Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Unglück verbreiten
nnier | 07. März 2012 | Topic Gelesn
Am nächsten Tag nehme ich doch erst den Abendzug nach Hamburg, ohne Karin nochmal gesehen zu haben. Den Triumph habe ich auf der Insel gelassen. Bina wird schon darauf aufpassen. Im Speisewagen trinke ich ziemlich schnell hintereinander vier kleine Flaschen Ilbesheimer Herrlich, während bei Husum die Sonne untergeht.
(Christian Kracht, Faserland)

Spontan zu leben - am Werktag spazierengehen, sich ein zweites Mal verlieben, als Frau allein im Gasthaus einen Schnaps trinken - das hieß schon, eine Art von Unwesen treiben; "spontan" stimmte man höchstens in einen Gesang ein oder forderte einander zum Tanz auf.
(Peter Handke, Wunschloses Unglück)


Ich muss zugeben, dass ich Christian Kracht manchmal mit Florian Illies durcheinanderbringe. Das hat damit zu tun, dass ich über jeden von ihnen mal gelesen habe, dass er mit Aufzählungen von Markenprodukten bekanntgeworden sei, die in den 80ern wichtig waren. Es ist ja durchaus seltsam, dass man ein Buch gar nicht selber gelesen haben muss, um trotzdem zu wissen, dass darin behauptet wird, es sei in den 80ern normativ das einig Richtige gewesen, nach einem Schaumbad mit einem Nutellabrot vor dem Fernseher zu sitzen und, gähn, WETTEN, DASS ...? zu sehen. Können Sie, ohne hinzuschauen, bestätigen, dass die Wortfolge WETTEN, DASS ...? aus zehn Buchstaben besteht? Ich fand es sehr ungerecht, dass, übrigens in einer Zeit, als noch Frank Elstner moderierte, einmal ein Unentschieden am Ende der Sendung dadurch aufgelöst wurde, dass die prominenten Wettpaten diese Stichfrage schnellstmöglich beantworten mussten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Jürgen von der Lippe war, der schnell die Antwort gab: Neun natürlich!, aber Frank Elstner behauptete, dass das falsch sei, und tatsächlich ging der Sieg dann an die andere Partei, die völlig lahm "zehn" geantwortet hatte. (Bislang übrigens habe ich darauf geachtet, dass in jedem Satz dieses Beitrags ein Nebensatz mit einer ganz bestimmten Konjunktion vorkommt, ich denke, dass Sie das bemerkt haben.)



Wenn Sie nicht verstehen, dass mich das damals innerlich in Aufruhr versetzt hat, sind Sie entweder Schweizer wie Christian Kracht oder Sie haben die 80er nicht bewusst miterlebt - im Gegensatz zu Florian Illies, der ja angeblich so präzise von diesem Jahrzehnt berichtet. Mich allerdings hat es nie sonderlich interessiert, noch mal zu lesen, wie die Popper damals alle bestimmte Frisuren und Markenbekleidung spazierentrugen, und ich fand es ziemlich ärgerlich, dass der Sieg tatsächlich an die dumme Person ging, die "zehn" gesagt hatte, denn auch wenn das Logo dieser Sendung stets in Großbuchstaben gehalten war, so schrieb man zu der Zeit in Deutschland nun mal daß, sonst hätte man auch gleich behaupten können, dass das Wort Fuß aus vier Buchstaben bestehe.

Dass Jürgen von der Lippe im Hintergrund stirnrunzelnd an seinen Fingern etwas abzählte, konnte ich jedenfalls gut nachvollziehen, und nur seine Erziehung wird ihn davon abgehalten haben, lautstark zu protestieren. Es ist ja nun mal so, dass alle nach Emanzipation schreien, aber wenn es darauf ankommt, geht es doch wieder nur darum, dass derjenige gewinnt, der am schnellsten eine Champagnerflasche entkorkt, und dass dann Max Merkel so tut, als komme er mit dem Verschluss nicht klar, und dass dann Iris Berben "gewinnt". Alles Fotzen!

