Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sonntag, 9. Juni 2013
Wenn man nichts machen kann
nnier | 09. Juni 2013 | Topic In echt
In unserer Gegend wohnte ein Mädchen, das mit mir und meinem Freund A. in die Grundschule ging. Sie hatte die unangenehme Eigenschaft, sich bei den Lehrern durch vordergründig erwünschtes Verhalten beliebt zu machen, während sie hintenrum oft feixte und mich einmal völlig aus der Fassung brachte: Da stand sie im Museum hinter unserer strengen Lehrerin, die uns einen Vortrag hielt, und tat die ganze Zeit so, als würde sie ihr einen langen Stock in den Hintern bohren und diesen ganz wild hin- und herbewegen. Ich musste mich richtig zusammenreißen und hätte sie dafür mögen können, wenn sie nicht so eine hinterhältige Petze gewesen wäre. Oft erwischte es A., der als schlechter Schüler sowieso einen schweren Stand hatte und obendrauf noch eine Extraportion Ärger bekam, wenn sie ihn wieder einmal angeschwärzt und dabei noch die Wahrheit verdreht hatte. Kam er im Unterricht dran und wusste die Antwort nicht, lachte sie ihn offen aus. Wir hatten Grund, sie zu hassen und freuten uns deshalb auf den Heimweg: Da vorne ist sie!, rannten wir los, Lasst mich in Ruhe!, keifte sie, und wir rächten uns.

Trotzdem rief sie manchmal an und wollte zum Spielen vorbeikommen. Es gab im Garten einen Sandkasten, in dessen Mitte buddelten wir dann schnell ein Loch, legten eine Plastiktüte drüber und streuten Sand drauf. Lass uns um die Wette springen, sagten wir als erstes, wenn sie ankam, jeder hat seine Bahn, dann sprang A. links und ich rechts. Sie wollte nicht, wir sagten: Los, da ist nix, diesmal ist da wirklich nix, also sprang sie und fiel die 20 cm ins Loch. Wir lachten, sie heulte und rannte nach Hause. Wir haben das ziemlich oft gemacht.

Es gab andere Jungs in der Gegend, vor denen ich regelrechte Angst hatte. Sie verfolgten und quälten uns jahrelang. Meine Angst vor ihnen war so groß, dass ich alles tat, was sie verlangten, und sie feixten und lachten. Leider hatte ich das Verhaltenselement Hau ihm doch einfach eine rein nicht in meinem Repertoire, das hätte vielleicht etwas geändert. Statt dessen schmissen sie mein Fahrrad in den Kanal und lachten sich kaputt. Ich kämpfte mich durch Schlamm und Brennesseln, und nach einer Weile wurde den beiden da oben mulmig: Soll ich dir helfen, rief einer, Brauchste nicht, rief ich durch den Tränenschleier zurück und zog und zerrte mein Fahrrad irgendwie durch das Ufergestrüpp. Es wurde inzwischen dunkel, und sie hatten auf mich gewartet: Wenn du nach Hause kommst, und deine Eltern fragen dich, was passiert ist, dann sagst du, dass ein großer Junge dein Fahrrad in den Fluss geschmissen hat. Wehe, du sagst was von uns. Daran hielt ich mich und verstrickte mich in ein Lügengestrüpp.

Einer von diesen Jungs war sogar ein Jahr jünger als ich, galt aber als besonders gefährlich. Als ich neu in die Gegend gezogen war und mich mit A. angefreundet hatte, warnte dieser: Bei dem musst du aufpassen. Der hat mich schon oft verkloppt. Und es gibt ja diese Menschen, denen man es ansieht, oft ist es ein höhnischer Zug um den Mund und ein ganz bestimmter beleidigter, zugleich herausfordernder Blick - jedenfalls sah ich zu, dass ich möglichst nicht in seine Nähe kam. Einmal schrak ich fürchterlich zusammen: Da war er morgens auf dem Schulweg plötzlich neben mir, und A. war ausnahmsweise nicht dabei. Er plauderte drauflos und erzählte unter anderem, dass er neulich einem anderen Jungen "mit dem Messer in den Kopf gestochen" habe. Zwar erfuhr ich später, dass das bloß so ein kleines Plastikmesser und ein oberflächlicher Ritzer gewesen war, das half aber auch nichts mehr: Für mich blieb er der Inbegriff des brutalen Gewalttäters, dem man nichts entgegensetzen kann.

Als wir den Schulhof erreichten und ich erleichtert aufatmete, kam ein Mädchen angelaufen und lachte ihn aus: Ha ha ha! Du mit deinem Schulranzen! Du Idiot!

Entsetzt konnte ich nur starren und erwartete ansatzloses Dreinschlagen. Statt dessen sah er mich an, schlug die Hand gegen die Stirn und rief: Wir wandern ja heut! Ha ha ha, riefen immer mehr Kinder, und ich bekam eine ganz leise Ahnung davon, dass solche Leute nicht unbedingt immer die Oberhand behalten müssen.

Dennoch mied ich seine Gegenwart noch lange, und umso überraschter war ich, als es eines Tages klingelte. Der Fluss war über die Ufer getreten, das Hochwasser hatte unsere Straße erreicht und lediglich der Bordstein bildete noch die Grenze zwischen lustigem Anblick und nasser Katastrophe. Unten stand er mit seinem Schulranzen und einer Sporttasche. Ich soll zu euch, sagte er, meine Mutter hat mich geschickt, bei uns ist alles vollgelaufen.

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