Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Comic Relief
nnier | 30. Mai 2012 | Topic In echt
Wenn ich meinen Freund A. besuchte, musste ich über einen Firmenhof laufen, denn sein Vater war Hausmeister und die Familie wohnte auf dem Betriebsgelände. Die Wohnung befand sich im ersten Stock und war in das große Fabrikgebäude integriert. Vom Hof aus sah man unterhalb der Wohnzimmerfenster ein großes Garagentor, das A. einmal auf den Kopf bekommen hatte. Unter dem Küchenfenster war eine Laderampe.

Ich bog unterhalb des Wohnzimmers am Haus entlang um die Ecke und gleich darauf in einen Gang, der zur Eingangstür führte. Oben, auf der rechten Seite, war A.s Fenster. Unten, auf der linken Seite, die weißgestrichene, hölzerne Tür zu einer Werkstatt. Oft, wenn ich am Wochenende zu ihm ging, schlief er noch. Ich musste dann lange klingeln und rufen, denn meistens war außer ihm keiner da. Irgendwann bewegte sich der Vorhang, das Fenster öffnete sich, ich hörte ein minutenlanges Hochziehen, dann ein ebenso ausgiebiges Nach-Vorne-Räuspern und schließlich ein Spit! und ein Flatsch! gegen die Holztür neben mir. "Ich habe beim Aufwachen immer einen Grünen im Hals!", hatte A. mir einmal erklärt, und im Lauf der Jahre hatte seine allmorgendliche Schlundreinigung ein beeindruckendes Relief entstehen lassen, an dem ich nun fast täglich vorbeikam. (Ich wollte gerne meinen Teil beisteuern, merkte aber bald, dass ich dafür doch zu selten da war und den Rest wollen Sie gar nicht so genau wissen.)

Das Garagentor war nicht das einzige, was er abbekommen hatte. Ein anderes Mal hatte ihn ein Pferd gegen den Kopf getreten. Beides war geschehen, bevor ich ihn kennengelernt hatte und wurde von den Erwachsenen immer mal in einen Zusammenhang damit gebracht, warum A. beim Lernen etwas langsamer war. Ich erinnerte mich regelmäßig daran, wenn er stundenlang an seinen Hausaufgaben saß, während ich längst fertig war und ungeduldig auf ihn wartete. Manchmal allerdings hatte er auch Stubenarrest, ein Wort, das ich bis dahin gar nicht gekannt hatte.

Überhaupt war manches anders als bei mir zu Hause, das merkte ich z.B., als A. sich mit einem Jungen aus unserer Straße schlug, vor dem ich eine Heidenangst hatte. Aus dem Fabrikfenster schauten die Arbeiter amüsiert zu. Das blöde Arschloch war stärker und brutaler. Irgendwann ging A. zu Boden und fing laut an zu heulen. "Der A. flennt!", rief es aus dem Fenster, dann hörte man es von drinnen lachen.

Wenn er flennte, bekam er ein ganz ein dreckiges Gesicht, das beeindruckte mich immer wieder. Besonders dreckig wurde es an dem Tag, als wir auf eine kleine Birke geklettert waren. Kaum oben, stürzte A. herunter und fiel mit dem Knie in eine Glasscherbe. Er blutete schlimm und hielt mir entsetzt das kleine Stück Fleisch entgegen, das die Scherbe herausgeschnitten hatte. Das Blut strömte, zu zweit stützten wir ihn und wollten ihn nach Hause bringen. "Nein, da kriege ich nur Ärger!", heulte er und bestand darauf, statt dessen zu mir zu gehen. Später, nachdem er verarztet worden war, brachte ich ihn nach Hause. Der Verband war beeindruckend. Natürlich würde seine Mutter ganz erschrocken fragen, was passiert sei, dachte ich, und ihn dann erst mal richtig trösten. Aber A. hatte recht gehabt: "Was hast du da wieder angestellt!", war die ruppige Begrüßung, dann gab's Stubenarrest.

Stubenarrest gab es auch nach Klassenarbeiten und Diktaten. Ich begleitete ihn oft, wenn er eine schlechte Note zu verkünden hatte. Ihm war das lieber so, denn dann fing er sich zwar eine ein, durfte aber trotzdem mit mir raus, wenn ich freundlich fragte. "Der ist dümmer als du!", rief seine Mutter uns hinterher, und ich merkte, wie sie um Worte rang, "der ist noch dümmer als du!"

Wenn es Zeugnisse gab, gab es Stubenarrest, das war klar, und wir gingen zusammen, ziemlich langsam, dann zeigte er sein Zeugnis vor und fing sich eine, flennte aber nicht. Ich sah zu Boden und musste mit anhören, wie seine Mutter schimpfte, er solle sich eine Scheibe von seiner Schwester abschneiden. Dann wollte sie mein Zeugnis sehen, schon fing er sich wieder eine und sie schimpfte, dass er sich auch von mir eine Scheibe abschneiden solle und von meiner Schwester gleich dazu. Man wusste nie, wie lange das dauern würde, manchmal ging es schnell und manchmal steigerte sie sich richtig hinein.

