Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Mittwoch, 6. Januar 2010
Zivilisationsschicht
nnier | 06. Januar 2010 | Topic In echt
Gemeinsam mit vielen anderen Menschen auf engem Raum zwangsweise zusammengepfercht - das sind die Situationen, in denen man auf gewisse Errungenschaften der Zivilisation gerne zurückgreift. Kann ich Ihnen behilflich sein? Würden Sie mir bitte meinen Koffer herunterreichen? Entschuldigen Sie bitte, aber ich fürchte, diesen Platz habe ich reserviert. Setzen Sie sich gerne hierhin, mir macht es nichts aus, am Gang zu sitzen. Solche Dinge.

Man will ja gerade unter etwas erschwerten Bedingungen, wenn also Witterungsbedingungen ihren Tribut fordern und der eine oder die andere schon beim Warten auf verspätete Züge Nerven lassen musste, wenn Toiletten nicht funktionieren und andere Ärgernisse nicht ausbleiben, doch wenigstens nicht unnötigerweise für noch mehr Verdruss sorgen.

Denkt man, während alle ihre nassen Mäntel ausziehen, es dunstet, man stößt sich versehentlich gegenseitig an, Menschen müssen wieder aufstehen, andere irren verzweifelt durch den Zug und suchen einen freien Platz - als es auch schon losgeht, zwei dickliche Klischeejungmänner unterhalten sich und den ganzen Wagen dröhnend darüber, ob man mit einer Adaptercassette den MP3-Player sinnvoll ans Autoradio anschließen kann, die Unterhaltung streift diverse Autoausstattungsmerkmale, man berichtet von einer Sendung namens "Pimp My Drive" und all den extremen "Tuning"-Teilen, die darin offenbar vorgestellt werden, man kann "Spinner" auf seine Felgen setzen, die sich beim Abbremsen noch weiterdrehen, die Felgen mit LEDs und das Auto insgesamt von unten beleuchten, das sei in Deutschland leider nicht erlaubt, aber er kenne da jemanden, etc., weiter geht es mit dem Studi-VZ, der hübschesten Tunesierin, dem eigenen Zweitprofil, dem gelöschten Gästebuch, und wenn Sie jetzt schon langsam genervt sind, dann können Sie nicht annähernd erahnen, wie entsetzlich es ist, einer solchen Situation hilflos ausgeliefert zu sein.

Es mag sein, dass man ohne Ohrenstöpsel einfach nicht mehr mit der Bahn fahren sollte, es mag auch eine Schwäche von mir sein, dass ich es nicht fertigbringe, mich dennoch auf mein Buch zu konzentrieren - trotzdem erwarte ich von den Menschen, dass sie eine grobe Vorstellung von Lautstärke und angemessenem Benehmen haben.

Kaum sind die beiden Autofans ausgestiegen, nimmt den Platz mir schräg gegenüber ein nervöser, junger Mann ein, der die folgenden drei Stunden lang ununterbrochen mit den Beinen zappelt. Sein rechter Fuß steht auf der Spitze, die Ferse klopft mit hoher Frequenz auf den Boden, der linke übernimmt, das Knie fährt auf und ab, der eine Fuß tippt auf den anderen, es gibt keine einzige Pause, und abgelenkt wird man nur davon, dass er plötzlich mit sich selber zu sprechen beginnt, in einem seltsamen Gemisch aus deutscher und indisch klingender Sprache. Man will verzweifelt nach links unten schauen, man hält sich das Buch dicht vors Gesicht, er aber wippt und spricht in sein Headset von Bochum bis Bremen. Die Verzweiflung steigt. Was will man sagen? Andere telefonieren viel lauter, er aber tut es relativ leise und doch so beständig, dass man sich dem nicht entziehen kann. "Entschuldigung, aber würden Sie evtl. das Wippen mit Ihrem Bein einstellen, es macht mich nämlich wahnsinnig? Und würden Sie bitte auch aufhören, zu telefonieren, ich kann mein Buch nicht lesen?"

