Ich habe zwei Bücher, eins ist dick und weiß und eins ist dick und schwarz. Sie passen im Regal gut nebeneinander. Das weiße habe ich vor zehn 15 Jahren angefangen und noch nicht durch, es hat aber ein Lesebändchen, so dass ich alle paar Jahre ein Stück weiterlesen kann. Und es gibt viele Fußnoten darin, dafür ist es, so glaube ich, auch bekannt. Fußnoten gibt es in dem schwarzen Buch auch so einige, ein Lesebändchen aber nicht. Deswegen habe ich es lieber am Stück gelesen.
Ich wäre ohne die Empfehlung einer Kollegin* nicht auf die Idee gekommen, Coming of Karlo zu lesen. "Lisa Kränzler erzählt mit allen Mitteln der Sprache die Geschichte verletzter Menschen in einer desperaten Welt, in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert und einen Charakter befällt", steht auf der Rückseite, und das kann man vielleicht so sehen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man "Charakter" im Deutschen inzwischen so verwendet wie "Character" im Englischen, sonst hätte ich eher "Figur" geschrieben, es sei denn, man interpretiert das so, dass eben speziell der Charakter derselben, also nicht die ganze Figur, von der toxischen Männlichkeit befallen wird.
Tatsächlich muss ich über diesen Satz, der den Roman zusammenfassen? Anteasern? Bewerben? soll, noch weiter nachdenken:
Lisa Kränzler [x]
erzählt [x]
mit allen Mitteln der Sprache [xxx]
die Geschichte verletzter Menschen [x]
in einer desperaten Welt, [x]
in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert [?]
und einen Charakter befällt [?]
Lauern und befallen, da bin ich mir wirklich nicht sicher. Rein auf der Handlungsebene ist es eine Coming-of-Age-Geschichte mit verliebten Teenagern, abwesenden Eltern, exzessiven Partys, Kumpelfreunden und Clubnächten. Also nichts, das ich freiwillig lesen würde. Ich möchte hier auch nicht den Inhalt referieren, kurze Zusammenfassungen und ein paar wenige Rezensionen lassen sich schnell finden.
Was mich tatsächlich beeindruckt, ist die Sprache - nicht diese erzwungen literarische Kunstsprache, und doch literarisch und künstlerisch; die Figuren und ihre Rede, innerlich und äußerlich, sind komplett künstlich und kommen einem, dennoch oder deshalb, nahe wie selten. Die Szenerie, schwäbische Provinz Anfang der 2000er Jahre, wird mit wenigen Strichen plastisch, und zwar ohne dass jemand Dialekt spricht.
Wenn das dann plötzlich doch geschieht, ist die Wirkung so unfassbar komisch, dass ich gleich wieder an das weiße Buch denken muss, S. 507, wenn der "Immigrant" spricht ("Als aine, wo alli Aabeehysli verspritzt, bin ych scho männgs Joor bekannt gse. In de Beize uff de Landstroosse han ych scho lang nimme uff d'Schissi deerfe", Sie erinnern sich bestimmt, man stirbt beim Lesen.)
In Coming of Karlo, mitten in den dramatisch kulminierenden Ereignissen und existentiellen Geworfenheiten, berichtet der Gruber Hermann von seinen Beobachtungen am See, und ich muss beim Lesen laut lachen:
Um halb Zwölfe kommt also des Mädle auf de Schteg und fängt's krakeehle a, schreit "KARLO, KARLO!", als ob's brenne dät, schtatt dass se wartet, bis er fertig isch - aber so sind se, die Jonge! Mir waret au it andersch. Koi bissle andersch ...
Zerschd hon i denkt, dass se gar it nei will ins Wasser, d'Weiber sind do zum Doil ja a bissle schreckhaft, hennt Angscht vor de Fisch oder dass a Schlang kommt oder wa woiss I ...
Ich habe das Buch vor allem als Liebesgeschichte gelesen, diese Art von Liebe, die man schon fast vergessen hat, besitzergreifend und gewaltig, toxisch männlich meinetwegen, mit diesen vergrabenen und verleugneten Gefühlen, die so gar nicht sozial erwünscht sind. Es sagt ja niemand, dass so etwas gut ausgehen muss.
