noch gar nicht wieder zusammenfügen konnte, gleich am nächsten Tag noch einmal hinzugehen. Aber wie ich meiner freundlichen Sitznachbarin zu erklären versuchte: I couldn't not go, im Konzert sagte sie mehrfach zu mir: Unbelievable. Amazing. This can't be real. Und zum Abschied: Now I know why you had to come again. I would go tomorrow.



Die reinen Fakten sind schnell erzählt, ich hatte mit wenigen Ausnahmen alle Songs schon live gehört, große Überraschungen gibt es da nicht. Dramaturgisch würde ich die Sache etwas anders aufbauen, denn es ist gar nicht nötig, die Show mit Knallern wie A Hard Day's Night oder Can't Buy Me Love zu beginnen, man braucht doch etwas Zeit, um sich an diese irreale Sitution anzupassen, und ich erinnere mich gerne an die 89/90er-Tour, als erst mal zwei aktuelle Midtempo-Solotitel, die noch keiner kannte, und eine Wings-Nummer gegeben wurden, bevor das erste Stück von den Beatles kam.

Inzwischen geht es von Anfang an auf die Zwölf, es folgt mit Junior's Farm ein Fan Favourite, "hart" gespielt und gleich mit E-Gitarren-Solo-Gepose, das würde ich anders einsortieren. Und wenn ich zwischendurch einen Gedanken fassen kann, dann frage ich mich, ob Paul immer noch gegen das alte Vorurteil ankämpft, hauptsächlich seichte Balladen abzuliefern. Und ob deshalb die Gewitter von Live And Let Die und Helter Skelter unverzichtbar dazugehören, während tatsächlich Yesterday nicht mehr im Programm ist.



Die Band spielt knackig und fehlerlos, der Schlagzeuger unterstützt gesanglich, und auf ein paar dieser ganz großen Rock-Gesten könnte ich gut verzichten, wenn z.B. der Schluss eines Liedes noch, Bamm! Bamm! Bamm! Bamm! BAMMMM!, mit ein paar Sekunden zu viel Trommelwirbel und Tusch und E-Gitarren-Feedback hinausgezögert wird.

Denn es geht auch ganz anders, z.B. wenn in der Mitte des Sets quasi "unplugged" das naive Love Me Do gespielt wird: Ganz ohne Fanfaren und Bombast das emotionale Highlight, der Anfang von allem, und man merkt unmittelbar, wie der Welt-Glücks-Index signifikant ansteigt.



Viel wird über seine mangelnde Urteilsfähigkeit spekuliert, er wisse Unerlässliches nicht von Unerheblichem zu scheiden: Es mag etwas daran sein, und doch schmunzele ich bei der Vorstellung, dass er mit Ob-La-Di, Ob-La-Da oder Wonderful Christmastime seinen Kritikern einen dezenten Mittelfinger zeigt. Sollte eines Tages noch We All Stand Together (a.k.a. Frog Song) gegeben werden, würde ich meine These als bewiesen ansehen.

Ein einziges Mal überschreitet er für mich eine Linie - I've Got a Feeling im virtuellen Duett mit John, so etwas muss nicht sein, nur weil es inzwischen technisch möglich ist. Sicher wird es in ein paar Jahren Avatar-Konzerte wie von ABBA geben und vermutlich werde ich dann auch hingehen; aber das muss nicht in ein reales Konzert hinüberschwappen, bei dem, nach allem, was ich mitbekomme, sonst nicht mit Playback oder Autotune getrickst wird. Es sind ja gerade die Momente, in denen seine Stimme nicht mehr mitmacht, die einen berühren können: Here Today und Blackbird alleine auf der Bühne, nur von der eigenen akustischen Gitarre begleitet, vollkommen ungeschützt, und Maybe I'm Amazed ist schon seit Jahrzehnten ein Register zu hoch, man hofft und drückt immer wieder die Daumen, dass er halbwegs unfallfrei durch die klavierbegleiteten ersten Zeilen kommt, bevor der Hintergrundgesang und die anderen Instrumente einsetzen.



Am vierten und letzten Abend wäre ich fast nicht mehr hingegangen, denn die Reise und die Konzertbesuche hatten mich durchaus angestrengt. Mit reichlich Doping schaffte ich es doch und fühlte mich ein wenig beschämt, als der 82-Jährige auf der Bühne von seinem 84-jährigen Kollegen besucht wurde, der mit federndem Schritt hinters Schlagzeug eilte, einer so rank und schlank wie der andere, während ich diesmal wirklich saß. Und das alles ist einfach nicht zu glauben.



See you next time, Frau r.!

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reuter, Dienstag, 14. Januar 2025, 16:05
Wundervoll, vielen Dank.
Ein bisschen war ich ja sogar neidisch, obwohl ich der unneidischste Mensch der Welt bin. Und das jetzt so bei Ihnen lesen & mir vorstellen zu können, ist mir eine große Freude.

Ich verstehe Ihren Punkt mit der roten Linie bei „I’ve got a feeling“, habe es aber anders empfunden. Als ich es zum erstenmal gesehen habe (per Youtube oder so), es war in Glastonbury glaube ich, war ich davon schon sehr berührt. Es kommt mir nicht vor wie das Überstrapazieren von technisch Machbarem, sondern wie eine Sentimentalität & Liebeserklärung an John, für die er jetzt halt noch mal ein neues Vehikel gefunden hat… da war noch soviel übrig an Emotion und Unerzähltem, das sich noch Luft verschaffen muss. „I’ve got a feeling“ ist aus mir nicht ganz erklärlichen Gründen eines meiner Beatles-Lieblingslieder.

Wie auch immer. Wie Sie sagen und wie wir alle wissen – wer weiß, wie lange noch, wie oft noch. Wie schön, dass Sie dabei waren. Und ein bisschen davon mit uns geteilt haben. <3

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