Unterdessen kann das Bewusstsein nicht anders als eines beständigen, zahnarztbohrerartigen Geräuschs gewahr werden, das sich ebenfalls seit etwa Bochum immer mehr in den Vordergrund drängt. Es ist ein grässliches Babygeschrei. Oh, denkt man, die arme Mutter, der ist das bestimmt furchtbar unangenehm, und man war ja auch mal in der Situation, und da ist es schon schwer genug, und man kann ein Kind nicht beruhigen, wenn einen andere Menschen böse anstarren. Aber nach etwa zwei Stunden starrt man böse hinter sich und sieht eine Frau, neben der ein Kleinkind in einer Sitzschale festgeschnallt auf dem Boden sitzt und brüllt. Die Frau tut nichts. Sie kommt nicht auf den Gedanken, das Kind einmal herauszunehmen, auf den Arm, mit ihm ein wenig herumzulaufen, sie bemerkt nur irgendwann doch die finsteren Blicke und beginnt nun, in wahnsinnigem Tempo die Schale hin- und herzuruckeln, das Kind brüllt immer schlimmer, und langsam schmilzt die Zivilisationsschicht ab.

Ich erinnere mich an eine weite Flugreise. Die Sitze dermaßen eng, dass man sich nicht bewegen konnte, schon die Anreise eine Strapaze, ich konnte kaum noch, und neben mir sahen sich betrunkene Menschen lustige Filmchen an, in denen Kinder von der Schaukel fielen oder Menschen beim Skifahren zerlegt wurden. Stundenlang wieherten diese Leute bei jedem Unglück lauter, ich war überreizt und entnervt, und die Vorstellung, diese Säue von ihren Sitzen zu prügeln, wurde immer unwiderstehlicher.

Ich erinnere mich an eine Fahrt mit Rainbow Tours nach London, es war ein alter Bus, unbequem und überfüllt mit lärmendem Publikum, ich war spätestens auf der Fähre mit den Nerven fertig, sie fraßen, soffen, rülpsten, meine Beine wurden dick, ich war eingezwängt, eine Toilette gab es nicht, die Luft war schlecht, die Musik unerträglich, und die Vorstellung, denen ihre verdammten Fressen mit diesem kleinen Alukoffer einzuschlagen, wurde immer unwiderstehlicher.

Die Hölle, das sind die anderen.

Als ich endlich den Zug verlassen konnte, lief ich zu Fuß durch eine wunderschöne Winterlandschaft. Meine Nerven vibrierten, ich sprach leise vor mich hin. Der Schnee fiel in zarten Flocken. Ein Mann trat auf mich zu: "Ich bin Baske, 'allo, können Sie mir 'elfen?"

"NEIN!", antwortete ich und zog mit dem Rollkoffer noch eine lange, lange Spur in die geschlossene, weiße Schneedecke.

Link zu diesem Beitrag (25 Kommentare)  | Kommentieren [?]   





Montag, 4. Januar 2010
Dreckwüler
nnier | 04. Januar 2010 | Topic In echt
Ein anthroposophischer Kinderarzt sprach neulich zu mir, dass ein Kind bereits mit, wenn ich mich nicht irre, sieben Jahren seinen Körper einmal "komplett erneuert" habe.

