Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Montag, 2. März 2009
Barfuß zum Nordpol: Baden, Baden
nnier | 02. März 2009 | Topic In echt
[Fortsetzung]
Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann
Und sein Zuhause ist die Autobahn
Uuuuh-uhuhuuuu-uhuhuuuuuu
(Gunter Gabriel)
Mein Opa kaufte uns LPs mit dem Titel Wim Thoelke präsentiert: Stars und ihre goldenen Hits. Denn von jeder verkauften Schallplatte gingen 2,50 DM an die Aktion Sorgenkind. Die Ausgaben von 1975 und 1976 hatten wir von ihm bekommen, so meine ich, während ich die von 1974 erst etwas später bei meinen anderen Großeltern in dem großen Album entdeckte. Sie besaßen nämlich ein mit beigebraun gemustertem Kunstfell überzogenes Album, größer und dicker als ein Fotoalbum, darin durchsichtige PVC-Hüllen, in die man Schallplatten einlegen und dann durch die Sammlung blättern konnte. Non Stop Dancing, Heimwehmelodie, Platten von Heino und Mozarts Zauberflöte befanden sich darin.

Bei uns standen die LPs in zwei Würfeln aus dunklem Holz auf dem Fußboden. Es waren nicht sehr viele; und besonders gerne und häufig hörten wir in dieser Zeit die beiden Wim-Thoelke-Platten. Es schien mir ein Naturgesetz zu sein, dass auf solchen Platten je ein Lied von Heino, Udo Jürgens und Mireille Mathieu vertreten sein musste, auch Tony Marshall, Jürgen Marcus und Michael Holm gehörten eindeutig zum Inventar. Aber das alles war nichts gegen den einen: Gunter Gabriel. Hey Boss, ich brauch mehr Geld und vor allem der Dreißigtonner Diesel hatten es mir wirklich angetan. Seine Stimme strahlte eine Verwegenheit aus, die mich beeindruckte. Er hieß auch nicht schnöde Günter oder Günther*, nein, die Abwesenheit der Umlautpünktchen ließ den Namen gleich viel ursprünglicher und rauher wirken. Und dann diese Texte aus dem echten, harten Leben - dagegen kam Johnny Hill mit seinem Tränendrücker wirklich nicht an:
Dies ist ein Lied für dich, mein Freund,
der du Tag für Tag mit einem Laster
auf der Straße liegst,
Junge, für dich habe ich dieses Lied geschrieben!
Es war spät geworden an der spanisch-französischen Grenze. Einer dieser modernen Helden, ein Kapitän der Landstraße, nahm uns dann schließlich mit und versprach hoch und heilig, bis Deutschland durchzufahren. Beeindruckt von der gut ausgestatteten Fahrerkabine, vor allem aber sehr erleichtert, nahmen wir also Platz und verbrachten eine Nacht on the road. Während der Fahrer des Lastzugs sich beim Fahren routiniert Kaffee kochte (man kann gut mit den Knien lenken), per CB-Funk mit seinen Kollegen sprach (es war genau wie in den Liedern!) und zwischendurch Geschichten erzählte (wie z.B. die von seinem letzten Unfall), hatte ich gegen die etwas beengten Platzverhältnisse rein gar nichts einzuwenden, denn ich habe ja schon angedeutet, dass mir meine Reisegefährtin durchaus (Au! Au! Das ist doch schon so lange - au!)

Er sei jede Woche von Sonntagabend bis Freitagabend unterwegs, am Wochenende aber daheim bei Frau und Kind, deren gerahmtes Fotografenfoto wie andernorts auf dem Bürotisch hier eben auf dem Armaturenbrett stand. Doch wenn er mal Urlaub habe, stehe er schon drei Tage vor dem Ende wieder "auf dem Hof" und bringe seinen Lastzug auf Vordermann, es jucke ihn dann einfach, da helfe nichts. (So unter Kollegen verstand ich das übrigens genau, schließlich hatte ich auch schon mal einen Transit gefahren).

Der Lastzug rauschte durch die Nacht, es war gemütlich, an der französisch-deutschen Grenze mussten wir die Pässe vorzeigen, meine sanft schlummernde Begleitung gab mir den ihren in die Hand, ich hielt beide hinaus, der Grenzer gab sie mir kurz darauf zurück, der LKW fuhr weiter, wir hatten Deutschland erreicht!