Hallo, das habe ich jetzt nur geschrieben, damit Sie wieder aufwachen und sich auf den Inhalt konzentrieren können, denn ich weiß, wie es ist, wenn man sich erst mal auf so ein sprachliches Stereotyp eingeschossen hat: Bei jedem "dass" sind Sie doch nur noch zusammengezuckt, ich verstehe das sehr gut und lasse es jetzt auch bleiben. Ich selbst habe z.B. zwei Menschen unabhängig voneinander kennengelernt, die die schreckliche Angewohnheit hatten, immer "Ein Stück" bzw. "Ein Stück weit" zu sagen. In beiden Fällen wurde ich nach wenigen Minuten unruhig, presste die Lippen zusammen, machte Strichlisten (ich kam bis weit über hundert in einem einzigen Seminar), erschrak über meine eigenen Gewaltphantasien und war so sehr auf diese Formulierung fixiert, dass ich von den sicherlich klugen und bedenkenswerten Argumenten der Person überhaupt nichts mehr mitbekam.



Dass es einen Roman namens Faserland gibt, war mir in etwa auf die gleiche Weise bewusst wie die Tatsache, dass es eine Zeitung namens Die Welt gibt: Man weiß das irgendwie, hat aber niemals selbst damit zu tun. Und nun geschah wieder alles gleichzeitig: Ich musste aus Gründen, die Sie nicht zu interessieren haben, an Natalia Wörner denken und wie sie in einem Historienschinken vor dem Bischof auf den Tisch pinkelt, was natürlich genau so unecht aussieht wie damals bei den Vorstadtkrokodilen, als der gelähmte Kurt von einem Mädchen dargestellt wurde - und in dieser Szene hätten sie auch gleich den Wasserschlauch mit im Bild zeigen können, total lächerlich. Kein Wunder jedenfalls, dass mir die Suchmaschine auch gleich vorschlägt: "natalia wörner pinkelt" bzw. "natalia wörner katja flint", und das bringt mich zurück zur Welt, denn da soll es ja diese Szene geben mit diesen beiden Damen, oh là là, nicht wahr, und das erinnerte mich daran, wie Katja Flint in einem Film Herbert Knaup im Hotelflur einen runterholt und ich plötzlich fand, dass die eigentlich doch eine ganz gute Schauspielerin ist, bzw. erinnerte es mich daran, dass die mal mit Peter Handke zusammen war. Schon wieder so einer, den ich nicht selber kannte, aber von dem ich wusste, dass es ihn gibt - und den ich auch kaum je mit jemandem verwechselt habe, mit Botho Strauß höchstens mal.

Wie gesagt: Alles gleichzeitig, ich gehe so durch die Stadt und da liegen im Ramsch zwei Bücher aus der "Welt-Edition", den Kracht habe ich mitgenommen, weil ich das Buch endlich mal lesen wollte, und den Handke, weil ich selten ein cooleres Buchcover gesehen habe, Welt hin, Welt her - doch, das war mir schon peinlich irgendwie, ich meine: Ich hatte Mitschüler, die durften das Sammelalbum mit den Fußballklebebildern nicht kaufen, weil's von Springer kam, und ich fand das auch richtig so, während ich Lothar Woelk einklebte, aber dann sah ich jüngst diese Probeabonnements mit der Rennbahn, schon hatte ich diese "Zeitung" täglich im Kasten (sie blieb übrigens auch weiterhin so irreal, wie sie mir zuvor erschienen war), und dann lese ich am vergangenen Sonntag doch noch mal kurz rein, dann steht da natürlich was über das neue Buch von Christian Kracht drin - und natürlich erinnert sich Fritz J. Raddatz in derselben Ausgabe an etwas im Zusammenhang mit der Gruppe 47 und schreibt so in etwa: Der Peter Handke hat damals ganz kalkuliert den wilden, jungen Mann gegeben und die unvorbereiteten Schriftstellerkollegen als literarische Schlappschwänze beschimpft.