Es stand dahinter vermutlich vor allem das gute alte "Man ist, was man isst", und auch ich bin der Ansicht, dass man, sobald das Kerlchen nicht mehr an der Brust hängt, sicherlich auch mal einen Gedanken daran verschwenden sollte, ob man ein Kind aus Farb- und Geschmacksstoffen haben möchte oder eines aus heimischer Erde (Gemüse der Saison bzw. Gutes aus der Region), ungeachtet dessen, ob man nun der wortwörtlichen Anthroposophenlehre vom "mitgegebrachten" Körper anhängt, der dann irgendwie umgeformt wird, oder ob man sich nur schon mal über den künftigen Ritalinverbrauch informieren will:
Die Erwachsenen wollten, dass sich die anstrengenden Kinder nicht durch anhaltendes Rumzappeln entspannen, sondern lieber leise, mit Pille, wenn schon sonst nichts half, um die Ruhigsitzernorm zu erfüllen. Seinerzeit haben auch Fachleute vor Missbrauch gewarnt, diese Psychomedizin sei in ihren Nebenwirkungen nicht gut erforscht, und ob es nicht klüger wäre, den Kindern mehr Auslauf im Freien zu lassen, einen geregelten Tag einzurichten und sie mit weniger Lärm-, Zucker- und Medienmüll zu bewerfen.
Wenn also "ich" meine, "mich" an etwas zu erinnern, das "ich" mal getan oder gedacht habe, dann muss "mir" klar sein, dass von dem, der das mal getan oder gedacht hat, womöglich kaum noch etwas oder evtl. auch rein gar nichts mehr übrig ist. Das gilt natürlich auch für den Bodensee, auch der ist nur so ein Fließgleichgewicht, sein Wasser ist auch zum großen Teil ausgetauscht, wenn man nach Jahren mal wieder vorbeischaut, und als Fünfzigjähriger ist man durchschnittlich erst zehn Jahre alt - ja, auch deine Knochen, Baby.

Welche Folgerungen daraus nun für das Strafrecht (wer sitzt da eigentlich im Knast), das Urheberrecht (wer hat eigentlich "Yesterday" geschrieben), oder nehmen wir einfach unser Menschenbild insgesamt, zu ziehen sind, das überlasse ich gerne Ihnen. Es ist alles wacklig, alles fließt, und glauben Sie nicht, dass Sie mir jetzt mit den Alpen kommen müssen, und die Kontinente bewegen sich, das gibt noch üble Grenzstreitigkeiten: Was können wir denn dafür, dass die Grenze in eure Richtung rutscht - ich hör's schon. Oder: Was wollt ihr dauernd mit dem blöden Salzstock, erstens haben wir keine Unterlagen darüber, wo wir den ganzen Mist damals eingelagert haben, das ist ja nun auch schon 40 Jahre her, und zweitens habe ich meinen gesamten Körper seither mehrfach ausgetauscht und gedenke das auch weiterhin zu tun. Es war demnach nicht diese Hand, die damals den Stift geführt hat, junger Mann, ich glaube, wir verstehen uns. Ich meine, bruhaha, von mir aus unterschreibe ich auch, dass das 100 000 Jahre hält, haha, dann macht mich doch haftbar! Ihr Zellhaufen! Huch, ihr habt euch ja schon wieder um 2 Promille gewandelt, und das Jahr ist noch nicht alt. Mit wem rede ich da eigentlich. Eure Halbwertzeit ist ja geradezu lächerlich - so, ich muss dann, tschö mit "Ö". Wie naiv kann man eigentlich sein!

Während Sie jetzt natürlich überlegen: Ist es überhaupt dieser Finger, an den damals der Ring ...? Oder auch: Warum ist dann das blöde Tattoo immer noch auf meinem ...?, mache ich ("ich"! Hö hö!) mir noch mal ein paar gebrauchte Gedanken zum Thema "ich", Moment, hab's gleich, das mit dem Identitätsgefühl - es ist schon seltsam, wenn man auf etwas stößt, das man selber (?) mal hervorgebracht hat, und man weiß noch, dass "man" (?) das fabriziert hat, und doch ist "man" inzwischen ein anderer, oder vielleicht nicht?



- Jetzt lass mal langsam gut sein. Es haben auch schon andere Leute ein altes Bild wiedergefunden.

Link zu diesem Beitrag (1 Kommentar)  | Kommentieren [?]   





Sonntag, 3. Januar 2010
Bei Kräften bleiben
nnier | 03. Januar 2010 | Topic In echt


Bete Beete Rote Bete! Du Glücksgewächs!

Link zu diesem Beitrag (2 Kommentare)  | Kommentieren [?]   





Sehen Sie?
nnier | 02. Januar 2010 | Topic Ja nee
Die haben mich bald.



Die haben mich bald.

Link zu diesem Beitrag (4 Kommentare)  | Kommentieren [?]   





