Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Mittwoch, 1. Juni 2016
Zäpfel in Dü
nnier | 01. Juni 2016 | Topic Musiq
Zäpfel Kern hatte, wie wir wissen, ein paar nette, sehr niedliche Ohren erhalten, und er war immer etwas eitel auf seine kleinen Öhrchen gewesen. Und nun, entsetzlich, erblickte er an deren Stelle zwei ungeheure haarige Ungetüme, von denen er nichts anderes sagen konnte, als daß es zwei ausgewachsene Eselsohren waren.
(Otto Julius Bierbaum, Zäpfel Kern)
Wie ja jeder weiß, erzählte der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum zu Beginn des 20. Jahrhunderts mal eben die Abenteuer Pinocchios nach, änderte ein paar Namen und gab seinem Buch den Titel Zäpfel Kern. Als mir mein Freund A. eine Pinocchio-Hörspielcassette zum Geburtstag schenken wollte, dann aber Zäpfel Kern auf dem Tisch lag, war ich zunächst enttäuscht, denn ich hatte die Figuren und Stimmen aus der bekannten Zeichentrickserie erwartet. Später begann ich das Hörspiel dennoch zu mögen, in dem der alte Tischler statt Gepetto eben Väterchen Zorntiegel hieß, und besonders beeindruckt hat mich das Kapitel "Bei Dr. Schlaumeier im Spiel-Immer-Land": Da geht es um Kinder, denen ein sorgloses Leben in einer Art ewigem Freizeitpark versprochen wird, und um den hohen Preis, den sie eines Tages dafür zahlen müssen, indem sie sich zu Eseln verwandeln und als solche für Dr. Schlaumeier arbeiten müssen oder von ihm verkauft werden.

Mich hat der Wind vor einigen Tagen nach Westen geweht, erst wunderte ich mich noch über die hohen Berge und tiefen Täler, Ennepetal, Neviges, Velbert, Wuppertal, das ist ein ewiges Auf und Ab und mit Rollator bestimmt noch anstrengender, und irgendwann fand ich mich in Düsseldorf wieder, einer Stadt, zu der ich jetzt immerhin sagen kann: Nu ja, und dann zeigte ein Pfeil zum Spiel-Immer-Land.

Mit ein paar anderen Kindern durfte ich schon vorher rein, als die Kapelle ein Stündchen probte. Vor Freude weinte ich auf meine Zuckerwatte, denn statt "Test-Test-1-2-3" wurden ganze Songs gespielt, und der Mann auf der Bühne war lieb zu uns und hatte sichtlich Freude an seinem Tun. Als er uns verabschiedete und viel Spaß für die Show am Abend wünschte, ging es noch mal raus ins Helle. Durch den Schleier sah ich den glücklichen Japaner, der neben mir gestanden und einen inneren Kulturkampf ausgefochten hatte: Man ist ja eher der zurückhaltende Typ und von außen betrachtet kein Kind mehr, aber, Herrgott, das kann doch gar nicht wahr sein, Konnichiwa Sayonara!

Einige Stunden träumte ich auf meinem Sitz vor mich hin, begleitet von angenehmer Musik, ein DJ kam drin vor und elektronisch verfremdete Versionen meiner musikalischen DNA. Dann erscholl ein Akkord, der mich 50 Jahre jünger machte, gleich konnte ich wieder stehen, und das kann doch gar nicht wahr sein, Domo Arigato!

Es gab ordentlich was auf die Ohren, und irgendwann begann ich mich zu fragen, ob das vielleicht wirklich nicht ganz wahr ist. Hinterher konnte man lesen, dass es Probleme mit dem Klang in der Arena gegeben habe. Vielleicht war es das. Vielleicht auch etwas anderes. Ich denke dabei nicht an Playback, der Mann singt wirklich, das habe ich aus der Nähe gesehen. Aber irgendwas klang fremd für mich, als ob da technisch getrickst und nachgeholfen würde, nicht schlimm und roboterhaft, aber auch nicht mehr pur und unverfälscht.



Und wen würde das wundern, mit fast 74, bei dem Dreistundenprogramm an der Gitarre, am Bass, am Klavier, und alle wollen das hören, alle wollen rein in das Spiel-Immer-Land und glücklich sein, und das waren sie, das waren wir, nur beim Rausgehen musste ich mir prüfend an die Ohren fassen.

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Sonntag, 22. Mai 2016
Do the Bartman
nnier | 22. Mai 2016 | Topic In echt
Sie kennen das ja: Bei der wöchentlichen Rasur trägt man die Stoppeln nicht einfach ab, sondern lässt bis zum Schluss einen albernen Kinnbart stehen. Oder man schert nur eine Seite und tut völlig normal, wenn der Paketzusteller eine Unterschrift möchte. Oder man kommt mit einem Lemmy-Kilmister-Sadistenbart zum Frühstück.

