Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Verarbeitungsfehler
nnier | 11. August 2011 | Topic In echt


Als Jugendlicher bekam ich von meinem Großvater eine Spiegelreflexkamera geschenkt. Es war eine Praktica, sie stammte mithin aus der DDR, und er selbst hatte sie viele Jahre zuvor als Gebrauchtgerät von einem Arbeitskollegen erstanden. Die Ausstattung war beachtlich, so gab es diverse aufzuschraubende Objektive - ich hatte zwei normale sowie ein Weitwinkelobjektiv dazubekommen -, einen Distanzring, den man zwischen Fotoapparat und Objektiv schraubte und der aufgrund veränderter Brennweite grandiose Makroaufnahmen ermöglichte, sowie diverse Filter, von denen ich nie so recht wusste, wozu sie dienten.



Viel zu erklären gab es nicht, die Fotozelle womöglich, die die Lichtstärke maß und einem dabei half, eine anständige Kombination aus Blendenöffnung und Verschlusszeit zu wählen, aber eigentlich tat der Apparat das, was er sollte, nämlich: Bilder machen, und das wirklich gut.



Mein Opa war ein eifriger Fotograf, der schon früh jeden Urlaub dokumentierte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, die ich kannte, fotografierte er fast ausschließlich mit Diafilmen. Und während ich über die vielen Revue-Diaboxen staunte, die sich da angesammelt hatten, erfuhr ich, dass die kleinen Bilder in ihren Rähmchen tatsächlich der entwickelte und zerschnittene Film waren, also das, was ich normalerweise als Negativstreifen in der Bildertasche vorfand.



Das alles war ein teures Hobby, und als sparsamer Mensch erklärte er mir, wie er aus einem 36er Film mindestens zwei oder drei Dias mehr herausholen konnte: Erstens stellte er den Abstand zwischen den einzelnen Bildern auf dem Film so knapp wie nur irgend möglich ein, so dass diese praktisch aneinanderstießen, zweitens spannte er den Film ebenso knapp ein, gerade mal die ersten Zähne der Wickelspule mussten greifen, schon konnte die Kamera geschlossen und drauflosfotografiert werden.



Diese Angewohnheit habe ich übernommen, auch wenn der Kaufpreis der Filmrolle bei den normalen Negativfilmen ja der geringste Faktor war. Mit dem Daumen am Hebel spürte ich genau, wie der Film weitertransportiert wurde, und über die "mehr" herausgeholten Bilder am Ende freute ich mich jedes Mal diebisch, obwohl ich die Papierfotos ohnehin pro Abzug bezahlen musste. Und auch als ich irgendwann einer batterienfressenden F50 vieles überließ, das ich vorher selber einstellen musste: Das Filmeinlegen handhabte ich wie eh und je, und wenn die 37 und vielleicht noch die 38 im Display erschien, bevor der automatische Rückspulmechanismus einsetzte, hatte ich ein wenig das Gefühl, den Mächtigen in der Welt ein Schnippchen zu schlagen.



Als alle längst digital fotografierten, rannte ich weiter mit der ollen Spiegelreflex herum, mir waren die grobpixeligen und schlecht belichteten Abzüge ein Graus, die plötzlich, Farbkopien gleich, an den Wänden hingen, und auch nachdem ich selber so ein praktisches, kleines Taschendings besaß, nahm ich immer wieder mal das alte Analoggerät zur Hand, nicht zuletzt aus einem Gefühl des Misstrauens gegenüber der Datenflüchtigkeit heraus: So ein Negativstreifen, der mag farbstichig werden mit der Zeit, aber er ist nach 30 Jahren immer noch da, wohingegen die Mega- und Gigabytes immer wieder neu archiviert und umkopiert sein wollen, auf immer dichtere Speichermedien, dabei stets mit dem Risiko eines Totalverlusts. So fuhr ich also eine Doppelstrategie, die digitalen Fotos für den Alltag und das schnelle Herumknipsen, aber immer wieder ein paar analoge Aufnahmen zwischendurch, damit nicht plötzlich ganze Jahre verschwinden können.



Es war eine schöne, aber auch anstrengende Wanderung im Harz, bergauf und bergab und querfeldein, als ich vor einigen Jahren wieder einmal die F50 mitschleppte, ich lief hintendrein und rannte dann wieder voraus, bleibt mal kurz stehen!, wartet mal!, lasst uns noch mal zurückgehen!, ich wollte an diesem Tag einen ganzen Film verschießen und suchte die ungewöhnlichen Perspektiven, bückte mich hier, kletterte dort hoch, bald wäre der Film voll, da kommt die 36, Moment!, hier noch eins!, die 37, er spult noch nicht, also hier vorne bitte!, die 38, und es meldete sich ganz entfernt ein grausiges Gefühl. Ich knipste weiter, die 39 erschien, ich löste erneut aus: Die 40, und an diesem Tag sollte sich die Knauserei rächen. Der Film war zu knapp eingespannt, er hatte überhaupt nicht transportiert. Ich war im Innersten getroffen und starrte für den Rest der Wanderung nur noch stumm vor mich hin.



Seither habe ich nur noch wenige analoge Fotos gemacht, die digitalen Apparate werden besser, und selbst mit meiner kleinen Kompaktkamera kann ich Motive schießen, die sich problemlos auf Posterformat vergrößern lassen. Zuletzt habe ich die große analoge deshalb auch nicht mehr mit in den Urlaub genommen und mich an die kleine, allzeit bereite Digitalkamera in der Hosentasche gewöhnt, mit der man nahezu unbegrenzt drauflosknipsen kann: Was ist schon so eine Speicherkarte, briefmarkengroß nur und bietet doch Platz für über 1000 Fotos.



Schon wieder über 600 Bilder, sieht man eines Tages im Display, da waren ja auch die tollen Motive da und dort und überhaupt dabei, gleich heute abend also: Unbedingt die Speicherkarte wechseln! Sonst wäre der Verlust zu groß!, denkt man, bevor man wieder vorausrennt und dann hinterdreinmarschiert, Bilder macht, an diesem hohen Berg, bleibt mal kurz stehen, jetzt noch diese Blume und diese -



und die Kamera reagiert nicht mehr und ein böses Wort erscheint im Display.

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