Ich habe mir das Buch von Kracht dann durchgelesen, es geht darin um einen jungen Mann, der über ausreichend Geld und Zeit verfügt, um quer durch Deutschland und die Schweiz zu reisen, sich zu betrinken, in Hotels zu wohnen, mit dem Auto herumzufahren und so weiter. Den Weltschmerz spürt man kaum, es ist so ein behauptetes, dandyhaftes "Ich kann gar nichts fühlen, menno" - nicht ganz schlecht, aber doch schnell vergessen. Hat das damals wirklich jemanden erreicht? Hach, ich muss Drogen nehmen, hach, in der Villa am See koksen sie rum, hach, ich muss mal lieber weiterfahren?

Handke dagegen hat mir gut gefallen, statt einer Albernheit wie Faserland hat sein Buch den großartigen Titel Wunschloses Unglück, er schreibt darin in einfacher Sprache über seine Mutter, die sich umgebracht hat, und es kommt eine Menge Österreich und Nachkriegszeit dabei herüber. Das Buch wollte ich gleich jemandem schenken, dann fiel mir auf, dass der Titel nicht ganz zum Anlass passen wollte.

Und jetzt kommt's: Man konnte sich in eine Liste eintragen, um Freiexemplare bestimmter Bücher zu erhalten, die man dann in die Slums tragen soll, um die Menschen zum Lesen zu bewegen und dann leben wir wieder in Tipis und überwinden den Kapitalismus. Der Name der Rose, Mondscheintarif, ich konnte das nicht recht mit mir vereinbaren, aber dann sah ich es: Wunschloses Unglück, das habe ich nun davon, nächsten Monat soll ich mir den Stapel abholen - und dann ist niemand mehr davor sicher.

Nur das Cover ist nicht so gut.

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damals, Mittwoch, 7. März 2012, 16:34
"Dass es einen Roman namens Faserland gibt, war mir in etwa auf die gleiche Weise bewusst wie die Tatsache, dass es eine Zeitung namens Die Welt gibt: Man weiß das irgendwie, hat aber niemals selbst damit zu tun." - Das ist großartig, das würd ich gern zum Zitat des Monats erheben.
Auch ansonsten hatte ich Spaß an Ihrem Text - alles hab ich zwar nicht verstanden, aber was ich verstanden habe, leuchtet absolut ein.

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nnier, Mittwoch, 7. März 2012, 18:30
Das freut mich, danke - und wie ich dann immer schreiben muss und auch diesmal schreibe: Ich verstehe selber nicht alles. Merci!

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mark793, Mittwoch, 7. März 2012, 18:09
was natürlich genau so unecht aussieht wie damals bei den Vorstadtkrokodilen, als der gelähmte Kurt von einem Mädchen dargestellt wurde - und in dieser Szene hätten sie auch gleich den Wasserschlauch mit im Bild zeigen können

Auch wenn ich mich an die Szene noch erinnere: Ob ich das für realistisch dargestellt hielt oder nicht, weiß ich gar nicht mehr so genau. Obgleich ich wahrscheinlich nicht mal eine Millisekunde lang geglaubt haben werde, dass da jetzt dem Kurt sein Pillermann rausgeholt wird. Die Details des making of... habe ich allerdings erst später erfahren.