"Du musst doch aber auch Rücksicht auf deine Mitmenschen nehmen", sprach vor Jahrzehnten die Mitbewohnerin, als ich mich eines morgens mühsam auf Sportlehrer getrimmt hatte und mit meinem Schimanski-Schnauzer darauf bestand, dass ich so endlich auch Biologie auf Lehramt studieren könne. Und geben Sie's doch zu, als Letztes bleibt immer ein Quadrat unter der Nase und man will irgendwas ausrradierrren. So jedenfalls gestern bei mir, ich bin dann erst mal zum Frühstück gegangen und die kennen das ja, die sagen schon nichts mehr, nur dass ich auf dem Markt an den Salat denken soll.

Alle waren sehr freundlich zu mir, dauernd dachte ich: Da schimpft man immer über seine griesgrämigen und verbitterten Mitbürger, aber schau nur, wie sie lächeln, auch der gute Bekannte, den du noch getroffen hast, und später im Supermarkt die Leute und vor allem die Frau an der Kasse, richtig nett alle!

"Warst du so einkaufen?", und ich dachte: Ist ja Samstag, ist ja schönes Wetter, da kann man doch mal eine kurze Hose anziehen, bei der Arbeit würde ich das ja nicht machen, aber doof ist das schon, dass es für Frauen so schöne Sommersachen gibt, die ganzen Kleidchen jetzt wieder, und Männer können entweder aussehen wie ganz große Grundschüler oder halt schwitzen, also klar war ich so einkaufen, und ich habe gerade noch einen schönen Kopf Salat bekommen.

Abends dann zu Gast bei guten Freunden, da bringt jeder eine Kleinigkeit zu Essen mit und es ist immer zu viel, aber lecker: Suppe, Hirseschnitten, Salate, Hefeteigdinger mit Pilzfüllung, und das hier ist die Lisa und das sind Helga und Klaus, und das ist der nnier, hallo, angenehm. Nach je zwei Partien Mystery oder wie das heißt und Codenames hängt nachts im Bad so ein Spiegel und man schaut rein und lacht, weil keiner was sagt, erst auf dem Heimweg erfährt man, dass die eine gefragt hat, sag mal, hat der eigentlich schon immer einen Bart?

Nachdem ich neulich schon den ganzen Tag eine Primark-Tüte durch die Firma getragen habe, steht mir der Sinn nach weiteren sozialen Experimenten:

- Im Meeting ein T-Shirt "Bier rein / Bier raus" (Pfeil nach oben / Pfeil nach unten) tragen
- Mit einem Hummer zur Arbeit fahren
- Dabei den Chef vom Fahrrad hupen
- Einen "SPD"-Button anstecken
- Samantha Fox als Bildschirmhintergrund einrichten
- Das Lied "Hallo, guten Morgen, Deutschland" von Willy Astor als Klingelton einstellen

Der Rasierer ist vorhin runtergefallen, gleich beim Einschalten, aber ich habe sofort ein neues Scherblatt bestellt, das kommt schon in wenigen Tagen.

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Sonntag, 15. Mai 2016
Unterirdisches mit Condimento
nnier | 15. Mai 2016 | Topic In echt


Es geht so einfach: Ein paar Esslöffel Essig, ein paar Esslöffel Öl, etwas Salz, etwas mehr Zucker miteinander verrühren. Über kleingeraspelte Möhren oder Sellerie schütten, durchmischen und eine Nacht lang im Kühlschrank einwirken lassen. Man kann dann morgens, mittags und abends davon essen, vor allem, wenn auch noch jemand was Feines aus Roter Bete und richtig schmackigen Kartoffelsalat gebastelt hat.

Mjamski. Warum mache ich das nicht öfter?

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Montag, 9. Mai 2016
71@71:#20
nnier | 09. Mai 2016 | Topic Musiq
I wish I was a baby
I wish I was dead

(John Lennon, Cold Turkey)

So etwas würde Paul nie schreiben, und schon gar nicht damals, als er sich in immer hektischeren Bewegungen zwischen alle Stühle setzte: Als hätte es nicht genug rechtliche Streitigkeiten mit den ehemaligen Bandkollegen gegeben, kamen noch welche dazu, weil nicht jeder Medienmogul gleich einsehen wollte, dass aus der Fotografin Linda Eastman plötzlich eine professionelle Songschreiberin geworden war. OK, sagte Paul, bevor wir uns hier um die zusätzlichen Tantiemen streiten, mache ich euch noch eine Fernsehshow, dann kriegen wir aber das Geld, Deal?