Momentan wird das Buch verramscht, ich empfehle es unbedingt!
Lisa Kränzler, Coming of Karlo, Verbrecher Verlag (2019), 624 Seiten
--
*Danke! Danke!
Ich wäre ohne die Empfehlung einer Kollegin* nicht auf die Idee gekommen, Coming of Karlo zu lesen. "Lisa Kränzler erzählt mit allen Mitteln der Sprache die Geschichte verletzter Menschen in einer desperaten Welt, in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert und einen Charakter befällt", steht auf der Rückseite, und das kann man vielleicht so sehen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man "Charakter" im Deutschen inzwischen so verwendet wie "Character" im Englischen, sonst hätte ich eher "Figur" geschrieben, es sei denn, man interpretiert das so, dass eben speziell der Charakter derselben, also nicht die ganze Figur, von der toxischen Männlichkeit befallen wird.
Tatsächlich muss ich über diesen Satz, der den Roman zusammenfassen? Anteasern? Bewerben? soll, noch weiter nachdenken:
Lisa Kränzler [x]
erzählt [x]
mit allen Mitteln der Sprache [xxx]
die Geschichte verletzter Menschen [x]
in einer desperaten Welt, [x]
in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert [?]
und einen Charakter befällt [?]
Lauern und befallen, da bin ich mir wirklich nicht sicher. Rein auf der Handlungsebene ist es eine Coming-of-Age-Geschichte mit verliebten Teenagern, abwesenden Eltern, exzessiven Partys, Kumpelfreunden und Clubnächten. Also nichts, das ich freiwillig lesen würde. Ich möchte hier auch nicht den Inhalt referieren, kurze Zusammenfassungen und ein paar wenige Rezensionen lassen sich schnell finden.
Was mich tatsächlich beeindruckt, ist die Sprache - nicht diese erzwungen literarische Kunstsprache, und doch literarisch und künstlerisch; die Figuren und ihre Rede, innerlich und äußerlich, sind komplett künstlich und kommen einem, dennoch oder deshalb, nahe wie selten. Die Szenerie, schwäbische Provinz Anfang der 2000er Jahre, wird mit wenigen Strichen plastisch, und zwar ohne dass jemand Dialekt spricht.
Wenn das dann plötzlich doch geschieht, ist die Wirkung so unfassbar komisch, dass ich gleich wieder an das weiße Buch denken muss, S. 507, wenn der "Immigrant" spricht ("Als aine, wo alli Aabeehysli verspritzt, bin ych scho männgs Joor bekannt gse. In de Beize uff de Landstroosse han ych scho lang nimme uff d'Schissi deerfe", Sie erinnern sich bestimmt, man stirbt beim Lesen.)
In Coming of Karlo, mitten in den dramatisch kulminierenden Ereignissen und existentiellen Geworfenheiten, berichtet der Gruber Hermann von seinen Beobachtungen am See, und ich muss beim Lesen laut lachen:
Um halb Zwölfe kommt also des Mädle auf de Schteg und fängt's krakeehle a, schreit "KARLO, KARLO!", als ob's brenne dät, schtatt dass se wartet, bis er fertig isch - aber so sind se, die Jonge! Mir waret au it andersch. Koi bissle andersch ...
Zerschd hon i denkt, dass se gar it nei will ins Wasser, d'Weiber sind do zum Doil ja a bissle schreckhaft, hennt Angscht vor de Fisch oder dass a Schlang kommt oder wa woiss I ...
Ich habe das Buch vor allem als Liebesgeschichte gelesen, diese Art von Liebe, die man schon fast vergessen hat, besitzergreifend und gewaltig, toxisch männlich meinetwegen, mit diesen vergrabenen und verleugneten Gefühlen, die so gar nicht sozial erwünscht sind. Es sagt ja niemand, dass so etwas gut ausgehen muss.
Momentan wird das Buch verramscht, ich empfehle es unbedingt!
Lisa Kränzler, Coming of Karlo, Verbrecher Verlag (2019), 624 Seiten
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