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nnier, Mittwoch, 7. März 2012, 18:37
Ich lese gerade mal nach: bekannt ist etwa die Szene, in der Kurt Wasser lassen muss. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Autor im Kinderbuch dann explizit von einer Querschnittlähmung spricht, die eine Lösung des Problems wie im Buch beschrieben und im Film gezeigt (das Kind wird einfach aus dem Rollstuhl in den Stand gehoben und kann dann „normal“ seine Blase entleeren) nicht erlaubt., OK, wir haben das also nicht geträumt, und dann: Eine Schlüsselszene hierzu stellt der oben beschriebene Filmabschnitt dar, als Kurt seine Blase entleeren muss und nur sie den Mut hat, Kurt die Hose aufzumachen, seinen Penis herauszuholen und hinterher die Hose wieder zuzumachen. Sie schaut dabei provozierend in die Runde, welche sich beschämt abwendet, und schließt die Hose mit einem hörbar kräftigem „ZIP“. Da die Rolle des Kurt mit einem Mädchen besetzt war, wurde diese Szene (wie auch einige andere - z. B. das Herausschubsen aus dem Rollstuhl) von Doubles gespielt. -- hä!? An Full Frontal Nudity hätte ich mich definitiv erinnert, und dann aber: Dass die Rolle des Kurt Wolfermann von einem Mädchen gespielt wurde, war nach Angabe eines Beteiligten den anderen Krokodilerdarstellern während der neunwöchigen Dreharbeiten nicht bekannt.

Ich habe wenig Erinnerung an diesen TV-Film (und war mehr als überrascht, als in den letzten Jahren Kinoflime herauskamen) - aber eines weiß ich noch genau: Das Konzept Bande wurde mit dem Buch fest in meinen Kopf gepflanzt, und ich überredete meine Freunde, in der Stadt nach Krokodilsaufnähern zu suchen. Seltsamerweise gab es die nicht, und dann hatten manche Mütter noch ein Problem mit dem Konzept Aufnäher, so dass wir auf Big Red auswichen.

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kid37, Mittwoch, 7. März 2012, 21:06
Immerhin sind Sie bei dieser Suche nicht an Lacoste-Hemden geraten.

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nnier, Mittwoch, 7. März 2012, 21:28
Das hätte dieser proletarisch grundierten Geschichte den rechten Illies-Touch verliehen.

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monnemer, Donnerstag, 8. März 2012, 12:12
Das Cover ist der Hammer. Das ist sogar noch viel besser, als das Cover dieser alten Randy-Newman-Platte, die ich jedes Mal rauszuppel, wenn ich verdeutlichen will, was ich unter cool verstehe.

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nnier, Donnerstag, 8. März 2012, 16:02
Gell!? Da sieht der andere doch aus wie ein Lacoste-Jüngelchen.

(Der Heinzer, der kann's auch. Aber selbst der kommt nicht an gegen Brille, Frisur, Bartflaum, Gesichtsausdruck - und diesen wackelpuddingfarbenen Hintergrund.)

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dosron, Freitag, 9. März 2012, 01:01
Cover der Randy Newman LP. Bestimmt "Creates Something New Under The Sun"!?

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monnemer, Freitag, 9. März 2012, 11:01
Nein, Herr dosron, ich meine das der Kleinkriminellen, auf dem er...einfach so dasteht.

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nnier, Freitag, 9. März 2012, 16:39
He he. Tatsächlich, einfach so.

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lorilo, Donnerstag, 8. März 2012, 12:42
Großes Damentennis mal wieder Herr nnier. Danke dafür.

Wunschloses Unglück ist eines der sehr guten von Handke, den ich ja durchaus auch mal durchwachsen finde, aber Kracht? Muss man echt nicht. Wenn Sie eine "ich fahr jetzt mal so rum und schreib was auf" lesen wollen: Sten Nadolny Netzkarte, da kommen so wunderschöne Beobachtungen vor:

Der Bussard am Feldrain hat eine Maus erwischt. Wildes Hüpfen, Hacken und Flügelschlagen. Ein Idyll ist, wenn jeder das tut, was in Brehms Tierleben über ihn geschrieben steht. Davon, dass er das Erwartete tut, geht die beruhigende Wirkung aus. Sogar Raubvögel bekommen etwas Liebenswürdiges, wenn sie nach Raubvogelart unsanft verfahren.


