Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Samstag, 22. August 2009
Das war alles nicht selbstverständlich
nnier | 22. August 2009 | Topic In echt
(Ungeordnetes aus der Kladde)

Nehmen wir mal den Taschenrechner: Ich fand es unglaublich, dass man einfach Rechenaufgaben in eine Maschine tippen konnte und diese einem, ohne lange nachzudenken, das Ergebnis anzeigte. So etwas wollte ich unbedingt haben, sparte lange und ging dann endlich mit meinem Vater in die Stadt, um einen Taschenrechner zu kaufen. Bei Quelle sollten diese Geräte bezahlbar und gut sein, und für etwa 50.- DM kauften wir also ein Gerät von Privileg, das den Vorteil hatte, mit zwei normalen Mignonzellen betrieben zu werden. Die leuchtendgrüne Anzeige begleitete fortan meine Nächte. Ich tippte und rechnete, spielte und drückte unter der Bettdecke, wo die Leuchtziffern besonders effektvoll zur Geltung kamen, ich strapazierte die Geduld meiner Verwandten, die mir ständig Rechenaufgaben stellen sollten, ich bat meine Oma, mit mir "Einkaufen" zu spielen, und sie sagte, gut, ich kaufe dies für 1,49 und das für 2,89, dann habe ich noch drei Pfandflaschen für je 15 Pf und eine für 30, nehme eine Plastiktüte für 10 Pf, gebe meine Rabattmarken ab, das Heft ist voll, 100 Marken à 2 Pf, und glücklich präsentierte ich ihr das Ergebnis. Ich nötigte reihum jeden, die Zahl 7353.315 einzugeben und die Ziffern dann kopfüber zu lesen, versuchte, die kleinste positive Zahl der Welt zu finden, indem ich mir überlegte, dass man ja mit 1 anfangen und dann immer durch 2 teilen könnte, das würde ja immer weniger werden und irgendwann wäre es dann so wenig, weniger geht nicht, aber zu meiner Enttäuschung kam immer etwas mit einem E-18 am Ende heraus, und solche Zahlen gibt's ja gar nicht.

Die andere Sache war die mit den Digitaluhren. Zur Einschulung hatte ich eine tickende, mechanische Armbanduhr zum Aufziehen bekommen, was meinen Großvater noch in beinahe fassungsloses Erstaunen versetzt hatte ("Eine Uhr hast du gekriegt!?"). Ich mochte diese schöne Uhr mit ihrem blauen Zifferblatt und dem ebenso gefärbten Lederarmband, doch einige Jahre später sollte es etwas viel Tolleres geben: Digitaluhren. Ich war hingerissen. Die Dinger wirkten damals nicht billig, sondern futuristisch, und niemand wollte mehr eine analoge Uhr mit Zeigern haben, sondern eine digitale sollte es sein mit mattsilbernem Metallarmband und möglichst vielen Knöpfen. Sehnsüchtig lauschte ich dem piependen Stundensignal aus den verschiedenen Ecken des Klassenzimmers, ließ mir die Beleuchtung sowie die geradezu unglaublichen Zusatzfunktionen (Stoppuhr, Datum) zeigen und war am meisten fasziniert von der Weck- bzw. Alarmfunktion. In den Pausen synchronisierten die beneidenswerten Besitzer ihre Digitaluhren, man stellte eine Alarmzeit ein und prüfte, ob diese von allen exakt eingehalten wurde, keine Zehntelsekunde zu früh durfte es da bei jemandem lospiepen, und eines Tages wurde all dies noch übertroffen durch den Erstkontakt mit einer Uhr, die eine Weckmelodie abspielte. Das schlug ein wie eine Bombe. Und noch immer, wenn ich das schöne Greensleeves höre, muss ich an diese Uhr denken, denn das Alarmgepiepse war ebenjene Melodie. Auch sie gab es bei Quelle, sie kostete 35.- DM, die waren weit weg, und so nahm ich zunächst eine Abkürzung, denn mein Freund A. kam eines Tages an und fragte mich, ob ich für 10.- DM eine Digitaluhr wolle, klar, sagte ich, gab ihm das Geld und er brachte mir tatsächlich eine Digitaluhr, die nicht ganz neu aussah, das Armband war goldfarben, aber sie funktionierte, ich fragte ihn, woher die eigentlich sei, und er erklärte mir, er habe da am Bahnhof jemanden getroffen, der habe ganz viele. Die ganze Nacht hindurch spielte ich mit der Uhr herum, testete alle Funktionen, ließ sie leuchten und piepen, zog sie am nächsten Morgen an, wurde am Frühstückstisch gefragt, woher die kam, musste sie zurückgeben und weitersparen. Was ich auch tat.

Als ich mir das gute Stück schließlich kaufen konnte, gehörte ich endlich zur Gruppe der sechs, sieben Auserwählten, von denen jeder regelmäßig Ärger bekam, wenn die Melodie im Unterricht erklang, und die langen Mittagspausen verbrachten wir mit verschiedenen Experimenten wie "alle gleichzeitig" oder "direkt nacheinander", nahmen das Gepiepse mit einem dieser Cassettenrecorder auf, um ihn dann im richtigen Moment mit hoher Lautstärke einzuschalten - und überhaupt, ja, hatten wir damit viel Spaß und das wollte ich einfach mal so erzählen, ne.

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