Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Montag, 14. Mai 2012
Der Seewolf strickt
nnier | 14. Mai 2012 | Topic Fernseh
Ist das mein Leben? Habe ich denn nie Theater gespielt und Filme gedreht? *
Ich erschrecke manchmal darüber, wie sehr sich einzelne Szenen aus Fernsehfilmen eingeprägt haben. Ein einziges Mal nur habe ich den Seewolf gesehen, ich ging noch zur Grundschule, und trotzdem erinnere ich mich intensiv an einzelne Sätze: "Hab' ich dich, Wolf Larsen!", "Und dann sah ich, dass er blind war. Stockblind", "Der Bremser lässt Eisen tanzen!", "Nicht einer hat mir ein Messer gegeben!"

Jahrelang habe ich das schon vor. Gestern war es endlich so weit, ich schob die DVD in das Abspielgerät und schaute den ersten der vier Teile in Gegenwart zweier mir bekannter Jugendlicher an.

Schon häufig ist mir aufgefallen, dass viele internationale Schauspieler und Zeichentrickfiguren mit leichtem, aber unüberhörbarem bairischen Zungenschlag sprechen. Das muss etwas mit den Bavaria-Synchronstudios zu tun haben. Nicht, dass Pinocchio plötzlich "Ja, mei!", gesagt hätte. Aber man hört doch recht deutlich, gerade bei den Nebenfiguren, dass hier jemand nur versucht, hochdeutsch zu sprechen. Genauer gesagt: Er denkt, dass er hochdeutsch spricht, aber Kleinigkeiten wie ein immer stimmloses "S" oder ein zu stark geschlossenes "O" in einem Wort wie "Woche" und so weiter verraten die süddeutsche Herkunft. Besonders lustig war dies bei der Zeichentrickserie Nils Holgersson, wenn z.B. ein skandinavischer Blondschopf das Wort "durch" so aussprach wie Ludwig Hirsch. Und auch einige Robbenjäger auf der Ghost und erstaunlich viele Slumkids aus San Francisco klangen gestern wie Münchener, die in Hamburg nicht auffallen wollen.

Synchronisiert wurde übrigens auch Hauptdarsteller Raimund Harmstorf, der Seewolf. Es handelt sich ja (wie bei den "großen Vierteilern" üblich) um eine internationale Koproduktion, so dass die Dialoge der anderssprachigen Darsteller in der deutschen Fassung selbstverständlich von Synchronsprechern übernommen wurden. Harmstorf, der seine Rolle mit gerade mal 31 Jahren wirklich beeindruckend spielt, hatte laut Wikipedia eine "zu junge" Stimme und wurde deshalb ebenfalls komplett synchronisiert. Man erkennt sofort die Stimme von Scotty, K.E. Ludwig, samt seiner kleinen Marotten (z.B. sagt er "aufdn" statt "auf den"). Wie muss sich das anfühlen, eine Hauptrolle zu spielen, ohne dass die eigene Stimme je zu hören ist?
Denn der Seewolf durfte kein Parkinson haben. Der musste mit einer Hand eine rohe Kartoffel zerdrücken können. **
Jeder kennt die Kartoffelszene. Wahrscheinlich macht es keinen Spaß, wenn eine Schauspielkarriere oder ein ganzes Leben auf einen solchen Moment eingedampft wird. Ich meine, mich an irgendeine Talkshow zu erinnern, in der Harmstorf zu Gast war, deutlich älter und recht steif und unbeholfen, vermutlich durfte er kurz über irgendeinen der drittklassigen Filme sprechen, in denen er später noch auftrat, und dann kam wieder diese Geschichte. Wie muss das sein, wenn man permanent so ein Image bedienen muss? Wenn man längst krank ist, nicht mehr gut laufen kann und immer noch der bärenstarke Kartoffelquetscher sein muss?

"Er sei ein häuslicher Typ gewesen, der gerne strickte", heißt es (ausgerechnet) im Focus, zehn Jahre nach dem Selbstmord des Schauspielers:
"Seewolf Raimund Harmstorf in der Psychiatrie", titelte die "Bild"-Zeitung am 2. Mai 1998. Der 57-Jährige sei mit aufgeschnittenen Pulsadern auf der Straße von der Polizei aufgegriffen und anschließend in eine geschlossene Anstalt eingeliefert worden. [...] Am Vormittag stand ein Reporter der "Bunten" vor dem Haus im Allgäu und brachte Kopien des Zeitungsartikels mit [...] "Das muss ein schlechter Scherz sein", habe er zuerst gesagt, dann: "Das ist mein Todesurteil." *
Was mich überrascht hat: Vieles an dieser ersten Folge könnte aus heutiger Sicht langatmig wirken, vieles ist umständlich und überdeutlich erklärt, so wie in der oben verlinkten Kartoffelszene, wenn es aus dem Off extra noch mal heißt: "Jetzt begriff ich, wie es mir ergangen wäre, wenn er mit aller Kraft zugepackt hätte."
Auf einer anderen Seite [der "Bild"-Zeitung], ebenfalls kopiert, kam dann ein kurzer Abriss seines Lebens, zusammengeschrumpft auf Unfälle und persönliche Niederlagen. [...] "Mit aufgeschnittenem Handgelenk aufgegriffen", stand da und noch ein paar Sachen, die einfach gelogen waren. **
Ich war mir wieder mal nicht sicher, ist es verklärte Erinnerung, ist das alles vielleicht nur albern und peinlich - und wie wirkt es auf zwei junge Menschen mit ganz anderen Sehgewohnheiten? Das hat mich am meisten gefreut, dass sie es spannend fanden und unbedingt weitergucken wollen, dass sie sich kaputtlachen über eine minutenlange Szene, in der ein Junge versucht, seine Schularbeiten zu machen, aber mit seinen Gedanken abschweift, etwas anderes beginnt, sich dann wieder zur Ordnung ruft und von neuem beginnt, nicht zwei- oder dreimal, sondern acht- oder zehnmal, so viel Zeit hatte man damals.
Seine Leiche wurde auf dem Dachboden gefunden. Die Polizei teilte nüchtern mit: "Es liegen Erkenntnisse dahingehend vor, dass ein Mitauslöser für den Selbstmord in der Medienberichterstattung des vergangenen Samstags zu sehen ist." *
Bislang ist noch keiner der Sätze vorgekommen, die mir so im Gedächtnis geblieben sind. Drei Folgen kann ich mir noch anschauen. Ich freue mich schon darauf.

--
* (Quelle)
** (Quelle)

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