"Sulz am Neckar". Zwei Mädchen steigen ein, mit roten Bäckchen, frisch miteinander schwäbelnd, mit neugierigen, freundlichen Augen. Mein innerer Raubvogel wird wach. Die Schwaben sind seelisch alle irgendwie übermässig gesund.


Wenn ich vor mich hin schreibe, merken das immer wieder andere Leute, etwa am Nebentisch, und spähen interessiert oder misstrauisch herüber, um mich dann wieder zu vergessen. Ich glaube, was immer einer tut, wird bemerkt, ob er nun stiehlt, schreibt, flüchtet, liebt oder mordet und ganz gleich, wie verborgen er es tun will. Die Leute merken alles, aber wo tun sie's dann hin? Was denken sie nach dem Merken?


Auf der Fahrt nach München sprach ich ausgiebig mit einem Pfeife rauchenden Cordanzug. Der Führerschein war ihm kürzlich abgenommen worden, und seine Frau ging ebenfalls eigene Wege. Damit waren wir bei den Frauen angelangt.
Es gibt zwei Sorten von Männern. Die einen verstehen "etwas von Frauen", die anderen sind solche, die einfach "Frauen verstehen". Ich weiß nicht, welche Sorte mir verdächtiger ist. Er gehörte zu der, die mit "von" versteht. Ich hingegen verstehe seine Frau.


Ab Würzburg lese ich noch eine Romanfortsetzung in der Illustrierten. Warum ist in solcher Literatur immer von "kleinen, festen Brüsten" die Rede? Einen festen Busen habe ich selber. Woran mir liegt, ist ein weicher.


Mir gegenüber saß ein Mann, der Erdnüsse knabberte. Er starrte mich an. Ich war müde und döste wieder etwas ein. Im Halbschlaf war mir, als hörte ich eine Stimme:
"Machen Sie sich etwa Sorgen?"
"Das tue ich allerdings!" sagte ich laut und schreckte vom Klang meiner eigenen Stimme hoch.
Der Mann gegenüber hörte auf zu kauen. "Wie bitte?"
"Ach nichts!"
"Aber was meinten Sie denn eben?"
"Nichts, gar nichts! Warum starren Sie mich denn eigentlich dauernd an?"
Der letzte Rest seines Lächelns erlosch. "Keine Ahnung", sagte er traurig. Ich blickte ihn aber weiter fragend an. "Vorhin", sagte er mit Betonung, "vorhin überlegte ich, ob ich Ihnen von meinen Erdnüssen anbieten soll." Ich versuchte nun, ein erfreutes Gesicht zu machen und ein Wort des Dankes zu finden. Doch ich war wohl zu langsam.
"Jetzt bekommen Sie natürlich keine!" sprach der Mann mit der bedachtsamen Strenge eines Erziehers. Ich blickte müde und etwas verärgert aus dem Fenster ins Morgengrauen. Der Himmel färbte sich schon rötlich. Auf dem Rhein schoben sich frühe Schiffe voran. Als ich bitter darüber nachdachte, dass zum Trennungsschmerz nun auch noch der Entzug von Erdnüssen kam, wurde ich plötzlich wieder zuversichtlich und musste gegen meine Absicht auf den erwachenden alten grauen Rhein hinunterschmunzeln.


(...) Daneben sitzt ein düster vor sich hin glimmender Zigarilloraucher und Zeitungsleser mit kurzen Hosen. Er schüttelt alle Augenblicke den Kopf. Höchstens dreiundzwanzig Jahre alt sitzt er da, brütet und schüttelt. Jetzt sehe ich, was er liest! Wer da nicht schüttelt, der riskiert, dass sich ein Schaden festsetzt. Ab sofort scheint mir der Mann in Ordnung, seine Bewegungen sind verständlich, sogar die kurzen Hosen vertretbar. Warum nur liest er weiter? Er will und will von dem Presseerzeugnis nicht ablassen. Ich kehre zu meinem ersten, düsteren Eindruck zurück. Der hat sich meine Zuneigung verscherzt.


