Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sonntag, 10. März 2024
KW 10/2024
nnier | 10. März 2024 | Topic In echt
Eine Woche ziellos herumgefahren, dabei drei belanglose Erfahrungen gemacht, von denen dennoch kurz berichtet sei. Ich habe ja sonst nichts!

Erfahrung 1: Schwimmbad.

Nach vielen Jahren mal wieder ein Schwimmbad aufgesucht, vornehmlich zum Duschen (denn ich war mit einem eher einfach ausgestatteten Campinggefährt unterwegs). Zeug in Ikeatasche gepackt, Ticketautomat bedient ("1 Erwachsener 5,20 EUR"), Münzen eingeworfen, kein Ticket bekommen. Es gibt in diesem Hallenbad kein Kassenpersonal, aber eine Sprechtaste, die offenbar zum Bademeister im Inneren durchstellt. "Fassen Sie mal ganz tief in den Schacht, nein, noch tiefer! Die bleiben manchmal hängen!" - "Oh, tatsächlich, danke!")

Die Umkleide betreten, erfolgreich in die alte Badehose steigen, am Schließfach feststellen: Es werden dafür 2-Euro-Münzen benötigt! Natürlich keine solche am Mann; wo ich wohne, wird für den Schließvorgang seit Jahren das Ticket selbst verwendet. Hier benötigt man es dafür nicht - also weg damit in den Papierkorb! Ikeatasche notgedrungen mit in die Dusche und dann in die Schwimmhalle nehmen, dort ein wenig "schwimmen" (ihr dürftet mich nicht sehen, mit euren tausenden von Metern; vielleicht sollte ich eher schreiben: Im Wasser sein). Zurück in die Umkleiden. Erfolgreich umgezogen, wird am Ausgang plötzlich noch einmal das Ticket verlangt: Wieder eine Sprechtaste, ähm, ich habe kein, ich wusste nicht - man betätigte einen Summer und entließ mich.

Beim nächsten Mal war ich gewappnet: Am allerwichtigsten ist das 2-Euro-Stück! Das steckst du direkt in die Hosentasche! Zahlen, eintreten, in die Kabine - wunderbar, Wechselklamotten und alles sind in der Ikeatasche, jedoch, wo ist die Badehose? Sprechtaste: Ähm, ich müsste noch mal, habe was vergessen, kann ich vielleicht kurz. Summer. Badehose holen, Sprechtaste, ich bins wieder, ähm, müsste jetzt sozusagen wieder rein. Summer. Umkleide. Badehose. Schließfach. Aber: Kein 2-Euro-Stück. Es muss mir aus der Tasche gefallen sein, ich habe es auch später nicht mehr gefunden. Diesmal dann nur geduscht, ich war mental zu weiteren Kontaktaufnahmen per Sprechtaste einfach nicht mehr in der Lage. Vielleicht gehe ich nächstes Jahr noch mal schwimmen.

Erfahrung 2: Auto.


Irgendwann gestikuliert einer wild, du hältst an: "Sie bremsen die ganze Zeit, jedenfalls leuchten das mittlere und das linke Bremslicht durchgehend! Rechts hinten hingegen leuchtet gar nichts, auch keine Rückleuchte!" Du bedankst dich für den Hinweis und ärgerst dich: Der war doch neulich beim TÜV und davor in der Werkstatt, haben die was mit den Kabeln gemacht? Grübelst, fährst, hältst und tauschst wenigstens das Lämpchen hinten rechts aus. Schaltest zur Prüfung das Licht an, Rücklicht leuchtet, alles richtig! Aber was ist mit dem Bremslicht, warum leuchtet das permanent? Sogar das mittlere? Die Werkstatt muss ... ach, nein, jetzt erinnerst du dich! Du selbst hast kurz nach dem TÜV das Lämpchen hinten links gewechselt, weil es kaputt war, dir dabei die Finger genauso zerschunden und beinahe gebrochen wie jetzt bei der rechten Seite! Und bist dann monatelang kaum gefahren!

Und wie du so nachdenkst, fragst du dich: Welche von den Lämpchen im Rücklichtgehäuse sind eigentlich die Bremslichter? Es sind jeweils 4 Birnchen: Oben das Rücklicht, dann der Blinker, dann der Rückfahrscheinwerfer, dann die Nebelschlussleuchte ... und war es nicht so, dass du mal hinter dem Auto hergefahren bist, und beim Bremsen wurden die Rücklichter einfach deutlich heller? Aber wie funktioniert das, es wird doch nicht plötzlich irgendwie die Spannung erhöht? Das wäre doch auch nicht gut für die Glühfäden?

