Graf B. bemerkte einen Mann, der ächzend eine große Standuhr über die Straße schleppte. Kopfschüttelnd beobachtete er ihn eine Weile, trat dann zu ihm hin, schon seinen Ärmel zurück und zeigte auf seine Armbanduhr: "So etwas müssen Sie sich kaufen, das ist praktisch!"
Ich für meinen Teil laufe dennoch, seit die Tage der Digitaluhr Vergangenheit sind, mit entblößtem Handgelenk herum und gehöre damit zu jenen, die, wie mir ein Psychologe einst darlegte, ganz tief drinnen immer noch nach dem Mondkalender der Mutter leben wollen (oder so). Und wer wäre ausgerechnet ich, dies zu verneinen.
Ganz ohne Zeitmesser komme ich allerdings nicht aus, und so greife ich allsonntäglich zum großen Schlüssel, ziehe die russische U-Boot-Uhr auf und versuche dabei eine so gewichtige Miene aufzusetzen wie Großonkel A., der im auf der ersten Silbe betonten Büro jahrzehntelang nicht nur diese Aufgabe mit großem Pflichtbewusstsein erfüllte.
Im Unterschied zu dieser hölzernen Bürouhr jedoch, die von der am Kirchturm befestigten niemals auch nur einen Deut abwich, richtet sich unsere Sowjetuhr auch im kapitalistischen Ausland nach dem roten Sternbild des Hammers und der Sichel, denn sie schert sich weder um das Atomsignal aus Braunschweig noch um den allerdings ohnehin zeitverzögerten Gongschlag aus Hamburg. Zum einen, da ich die Schlagzahl ihres Taktgebers unmerklich erhöht habe, so dass sie zwischen zwei Sonntagen dem tatsächlichen Puls der Zeit um einige leicht phasenverschobene Sekunden nahezu subliminal vorauseilt. Zum anderen, weil ich sie ohnehin um etwa fünf Minuten vorgestellt habe.
Im Auto hingegen sind es zwei bis drei Minuten, die nicht nur bei Terminknappheit und Parkplatzsuche mein Nervenkostüm schonen, denn, mag es auch ein Selbstbetrug der billigen Art sein, ich bin in der Lage, mittels einer Art Zwiedenken zwar jederzeit zu wissen, dass die Uhr vorgeht, mich aber dennoch nach der angezeigten Uhrzeit zu richten, als sei diese real, so dass die irgendwie einkalkulierten und dann doch jedes Mal überraschend freiwerdenden Zusatzminuten mir im Ergebnis wie ein unverhofftes Geschenk aus dem Paralleluniversum erscheinen - Minuten, in denen man z.B. atmen oder in die Gegend starren kann.
Bei all dem weiß ich nie sicher, welche der vielen Uhren im Hause nun gerade um wieviel vorgeht, komme aber in der Regel gut damit zurecht, völlig unbewusst einen komplizierten Algorithmus* zur Anwendung zu bringen und mit dessen Hilfe einen gewichteten Durchschnitt zu erspüren - bewusst wäre dies kaum zu leisten, und täuschen Sie sich nicht: Auch das vegetative Nervensystem vollbringt erstaunlich komplexe Leistungen; müssten Sie bspw. Ihre Leber- und Nierenfunktionen bewusst regulieren, wären Sie zu alltäglichen geistigen Verrichtungen (Quadratwurzeln aus Autonummern berechnen, den Essensplan der Woche vom 18. - 22.5. 1981 aufsagen) kaum mehr in der Lage.
Da gibt es die ins schnurlose Telefon eingebaute Zeitanzeige, die ein wenig zu langsam läuft und die ich deshalb in unregelmäßigen Abständen um einige Minuten vorstelle; als Parameter fließen also Zeitpunkt und Absolutbetrag des letzten Vorstellvorgangs sowie die relative Langsamkeit des verschnarchten Telefonquarzkristalls in die Formel ein. Da gibt es die beiden identischen digitalen Reisewecker, die minimal unterschiedliche Zeiten anzeigen, beide jedoch etwas vorgehen; hier spielt demnach auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Rolle, da durch den Unsicherheitsfaktor Funsicher (W1, W2) näherungsweise bestimmt wird, ob man jetzt halt eben quasi den einen oder sozusagen praktisch den anderen Wecker, nicht wahr. Es gibt die batteriebetriebene Wanduhr im Flur, die mit einem gewissen Versatz oft nahezu parallel zur Realzeit läuft und manchmal unvermutet stehenbleibt. Und seit neuestem den funkferngesteuerten Analogwecker neben meinem Bett.