Im Getreideteppich sehe ich flache kleine Inseln, vielleicht Nester von Rehen, vielleicht Windbruch, vielleicht beides nicht. Meine Notizen lügen, denn ich interessiere mich für die Getreidelöcher nicht im geringsten. Nachdem ich das geschrieben habe, bin ich bedrückt, denn damit ist die Angst, dass diese Reise mir nicht helfen wird, schriftlich festgehalten. Ich denke jetzt: "Schlussstrich". Wie kann ich weit weg, ohne noch weit reisen zu müssen? Wenn meine Mutter nicht wäre, könnte ich einen der Grenzer ansprechen: "Guten Tag! Ich bin bereit. Ich möchte den Staat wechseln und Ihr Kamerad werden. Es würde zu mir passen. Was ich seit Wochen tue, hat mit Sehen nichts mehr gemein, vom Denken gar nicht zu reden. Ich kontrolliere nur noch, ob alles da ist. Ich gehöre zu euch, ich möchte gern ein Ehrenkleid tragen und die Grenze schützen. Nur feste Regeln ohne Sinn und ein verordneter Kameradenkreis schützen mich noch vor meinem eigenen Gehirn."
Schluss, jetzt kommt die Gulaschsuppe. Mit dem Ober versuche ich schweizerisch zu sprechen, um ihn durch umweghafte Satzanlagen zu längerem Zuhören zu zwingen. Schweizer müsste man sein.


Schlimmer erging es mir am Bodensee, einem äußerst melancholischen Gewässer. Uralt und schwerkrank fühlte ich mich zwischen Lindau und dem Basler Badischen Bahnhof. Ich fühlte die Gewissheit, dass ich Krebs hätte, wusste bloss noch nicht, wo. Als ich ganz sicher war, ergab ich mich dem Abschiedsschmerz, rappelte mich aber noch einmal hoch und spielte mit dem Gedanken, vor meinem Ableben als Einhandsegler den Atlantik zu überqueren. Dieser Plan verflüchtigte sich, denn ich sah ein Zugunglück voraus. Für den Fall, dass beides auf sich warten lassen und der Tod mich erst noch auf die Folter spannen würde, beschloss ich zu verschellen. Mir war aber dabei, als gäbe es dieses Wort gar nicht. "Verschollen" gab es, aber über die Präsensform hatte ich Zweifel. Bei Kleinkems - die Sonne ging hinter den Vogesen unter - wiederholte ich einige Male: "Ich verschelle, du verschellst, er verschellt", doch der Zweifel blieb.
(...)
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Entgleisung zu, die ich wirklich erwartete: der Zugkatastrophe. Hie und da glaubte ich genau zu wissen, auf welcher Strecke die Sabotage erfolgen würde. Ich studierte auch das Gesicht jedes Bahnbeamten, ob er vielleicht nach menschlichem Versagen aussähe.


Entschuldigung für die Länge. (Ich hielt Ausschau am Freitag, konnte jedoch nur ungefähr nnierische Männer bei Fil ausmachen. Schade. Aber gross der Abend, trotzdem.)

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nnier, Donnerstag, 8. März 2012, 16:13
Danke für die Länge - mir gefällt's! Übrigens habe ich's nur sehr kurzfristig zu dem Termin geschafft, nachdem ich bei Ihrer Ankündigung im falschen Monat gelandet war und folglich gedacht hatte, ich hätte es längst verpasst. Glücklicherweise wurde ich dann gerade rechtzeitig erinnert und war wie Sie begeistert. Ja, schade - erkennen hätten Sie mich allerdings leicht können, ich war der mit dem großen Urinfleck, das passiert mir immer beim Lebkuchenmann, Sie werden's jetzt vielleicht verstehen.