Und aus dem hintersten Winkel fällt dir plötzlich ein: 2 Glühfäden in einer Lampe! 2 Kontakte am Lampenfuß statt nur einem! Darauf hast du nicht geachtet und normale Birnchen mit einem Kontakt eingesetzt! Dann musst du schon lachen, weil dir klar ist, wie die Schaltung jetzt aussieht: Rücklichter an, beide Kontakte in der Fassung werden von der Lampe miteinander verbunden, leiten dabei natürlich auch durch zum mittleren Bremslicht! Also zum Baumarkt, die richtigen Birnchen kaufen. Aber besser die Lichter ausmachen, es ist noch hell genug, sonst sind die Leute hinter dir irritiert vom Dauerbremsen.

An der Ampel hältst du hinter jemandem an, trittst auf die Bremse und musst noch mehr lachen: Deine Abblendlichter leuchten plötzlich auf! Klar- hinten leuchten jetzt die Bremslichter, leiten durch auf die Rückleuchten, diese sind mit den Abblendlichtern zusammengeschaltet. Eigentlich ganz logisch alles, du freust dich diesmal sogar auf das Gefummel mit den Schrauben, weil du beim letzten Mal alles gut mit WD40 eingesprüht hast, tauschst in ein paar Minuten beide Birnchen und prüfst an einem spiegelnden Schaufenster noch mal alles.

Oder anders ausgedrückt: P21W ist nicht P21/5W, auch wenn sie fast gleich aussehen und mechanisch passen. Aber ihr wusstet das bestimmt.

Erfahrung 3: Fahrrad.


Klar, dass du das mitnimmst und auf dem Heckträger befestigst, dann aber nicht benutzt. Schließlich ruhst du dich die ganze Zeit aus - Essen, Schlafen, Lesen, Schlafen, Essen, das füllt die Tage richtig gut aus. Aber um an diese Lämpchen zu kommen, musst du die Heckklappe öffnen, mithin das Fahrrad runternehmen und bei deinen temporären Gastgebern in den Keller stellen. Aber dran denken, wenn du weiterfährst! Klar, auch nachts beim Aufwachen der erste Gedanke: Morgen das Fahrrad mitnehmen! Und beim Frühstück noch mal: Nachher ans Fahrad denken! Dann in Ruhe packen, wirklich auch alles mitnehmen, winken, losfahren. Und nur 20 Minuten später an die Bremslichter denken, dann an die Heckklappe, und gar nicht erst nach hinten schauen, sondern direkt an den Rand fahren und anrufen: Ich komme gleich noch mal, hab was Kleines bei euch vergessen.

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Sonntag, 29. Oktober 2023
Cotton Fields / Butt
nnier | 29. Oktober 2023 | Topic In echt
Wir hatten das Thema neulich erst, aber ich muss noch mal mit Handtüchern kommen.



Die Optik war mir nie besonders wichtig, das galt übrigens auch für Bettwäsche, bevor ich mir im letzten Jahr gleich mehrere neue Garnituren gönnte und merkte, wie angenehm mir der Anblick plötzlich war. Sogar das Beziehen macht mir seither nichts mehr aus, ich schlüpfe abends noch einen Tick lieber hinein und denke morgens, doch, richtig schön so!

Handtücher sollten mich gut abtrocknen, nicht muffig oder fleckig sein, weitere Ansprüche hatte ich nicht. So bildete sich über die Jahrzehnte eine wilde Ansammlung heraus. Wurde z.B. eine 70er-Jahre-Wohnung aufgelöst und es fanden sich ganz unten im Wäscheschrank originalverpackte Handtücher, war ich derjenige, der den Finger hob. Und schimpften später andere Haushaltsmitglieder, dass man davon Augenkrebs bekäme, war meine Antwort: Ihr müsst sie ja nicht benutzen.



Ich bestellte also eine Auswahl unterschiedlicher, jedoch für meine Begriffe zueinander passender Handtücher aus den Farbwelten Blau und Grau. Zweidreimal durchwaschen, bis die anfängliche, nervige Weichheit nachlässt - und auf einmal stapele ich sie im Bad an prominenter Stelle, lege Wert auf einheitliche Faltung und beschließe, nun Nägel mit Köpfen zu machen und auch noch die Waschlappen auszutauschen. (Ja, ich gehöre zu dieser Generation, und ein Waschlappen ist zu vielem Nütze.)