So groß meine Freude darüber auch war, das böse Land unbeschadet hinter mir gelassen zu haben, es mischte sich doch eine leise Melancholie hinein. Vielleicht war es nur die Müdigkeit, vielleicht aber auch das Bedauern darüber, dass die Wege der beiden, ähm, Heimreisenden (ich kann hier nicht ganz frei sprechen) sich bald trennen würden, denn, so hatte sie erzählt, sie würde zunächst in Süddeutschland bleiben und von dort aus noch eine Woche nach Österreich fahren. Die Zeichen standen auf Abschied.

Doch zuvor gab es noch einige frühe Morgenstunden an irgendeiner Autobahnraststätte zu überstehen, die der Fahrzeuglenker relativ unvermittelt mit den Worten: "Ich muss jetzt unbedingt schlafen!" angesteuert hatte. Er wolle maximal zwei Stunden schlafen, schärfte er uns ein, "weckt mich dann um jeden Preis, egal was ich sage, ich muss UNBEDINGT weiterfahren, EGAL, WAS ICH SAGE!"

Die zwei Stunden vergingen irgendwie, man klopfte also an die Fahrertür, hämmerte an die Tür, nichts geschah, man stieg auf den riesigen Reifen und schlug gegen die Seitenscheibe, bis der Fahrer sich plötzlich erhob und wutentbrannt losschrie, was denn sei, ob wir denn TOTAL VERRÜCKT seien, er müsse UNBEDINGT SCHLAFEN, wir sollten sofort VERSCHWINDEN und ihn IN RUHE LASSEN!!! EGAL, WAS ICH VORHIN GESAGT HABE!

Zurück in der Raststätte beratschlagten wir; es wurde hell, man könnte eigentlich versuchen, anders weiterzukommen. Die Idee war nicht schlecht, nur: unser Gepäck befand sich im LKW. Nachdem ich eine weitere Stunde damit verbracht hatte, genug Mut anzusammeln, startete ich also den nächsten Versuch. Ich klopfte und machte möglichst viel Lärm, bis der Fahrer aus dem Schlaf hochschrak und mich verwirrt anstarrte. Ich erklärte ihm die Lage, er sah erschrocken auf die Uhr, schimpfte los, dass wir ihn doch hätten wecken sollen, das habe er doch gesagt, bot uns an, uns noch ein Stück mitzunehmen und tat das dann (nach ausgiebiger Morgentoilette im Rasthaus) auch.

Als er uns an irgendeiner Raststätte hinausließ, war endgültig klar, dass die Wege der Reisenden sich nun würden trennen müssen, die Reisende bekam recht schnell einen Lift in ihre südliche Richtung, der Reisende deutlich später einen in die ganz grob nördliche Richtung, bis zur Raststätte Baden-Baden - immerhin! Wo er nach ein paar Stunden in die Autobahnkirche ging, um Trost zu suchen, verzweifelt angesprochene Autofahrer sich um keinen Preis erweichen ließen, die Abenddämmerung hereinbrach, es windig und eiskalt war, er schließlich einen Querfeldeinmarsch dorthin begann, wo er die Stadt Baden-Baden vermutete, sie irgendwann auch fand, dort den Bahnhof ansteuerte und sein allerletztes Geld für ein Zugticket ausgab. Barfuß war der Nordpol einfach nicht zu bezwingen, nächstes Mal würde er die Badelatschen mitnehmen.


Epilog

Mit der Bahn fuhr ich in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, fand mein Elternhaus leer vor und gab mich dort ausgiebig der Badewanne hin. Danach schlief ich einen Tag durch. Alles war gut.

Es gab da allerdings jemanden, an den ich in den folgenden Tagen viel denken musste, und als das Telefon klingelte und sie ihren Namen nannte, wurde mir gleichzeitig heiß und kalt. Woher kannte sie die Nummer? Und warum rief sie an? Wollte sie nicht nach Österreich? Sollte das etwa heißen ... ? Immerhin musste sie sich große Mühe gegeben haben, herauszufinden, wo ich war und wie man mich erreichen konnte! [Kids: Das war weit vor Internet und Handy.]

Ich war noch nicht ganz fertig damit, meiner Freude über diesen unerwarteten, unverhofften Anruf gebührenden Ausdruck zu verleihen, da klangen aus dem Hörer die folgenden, unvergesslichen Worte:

"Du Idiot hast meinen Reisepass!"

--
*"Gunter Gabriel (* 11. Juni 1942 in Kirchlengern/Westfalen; eigentlich Günther Caspelherr) ..."

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