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lorilo, Donnerstag, 8. März 2012, 23:55
Der Lebkuchenmann! (Dieses ewige Manko, dass sich dieser komplexe Humor nicht mitteilen lässt in ein paar Worten - den Uneingeweihten. Erklären Sie doch mal, warum bei der letzten Strophe des Grönemeyersongs der ganze Sall gewiehert hat, obwohl kein Pferd und kein Wort vorkam: Zwecklos.)
Nein, leider sah ich nichts dergleichen bei den nnierischen Kandidaten. (Disqulaimer: Würde ich eines solchen Fleckens ansichtig, würde ich das nonchalant nie nicht bemerken.)
Hm, ich war das große, dunkelbobhaarige mir knallroter Daunenjacke und Jeans (in Begleitung eines netten, mitteljungen Herren), falls sie so etwas sahen. Linksseitig außen sitzend, in der Pause rauchend. Aber schön: Wir hatten beide einen grandiosen Abend. Fil war in Bestform und es war viel dabei, was ich so noch nicht gehört hatte. Und auch schön, dass Ihnen Nadolny gefällt - falls Ihnen der noch nicht unter kam und Sie beschließen, es mit ihm zu versuchen, hab ich noch 2 Tipps auf Lager...

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nnier, Freitag, 9. März 2012, 12:49
Filli ist einfach toppi - und ich bin ganz froh, dass das nicht in einem Satz zu erklären ist. Zwar muss ich immer an eine gezeichnete Sequenz aus MAD denken, da ging es darum, woran man einen echten Fan erkennt: Erst will er alle Welt davon überzeugen, dass Band X die allertollste ist - und wenn dann alle mit Band-X-T-Shirts rumlaufen, rümpft er die Nase, schmeißt die Platten in den Mülleimer und findet, dass die ja "viel zu kommerziell" geworden sind. Immerhin beobachten wir seit einigen Jahren den Aufstieg des Fil, wie er Gegenden außerhalb Berlins in Besitz nimmt und nach einigen Auftritten in einem wohnzimmergroßen Theater jetzt schon die Kesselhalle füllt - später dann Stadthalle und Olympiastadion (kennste? kennste?). Dann werde ich ganz überlegen tun und nur manchmal anklingen lassen, dass die alten Sachen natürlich viel besser waren und wie er damals noch so bescheiden und sympathisch war. Ernsthaft: Wie viel Zeit er sich beim Signieren lässt, wie er freundlich plaudert, sich fürs Kommen bedankt und Fragen beantwortet, das wirkt eben nicht wie die professionelle Kundenpflege vieler anderer Unterhaltungsprofis, sondern fügt seinem Bühnen- und Comicwahnsinn eine ganz unerwartete Facette hinzu.

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nnier, Freitag, 9. März 2012, 16:31
(Und tippen Sie ruhig! Ich erinnere mich nur an das ganz berühmte Buch, danach habe ich von Nadolny nichts mehr gelesen - obwohl es mir gefallen hat.)

(Linksseitig außen - hm. Da war ich auch. Ganz außen, zweite Reihe, um nicht diesen dehumanisierenden Mitmachgeschichten ausgesetzt zu werden.)

(Und in der Pause rauchen.)

(Danach in der Schlachthofkneipe.)

(Neben Filli.)

(Fast.)

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mimi.das.monster, Freitag, 9. März 2012, 00:00
Das erste von Christian kracht hat mich zuerst etwas verwirrt , da ich aus der Gegend komme :))

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nnier, Freitag, 9. März 2012, 12:11
Guten Tag! Darf ich fragen, aus welcher Gegend? Es ist ja eine Reise von Norden nach Süden (beginnend in Sylt und irgendwo am Bodensee o.ä. endend) - und warum hat Sie das verwirrt?

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