Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Mittwoch, 16. Dezember 2009
Kurz vorm Nirwana
nnier | 16. Dezember 2009 | Topic In echt
Vielleicht liegt's an dem Papier, das ich heute abgebe, oder daran, dass ich heute wieder wohin fahre, und aber jedenfalls hätte mich das an einem anderen Tag vielleicht ärgern können. Ich war zu spät dran, ich hatte [hier Widernisse des frühmorgendlichen Alltags einfügen], ich fand keinen Parkplatz, ich kurvte herum. Schließlich, endlich erblickte ich einen - ob der wohl reichen würde? Ich rangierte vorsichtig und langsam rückwärts hinein, mit diesen eingezogenen Schultern, als ob das etwas nützen würde. Ein älterer Herr, offensichtlich Besitzer des Wagens vor der doch sehr engen Lücke, legte seine Sprühdose aus der Hand und winkte mich fuchtelnd vor und zurück. Ich fühlte mich in der Pflicht, ihm freundlich zuzulächeln, fühlte mich in der Pflicht, seinen richtungsweisenden Armbewegungen zu folgen, stand irgendwann halbwegs in der Lücke und stoppte den Motor.

Man muss vielleicht wissen, dass ich kein fanatischer Autofahrer bin, auch niemand, der anderen ein "Park wo du wohnst!" an die Scheibe klebt, mir sind rechte Winkel nicht so wichtig, und doch sehe ich es als meine moralische Pflicht an, einigermaßen anständig einzuparken, zumal in engen Wohnstraßen. Ein anderer hätte womöglich gesagt: "Passt doch locker!", hätte die Tür zugeschlagen und wäre seiner Wege gegangen. Und tatsächlich fuhren einige Autos problemlos durch die Straße an meinem Auto vorbei.

Dennoch, der seitliche Abstand zur Bordsteinkante überschritt meine kritische Grenze, das sah ich beim Aussteigen, als der alte Herr auf mich zutrat und sprach: "Kriegst du diese Scheiße hier auf, das ist vielleicht ein Scheiß!". Er hielt mir seine Sprühdose entgegen, von der ich den klemmenden Deckel problemlos lösen konnte, das ist ja immer wieder eine Situation, in der es drauf ankommt, in der man sich keine Blöße geben will.

Der Mann bedankte sich, ich aber antwortete: "Da muss ich wohl noch mal nachkorrigieren", zeigte auf den Wagen, dessen Reifen die Bordsteinkante eben nicht ganz berührten, "Aber nicht viel!", sprach er, ich stieg ein, betätigte den Anlasser, der Mann fuchtelte, ich kurbelte, die Lücke war wirklich arg eng, und wieder fühlte ich mich verpflichtet, den nonverbalen Anweisungen des Herrn folge zu leisten, wodurch ich auch nach mehreren Versuchen nicht besser dastand als zuvor.

Sein freundliches Gesicht näherte sich der Scheibe: "Ich fahre gleich weg da!", etwas in mir zweifelte, doch ich fühlte mich verpflichtet zu sagen: "Prima, dann warte ich kurz!" und setzte mich hinters Steuer.

Der Mann sprühte etwas aus seiner Dose auf die stark vereiste Heckscheibe. Er ging ums Auto herum und sprühte vorne. Er öffnete seinen Kofferraum mit dem Schlüssel, legte die Dose hinein, entnahm einen Eiskratzer, schloss den Kofferraumdeckel und widmete sich hingebungsvoll seiner Heckscheibe. Zwei Dinge gingen mir durch den Kopf: Wozu die Sprüherei, wenn man ohnehin kratzt? Und: Erstaunlich, wie gründlich doch manche Leute ihre Scheiben freikratzen. Kein Fitzelchen Eis mehr, nirgends, auch nicht am Rand! Gut, das dauert seine Zeit, aber: Re-spekt für diese Leistung!

Als nächstes kamen die vorderen und hinteren Scheiben der Fahrerseite dran. Auch hier: Akkurate Arbeit, kein Kristallchen mehr zu sehen, es war wirklich bewundernswert, und selbstverständlich stand einige Minuten später auch die Beifahrerseite ihrem Pendant in nichts nach.

Nun öffnete er die Fahrertür, setzte sich in sein Auto, startete den Motor, stieg wieder aus und kratzte die Fahrerseite der Frontscheibe penibel frei. Klar: Wenn man schon hinten und an den Seiten so gründlich arbeitet, ist es ja Ehrensache, dass nicht ausgerechnet vorne geschludert wird! Die Frontscheibe ist ja gewissermaßen die Queen of car windows, um hier mal einen Anglizismus einzuführen, und verdient entsprechende Behandlung.

Der Herr ging nun wieder nach hinten, öffnete die Kofferraumklappe, legte den Eiskratzer hinein, schloss den Kofferraum, ging zur Fahrertür, setzte sich hinein, schloss die Tür, und während ich noch dachte: Cooler Typ, alles freikratzen und dann eine Hälfte der Frontscheibe unbehandelt lassen, das hat Stil, das ist mal eine individuelle Note, stoppte er den Motor, stieg aus, schloss den Kofferraum auf, entnahm den Eiskratzer, ging nach vorn, befreite die Frontscheibe nun auch auf der Beifahrerseite von allem, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem gefrorenen Wassermolekül hatte, ging zum Kofferraum, schloss auf, legte den Kratzer hinein, ging zur Fahrertür, hob grüßend die Hand, setzte sich in seinen Wagen, und es vergingen nur noch wenige Minuten, bis er dann losfuhr.

Ich hatte ein gelöstes Lächeln auf dem Gesicht, und beinahe wäre ich ausgestiegen und weggegangen, ohne meine Parkposition zu korrigieren.

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