Ich habe davon nur Ausschnitte gesehen, aber schon diese und oberflächliches Lesen machen klar, dass sich hier jemand seine Reputation auf Jahre hinaus kaputtmachen würde. Gotta Sing, Gotta Dance, die alte Hut-und-Stock-Nummer, der Entertainer für die ganze Familie, dazwischen Pub-Gesinge mit den Großtanten und musikalisch schlechte Wings-Auftritte: Ganz unschuldig an seinem zweifelhaften Ruf war er damals sicher nicht.

Und dabei konnte er's doch! Im selben Jahr erschien z.B. dieser Slowie. Sparsam instrumentiert mit einem grandiosen Gitarrenriff, lediglich von der Wings-Kernbesetzung mit Paul, Linda und Denny Laine aufgenommen, fegt der Song mühelos allen Kitsch vom Kamin und rockt relaxt, ohne irgendwas beweisen zu wollen. Wunderbar auch die leere Strophe gegen Ende: Alles wartet auf ein Instrumentalsolo (und bei Livekonzerten gibt es das leider auch), aber nein, man darf schlicht dem Riff und der Bassbegleitung lauschen, bis der Refrain wieder einsetzt. Seit dem "Drumsolo" in Birthday wurden meine Erwartungen nicht so schön unterlaufen!

Echoes of Lennon, na klar, und die Gelehrten streiten sich, ob das eher Parodie oder eher Hommage war: Zünglein an der Waage ist für mich das kurze "Ooh-oh-ohaho" ganz am Schluss, in dem für mich punktgenau und überhaupt nicht bösartig so viel Plastic-Urschrei-Lennon konzentriert ist, dass ich lächeln und nach draußen rufen möchte: Jungs, nun hört mal auf zu streiten, in Wahrheit liebt ihr euch doch!

Platz 20: Let Me Roll It (1973)

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Montag, 18. April 2016
T.
nnier | 18. April 2016 | Topic In echt
Aus deinem Zimmer raus nach rechts, den Gang runter, links um die Ecke zum Fahrstuhl. Damit ins Erdgeschoss, rechts raus durch zwei Türen, die nicht automatisch aufgingen: Die musste man dir aufhalten. Nach links am Haus entlang, dann rechts über den Hof. Die Betonplatten um den Baum herum geschlitzt und uneben, aber das ging irgendwie, und bei der Einfahrt raus, vorbei an der alten Braumeistervilla, in der jetzt Physiotherapie angeboten wird: Das alles war ja mal das Brauereigelände. Direkt über die Straße und ein Stück nach rechts auf der Gegenfahrbahn entlang, so ging das am leichtesten mit deinem Wägelchen, und bei der Garageneinfahrt wieder auf den Bürgersteig.



Noch ein Stück bis zum Gartentor, hier das Wägelchen leicht anheben, und über den gepflasterten Weg zur Haustür. Dort das Wägelchen die Stufe hoch, da musste man dir helfen, dann warst du im Haus. Du hast dich am Geländer festgehalten oder am Türrahmen, während man das Wägelchen zusammengeklappt und in die Ecke gestellt hat. Vier Stufen Steintreppe, nach rechts drehen, dann kommen neun Stufen Holztreppe. Seit wir auf beiden Seiten Geländer haben, hast du das wieder alleine machen können, unglaublich! Noch einmal rechts rum, noch einmal sieben Holzstufen, durch die Wohnungstür. Jemand half dir aus dem Mantel, du musstest dich nicht festhalten, und dann durch die Küche an den Tisch im Wintergarten: Jemand hat dir die Hand gehalten, aber du konntest das noch ohne Stock laufen, und wenn du schließlich auf dem Stuhl gesessen hast, warst du froh über einen Schluck Wasser.



Das war dein Weg in den letzten Jahren, den bin ich jetzt noch mal alleine gegangen und habe mich gefreut, wie viel wir noch voneinander haben konnten. Du hattest umziehen müssen, nach über 90 Jahren, musstest weg von da, wohin man unendlich lange mit dem Auto fuhr, und dorthin, wo ich als Kind aus unserem Fenster den großen Garten der Braumeistervilla sehen konnte: Ausgerechnet da haben sie vor ein paar Jahren ein Heim gebaut. Leicht war das bestimmt nicht für dich, und doch war es gut, glaube ich. Ich bin froh, wie oft wir uns noch sehen konnten, mittagessen, rommeespielen, kaffeetrinken, miteinander sprechen. Das geht jetzt nicht mehr.



"Dann kam schon das elektrische Licht", hast du einmal erzählt, da habe ich mal wieder geahnt, aus welcher Welt du gekommen bist. Dein eigenes Licht ist jetzt erloschen. Schön, dass du da warst.

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