Er wäre vermutlich der einzig geeignete Taktgeber eines ordentlichen Erwachsenenlebens. Ich kaufte ihn mit eben jenem Kalkül und bin auch dankbar dafür, dass ich spätabends keine Berechnungen mehr anstellen muss, die da lauten: "Eigentlich geht er fünf Minuten vor, oder waren's zehn, demnach wird das Alarmsignal einige Minuten später ertönen als der rote Zeiger signalisiert, oder war's früher, jedoch darf es morgen nicht zu spät klingeln, da du nach dem Abschalten des Alarmtons noch zwischen 5 und 40 Minuten schlummerst - stelle deshalb den Alarmzeiger 10 Minuten früher, oder war es später, und vergiss nicht, den Alarmschalter hochzuschieben, damit der Wecker überhaupt klingelt, oder war es doch runter."
Die atomgenaue Gründlichkeit, mit der seine Zeiger voranschreiten, suggeriert eine ungewohnte Verlässlichkeit, und da es kein fragiles Geticker gibt, sondern der Minutenzeiger alle 15 Sekunden mit einem entschlossenen, soliden Geräusch (etwa: "Ruck!") um den 60*4 = 240sten Teil eines Stundenkreises, mithin einen Winkel von 1,5° vorrückt, baut man mit der Zeit doch einiges an Vertrauen zu diesem Gerät auf, das übrigens nicht so einfach manipulierbar ist wie seine Zeit-Genossen: Diese Uhr fragt in regelmäßigen Abständen eine bestimmte Radiofrequenz ab, welche das Braunschweiger Signal der absolut echten, wirklichen, realen, objektiven Tageszeit übermittelt, welche ja schon längst nicht mehr anhand der Eigendrehung der Erde definiert ist, da diese viel zu unrund läuft, sondern eine Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung, und wenn man dennoch meint, dem Nuklid 133Cs ein Schnippchen schlagen und die Weckuhr also um die gewohnten paar Minuten vorstellen zu können, wird man sehr schnell eines Besseren belehrt: Sie dient nur einem Herrn, richtet sich strikt nach dessen Anweisungen und korrigiert natürlich umgehend ihren Zeigerstand.
Gerade diese ihre Eigenschaft, ihre Beharrlichkeit, die an Sturheit grenzt, die stoische Art, in der sie mit fester Stimme zu sagen scheint: "Ich tue hier meinen Job, Sir, und da draußen sind Menschen, Sir, die sich auf mich verlassen, und diesen Job werde ich jede verdammte Minute tun. Sir" war es, an die ich mich zunächst gewöhnen musste, die ich inzwischen aber zu schätzen weiß und die mich irgendwann vollständig auf sie vertrauen ließ. Gerade das machte mein nächtliches Erlebnis so aufwühlend.
Das Geräusch war unheimlich, eine Art Surren, ein hektisches Rattern, leise, aber doch laut genug, um mich hochschrecken zu lassen. Verwirrt knipste ich die Nachttischlampe an und starrte in die Richtung, aus der das grauenerregende Schnarren zu mir drang. Es war meine Funkuhr, und ihre Zeiger rasten. Stunde um Stunde sauste an mir vorbei, 3:00, 4:00, 5:00, ich hielt die Luft an und mein Herz schlug wild, die Uhr schien mich zu verhöhnen, während sie rannte und rannte. Schon war es 10:00 und dann 11:00, mir brach der Schweiß aus und die Zunge klebte am Gaumen, bis die Zeiger plötzlich stoppten und auf Punkt 12:00 stehenblieben.
Mir war schwindelig, und panisch tastete ich nach einer Wasserflasche, um meine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Mit geschlossenen Augen trank ich die Flasche leer und versuchte, meine Gedanken zu ordnen: Ob das ein Alptraum war? Ich sah noch einmal zur Uhr. Die Zeiger standen auf 12:00.
Irgendwann löschte ich das Licht und schloss die Augen. Der Schreck saß tief, ich spürte jeden Pulsschlag in meiner Halsschlagader, und doch war eine grandiose Müdigkeit gerade im Begriff, mich gnädig wieder hinabzuziehen, als ich erneut hochfuhr, das Licht anschaltete und panisch zu meiner Funkuhr sah, deren Zeiger wieder zu rasen begonnen hatten und mir höhnisch zuzurufen schienen:
Deine Zeit vergeht! Dein Leben geht vorbei!
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*Entscheidung für H0 der Varianz θ heißt und zumindest approximativ Intervallgrenzen enthalten das (stochastische) Intervall [U,V] ein Konfidenzintervall für θ mit Konfidenzniveau γ den wahren Wert wenn die Schätzfunktion hat die Störterme Ui˜N(0,σU) verteilt sind, erwartungstreu die als die Wurzel aus errechneten normalverteilt bei der Poissonverteilung mit Parameter λ (Erwartungswert = Varianz = λ): Testing for the independence of regression disturbances. Econometrica, 38, 97-117.
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