Sie ahnen, wohin das führt: Bei den Geschirrtüchern sieht die Lage nicht besser aus, hier haben die tapfersten Exemplare weit über 20 Jahre mitgearbeitet, und das sieht man ihnen an. Was für eine Erleichterung für das Auge, welche Freude beim Abtrocknen, wenn nun einheitliche, neue Tücher Ruhe und Verlässlichkeit ausstrahlen!

Ach - wegen "Butt", das ist deutsch ausgesprochen, Sie kennen doch die Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Weil eines ist klar, man darf auch nicht übertreiben. Einmal auf dem Trip, meint man, nun auch fürs winzige Gästebad eine Ladung einheitlicher Hand-, Seif- und Gästetücher besorgen zu müssen und bestellt aus budgetären Gründen eine petrolfarbene Ladung der etwas günstigeren Art, die, einmal durchgewaschen und akkurat zusammengelegt, in ihren Fächern auch sehr schick aussieht.

Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
mine Fru, de Ilsebill,
will nich so, as ik wol will.


Bis man zu Vergleichszwecken mal einen solchen Waschlappen verwendet und schon beim ersten Auswringen das dunkelgrüne Wasser im Waschbecken bemerkt, dann seine dunkelgrünen Hände anschaut und denkt: Oh, besser noch mal waschen, die färben ja noch.

[Hier folgt ein textlicher Einschub mit 5 Waschgängen, einer innen komplett grün verfärbten Waschmaschine, die man aufwendig reinigen muss, testweise beigelegten aussortierten, weißen oder rosa Handtüchern, die danach intensiv durchgefärbt und nicht wiederzuerkennen sind, sowie zu spät bemerkten petrolfarbenen Flecken auf dem hellen Lieblingshoodie.]

Also immer schön langsam, ihr wisst ja, wie das sonst endet:

Da war die See ganz schwarz und dick und fing an, so von unten herauf zu schäumen, dass sie Blasen warf, und es ging so ein Wirbelwind über die See hin, dass sie sich nur so drehte. Und den Mann ergriff ein Grauen.

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Sonntag, 1. Januar 2017
Wohin? Wohin?
nnier | 01. Januar 2017 | Topic In echt








Ihnen allen ein gutes neues Jahr!

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Dienstag, 16. August 2016
Fiiiiiiiii
nnier | 16. August 2016 | Topic In echt
Das muss mit der Retrowelle zu tun haben, inzwischen fährt ja jedes dritte Auto mit "H"-Kennzeichen und die jungen Männer sehen aus wie früher auf den durchgekreuzten Terroristenplakaten in der Post. Und ich muss sagen, dass mir die analoge Technik von damals überaus sympathisch ist, was hier niemanden überraschen wird: Aber je penetranter sich jeder Kleinwagen schon beim Einsteigen beklagt, dass er keine Bluetoothverbindung zu meinem Telefon aufbauen kann, umso größer wird meine Sehnsucht nach einem Lada mit vier Gängen und vier Rädern. Und einer Kurbel.

Immer wird alles weggeschmissen, die Schmalfilme, die Videocassetten, die Projektoren, die Abspielgeräte, da nehme ich mich selber nicht aus: Rausch- und knacksfrei, farbtreu und gestochen scharf passt eine ganze Videothek auf die Festplatte, und meine Schallplattensammlung überstieg das Fassungsvermögen meiner Hosentasche natürlich um ein Vielfaches.

Was die Menschen sich alles ausgedacht haben, bin ich trotzdem oft gerührt, diese ausgefuchsten Mechanismen beim Filmtransport, das Schrägspurverfahren, die Hinterbandkontrolle. Und was für ein Wahnsinn, wie schnell und zielsicher so ein Elektronenstrahl über die Mattscheibe flimmert, und überträgt dabei punktgenau Farb- und Helligkeitsinformationen, 50 mal pro Sekunde in 625 analog codierten Zeilen, wobei das nur die halbe Wahrheit ist, da abwechselnd die geraden und die ungeraden Zeilen neu aufgebaut werden: Tatsächlich also 25 mal pro Sekunde ein neues Vollbild, durch diesen Trick aber erheblich weniger Flimmern, und auch darauf muss erst einmal jemand kommen.