Freitag, 1. Januar 2010
Die sind hinter mir her
nnier | 01. Januar 2010 | Topic In echt


Man muss sich mal vorstellen, dass das die Kneipe war, in der die ganz Coolen verkehrten. Man musste schon zur Szene gehören. Da konntest du nicht einfach so reingehen. Der Name von dem Laden, der war auch so cool, und, scheiße, der Inhaber, fuck, ich habe mal jemanden sagen hören, dass der einen Namen hat, der wie ein Künstlername klingt, wie hieß der noch gleich.

Link zu diesem Beitrag (0 Kommentare)  | Kommentieren [?]   





Donnerstag, 31. Dezember 2009
Give Me Your Heart Tonight
nnier | 31. Dezember 2009 | Topic In echt


Ganz so viel hat sich eigentlich nicht verändert. Er hier z.B. ist immer noch da, am Fuße der Kirche, die gerade eingerüstet ist und von deren Dach sie im vergangenen Jahr irgendwas Goldenes gestohlen haben. Dann hat's jemand gemerkt, nach ein paar Wochen, und hoppla, wir dachten, dass ihr die abgeschraubt habt!? Nein, warum sollten wir? Das ist doch eure ...? Na, und dann stand es in der Zeitung, und dann haben Scherzbolde zugegeben, dass sie es waren, in einer trunkenen Nacht.



Ein paar Jahre zuvor, an einer anderen Kirche in der Stadt, haben Jugendliche gezündelt. Der Turm war gerade renoviert worden, das Gerüst stand noch da, sie haben das wohl nicht ganz richtig eingeschätzt mit ihren Feuerzeugen, und ich musste mir immer vorstellen, wie es so ist, wenn man ankommen muss: Papa, mir ist da was ganz Blödes ...



Mir wäre ja auch mal fast was ganz Blödes. Die ganze Sache fing damit an, dass ich auf den Gedanken verfiel, mit den Knallkörpern nicht immer nur akustische, sondern auch mal ballistische Experimente zu veranstalten. Ich überlegte also, womit bzw. worin man den nötigen Druck erzeugen könnte, und welches Projektil sinnvoll zu verwenden wäre.



Eine alte Fußballpumpe erwies sich dann als brauchbar. Man stopfte den Böller hinein, und dort, wo sonst der Metallstab heraustrat, fummelte man die Zündschnur hindurch. Ein dicker Korken, mit Kreppband umwickelt, verschloss das Rohr von der anderen Seite. Das metallene Pumpengehäuse hatten wir noch schnell auf eine Holzplatte geschraubt, bevor die Zündung erfolgte und all unsere Erwartungen übertraf.



Wohin das alles im weiteren führte, können Sie sich ja denken. Trotzdem muss ich sagen, dass ich recht froh über den geistigen Impuls war, der mich eines Sylvesterabends durchzuckte. Denn eine Sache ist es, eine leere Sektflasche mit gezündetem Böller zu bestücken, schnell den Plastikkorken draufzuprügeln und sich über die erreichte Flughöhe des Objekts zu freuen, das eine Minute später wieder den Boden erreicht. Eine weitere Sache ist es, das alles immer souveräner und quasi mit links abzuhandeln, Böller anzünden, reinfallen lassen, Korken abschießen. Aber eine ganz andere Sache ist es, die Flasche in die Hand zu nehmen, um damit eine ballistisch besonders beeindruckende Flugbahn hinzulegen. Die Zündschnur brannte, ich freute mich auf den Abschuss, doch irgendwas, irgendwas flüsterte in mir: Stell sie doch lieber noch mal hin. Und so kommt es, dass ich zwei Hände habe und sehen kann.

Also, passen Sie auf sich auf, kommen Sie gut ins neue Jahr, und wir alle müssen vielleicht nur ein wenig Geduld aufbringen, dann klappt das schon und es kommt jemand, der unsere Shakin-Stevens-Buttons kauft.

Link zu diesem Beitrag (26 Kommentare)  | Kommentieren [?]   





... hier geht's zu den --> älteren Einträgen *
* Ausgereift und gut abgehangen, blättern Sie zurück!

Letzte Kommentare
Kalender
Juni 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 
 
Über
Who dis?
Erstgespräch