Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Freitag, 23. Januar 2009
Barfuß zum Nordpol: Prolog
nnier | 23. Januar 2009 | Topic In echt
Ich komme aus der schmalen Alterskohorte, für die das Reisen per Anhalter oder Mitfahrzentrale ganz normal gewesen ist. Hatte ich selbst ein Auto zur Verfügung, dann meldete ich meine Fahrt einige Tage im voraus bei der Mitfahrzentrale an, deren Telefonnummer ich immer auswendig wusste, da sie mit der meines besten Grundschulfreundes identisch war, viele Jahre früher und in einem anderen Ortstnetz, und war das Auto dadurch nicht ausgelastet oder die Fahrt allzu kurzfristig angetreten worden, dann fuhr ich gewissenhaft die bekannten Tramperbahnhöfe ab oder auf der Autobahn gerne mal eine Raststätte an, nur um zu schauen, ob dort jemand mit ausgestrecktem Daumen oder Pappschild stünde, den ich ein Stück mitnehmen konnte. Dabei mag neben altruistischen Motiven durchaus ein gewisser Aberglaube eine Rolle gespielt haben, denn nicht nur einmal stand ich in jenen Jahren verzweifelt irgendwo herum und schwor, dass ich, wenn ich denn nur über ein Fahrzeug verfügte, bestimmt an niemandem vorbeifahren, ja, meine Schuld sogar doppelt und dreifach begleichen würde, wenn doch nur endlich jemand Erbarmen hätte und mich ein Stück mitnähme. Oft kam es zu interessanten Begegnungen, so etwa mit dem glatzköpfigen Herrn, dessen metallicroten Potenzjeep (heute würde man so etwas SUV nennen) ich pflichtgemäß bewunderte, nachdem er mich im mit einer äußerst knappen Handbewegung aufgefordert hatte, einzusteigen, eigentlich war er kaum zum Stehen gekommen und startete gleich wieder durch. Er fragte mich nach meinem Studium aus, welches ich in meiner Darstellung ihm gegenüber evtl. etwas engagierter verfolgt und interessanter geschildert habe, als es der Wahrheit entsprach, und löste damit eine Schimpfkanonade auf seinen Sohn aus, der "nichts tauge" und "nichts tue", außer ständig Autos zu Schrott zu fahren, erst kürzlich habe er schon den zweiten Porsche zerlegt und sei mit Schädelbruch im Krankenhaus gelandet, heute bekomme man so etwas aber problemlos wieder hin, er selbst habe auch schon einmal eine solche Fraktur erlitten mit seinem letzten oder vorletzten Wagen, das sei in den modernen Krankenhäusern wirklich nichts als ein Routineeingriff.

Einer anderen sozialen Schicht gehörte sicherlich jener junge Mann an, der mich mit aufgemotztem Opel, tropfenförmiger Spiegelsonnenbrille, Vokuhila-Frisur und Schnurrbart vor der Mitfahrzentrale aufgabelte. "Mann, ey, cool, ey, die haben mir gesagt, dass du mir dafür sogar Geld gibst, ey, das ist ja geil, ey, gib mal gleich, isn Zwanziger okay, ey, super!", wurde ich begrüßt, es ging in entsetzlichem Tempo und mit gelegentlichen, mir willkürlich erscheinenden Vollbremsungen auf die Autobahn, wir schwiegen eine knappe Stunde, bis der gute Mann unvermittelt das Steuer herumriss, einen Parkplatz ansteuerte, scharf bremste, mich ansah und sagte: "Kiffst du?"

Mein undeutliches Gemurmel schien er als Zustimmung zu deuten, "baute" eine riesige "Tüte", fuhr wieder auf die linke Spur und zog genüsslich an seinem Joint, die linke Handfläche in losem Kontakt mit dem Lenkrad, während ich mich am Haltegriff der Beifahrertür festklammerte, als ob das etwas nützte. Mit einer ruckartigen Bewegung reichte er mir unvermittelt das glimmende Dings herüber, und ich beschloss ("bloß weg mit dem Zeug!"), meinen Teil zum schnellstmöglichen Verbrauch des Rauschmittels beizutragen. Weder seinem Fahrstil noch meiner Wahrnehmung desselben tat das abwechselnde, hektische THC-Inhalieren besonders gut, die Autobahn vor mir schien ganz schreckliche Dinge zu tun, wand sich jäh nach rechts, dann wieder unvermittelt nach links oder oben oder unten, ich versank so tief im Beifahrersitz, dass ich mich zu fragen begann, ob ich jemals wieder würde aussteigen können, jemand musste wohl an den Schwerkrafteinstellungen herumgespielt haben, da bremste mein Chauffeur auf unnachahmliche Weise in einer Nothaltebucht kurz vor der Abfahrt Göttingen, erklärte mir wortreich, dass er mich eigentlich doch nicht, wie vereinbart, am Bahnhof, sondern besser direkt hier aussteigen lasse, "zu viele Bullen da am Bahnhof, weißte, ey", ich fand das auch völlig in Ordnung und kam während des etwa zweistündigen Fußmarschs in die Innenstadt auch soweit wieder zu mir, dass mir dort keine weiteren Fragen gestellt wurden.

Auch als Mitnehmer bemühte ich mich stets, höflich und zuvorkommend zu bleiben, wenn auch die Umstände gelegentlich ungewöhnlich waren, sei es, dass jemand direkt vom Fußballspiel, "gewonnen, aber ich konnte nicht mehr duschen!", kam und man nicht nur Gras-, sondern vor allem auch Körpergerüche auszustehen hatte, gegen die auch die Cassette mit den Oberkrainern nicht mehr geholfen hätte, sei es der Hochsommertag im Stau auf dem Weg nach Köln, an dem man selbst ins Schwitzen geriet und zunächst freundlich, dann deutlich und schließlich sehr bestimmt das wiederholt vorgetragene Angebot der Mitfahrerin ablehnen musste, bei ihr "in Ruhe duschen" zu können.

[Geht irgendwann weiter]

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