Plötzlich sah ich in seinem dreckigen Gesicht ein Lächeln. Er sah seine Mutter an und sagte: Und wo soll ich die alle aufbewahren, die ganzen Scheiben!

Da fing er sich gleich noch eine. Aber die war es eindeutig wert.

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monnemer, Mittwoch, 30. Mai 2012, 13:31
Andere Eltern, andere Sitten. Eine scheuern, wegen der vollgerotzen Holztür - das könnte ich gerade noch nachvollziehen.

So oder so, bei manchen ist halt in diesem Alter Hopfen und Malz verloren.
Meine Eltern haben sich eher selbst die Haare ausgerissen, als mir eines zu krümmen, wenn ich mal wieder mit dem Streifenwagen nach Hause gebracht wurde.
Hat ihnen auch nicht mehr gebracht, als eine freche Antwort.

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mark793, Mittwoch, 30. Mai 2012, 17:06
Diese vornehme körpersprachliche Zurückhaltung wurde in meinem Elternhause durchaus nicht immer gepflegt. Auch ohne Blaulicht vorm Haus hat mein Vater da und dort schon mal rot gesehen.

Obs was gebracht hat, tja, wer vermag das zu sagen?

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nnier, Mittwoch, 30. Mai 2012, 21:24
Es ging dort vor allem viel weniger verbal zu, als ich es kannte. Schlimme Schläge hat es, so weit ich mitbekommen habe, nicht gegeben, reichlich Ohrfeigen und Schreierei dagegen schon. Böse waren die Eltern jedenfalls nicht, überfordert eher.

Was Hopfen und Malz angeht: Das manchmal Unfassbare an meinem Freund A. war, dass er in seiner ganz speziellen Welt lebte. Er kam gar nicht auf die Idee, dass es nicht so schlau sein könnte, die Sessel der neuen Polstergarnitur von unten aufzuschlitzen. Schließlich vermisste er ein Markstück, und das hätte doch sehr gut da reingerutscht sein können, und wie soll er denn sonst nachschschauen, ob das da vielleicht ist!? Den aufgeschnittenen Stoff sieht man doch gar nicht! Wenn Süßigkeiten für die nächsten drei Monate gekauft worden waren, aß er Unmengen und verteilte freigiebig in alle Richtungen. Nach einer Zeit fragte ich vorsichtig, ob das denn wirklich OK sei, und er sah mich ganz verblüfft an: Ja, klar, das sind doch so viele! Wenn irgendwann das Fenster aufging: "A.! Sofort reinkommen!", war er völlig verblüfft.

Auf der anderen Seite hatte er die tollsten Ideen, kniete sich mit Begeisterung in seine Hobbys und brachte dabei eine Geduld auf, die mir oft fehlte. Ganze Wochenenden feilte er an seinen Bumerangs, bis sie perfekt flogen, lackierte sie gründlich und malte zum Schluss noch detaillerteste Motive auf. Und wenn ich an ihn denke, ist es vor allem das, was mir das Herz wärmt: Diese Fähigkeit, sich Lärm und Geschrei zu entziehen, sein eigenes Ding zu machen und nicht den Mut zu verlieren. Was sind schon Schulnoten.

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venice_wolf, Donnerstag, 31. Mai 2012, 12:26
Wie toll, und wie man vor solchen Naturen staunt... da kannte ich auch einen der frei von allem durch die Welt lebte, Strohut auf, Zahnstocher, Lächeln, maximal 10 Euro in der Tasche, bis in die Morgenstunden in Venedig auf Uni partys unterwegs, dann wo schlafen, dann mit dem einem oder anderen irgendwie nach Hause , am nächsten Tag mit froher Miene 5 Studen später bei der Arbeit erscheinen, die er vorgestern bekommen und übermorgen wieder weg war, mit dem Auto mal in eine Baustelle krachte (denn um 3 Uhr in der früh hatte er vergessen, dass da eine war)
Und was waren das noch Zeiten, da konnte man vom Baum fallen, sich eine 10 cm rostigen Nagel in den Fuss bohren, einen Balken auf den Kopf kriegen, den Apfelsaft samt Biene von der Kartonverpackung trinken, die heisse Herdplatte angreifen, am meterhohen Zaun mit 1 Kg. Sprengkörper balancieren, und dann hinterm Haus (bestenfalls) hochjagen, stundenlang freihändig im Schlamm mit Scherben wühlen, im Regen ballspielen, wie Eichkätzchen von einem Wipfel zum anderen springen, blossfüsig die Felsen am gottverlassenen Wildbachwasserfall free climben, im hohen Gras versteckenspielen, usw und mit ein Aspirin, zwei Pflaster einmal Schimpfen (und ohne Händy und Rettungshubschrauber) ist es auch gegangen...

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