50 * 625 = 31250
31250 / 2 = 15625

15625 mal pro Sekunde muss der Zeilentransformator handeln, das versetzt ihn natürlich in eine gewisse Eigenschwingung und die ganzen Kondensatoren gleich dazu, die nach seiner Pfeife tanzen müssen. Wobei, Stichwort Pfeife, Sie erinnern sich gewiss an dieses hohe Fernsehgeräusch damals: Das waren die 15625 Hertz, und das menschliche Gehör kann im Jugendalter Frequenzen etwa zwischen 20 und 20000 Hertz wahrnehmen, habe ich mal im Biologieunterricht gehört. Gehört habe ich dann auch als Erwachsener dieses vertraute Geräusch, wenngleich das Hörvermögen mit zunehmendem Lebensalter von oben her abnimmt: Hört ihr das nicht, fragte ich meine Altersgenossen, dieses Fernsehgeräusch, die 15625 Hertz, sie schauten ratlos, und irgendwann hatten sie dann auch recht, denn die analogen Röhrenfernseher verschwanden rapide und wurden durch seelenlose, flache HD-Monitore ersetzt.

Bis jetzt diese Retrowelle eingesetzt hat, das ist Ihnen bestimmt auch aufgefallen, dieses Fiiiiiiii überall, zwei Wochen lang geht das schon so und ich freue mich, dass die alte Technik wiederentdeckt und wertgeschätzt wird. So sehr, dass die Leute ihre Geräte anscheinend gar nicht mehr ausschalten, nachts nicht und am See draußen nicht.

Kann natürlich auch sein, dass die Auslaufrille von Sgt. Pepper gerade in den Charts ist.

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Sonntag, 24. Juli 2016
KL 604
nnier | 24. Juli 2016 | Topic In echt


Leute sagen, ich sei in den Urlaub gefahren, noch gar nicht lange her soll das sein. Und manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als sei da etwas gewesen: Vage Erinnerungen an Kuhglocken und Motorsägenduft stellen sich dann ein, an Brettljausen und Bergwanderluft, und auch das Körpergedächtnis meldet sich bisweilen - drei Wochen Dauergrinsen schreiben sich hirnphysiologisch ein, da kannst du noch so griesgrämig in den Alltag schauen, das wirkt nach.



Zurück nach Hause also, bei dieser Hitze fühlt sich ohnehin alles flimmrig-fiebrig an, und je näher alles rückte, desto unwirklicher wurde es. Emotionale Amplituden, unsen letzten Gast verabschieden, einen unglaublich lieben Kerl aus Mexiko, der zum Schluss mütterlichen Abholbesuch bekommen hatte: Abends noch einmal Essen gehen am Fluss, frühmorgens Tränen weglächeln am Flughafen, dann arbeiten gehen. Zu Hause gründlich durchlüften, viel mehr Zeit blieb ja nicht, und das Bett frisch beziehen. Sich dabei nicht vorstellen können, dass sie nun bald wieder da sein wird, und zwischendurch abrupt begreifen: Das schnürt dir die Luft ab, da musst du dich hinsetzen, irgendwann gehst du ins Bett und träumst ganz intensiv.



Leute behaupten, ich hätte Urlaub gehabt, neulich erst und gar nicht mal so kurz. Es stimmt, ich war unterwegs, mir ging es gut, dann kam ich wieder und alles wurde irreal, dazu die Hitze und dieses fiebrige Flimmern: Mein tolles, liebes Kind ist wieder da, unglaublich, ich bin überglücklich. Und total erledigt.

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Sonntag, 3. Juli 2016
Ein Nachbar
nnier | 03. Juli 2016 | Topic In echt
Uns trennten ein paar Jahre, das merkte man manchmal bei Kneipengesprächen über ZDF-Vierteiler oder Musik: Da wussten wir meist genau, wovon der andere sprach, aber wenn es zu früh in die 70er oder zu spät in die 80er ging, sagte man: Ja, doch, schon mal gehört, aber ...

Er kam aus dem Norden des einen Bundeslandes, ich aus dem Süden des anderen: Luftlinie ist das keine Strecke, und meist wussten wir genau, wovon der andere sprach, nur manchmal hatte man zwar schon mal gehört, aber ...

Wir stellten irgendwann fest, dass wir so gut wie Nachbarn waren, gerade mal ein Sträßchen auseinander. Das war, als ich das Programmieren lernte, und ab und zu, vor Klausuren, verabredeten wir uns zum Üben.

Noch öfter verabredeten wir uns nach den Klausuren. An diese Abende erinnere mich gerne, ein gemischter Weiterbildungshaufen mit ihm als informellem Klassensprecher: Vollkommen unerwartet waren das keine blutleeren IT-Nerds, sondern Menschen mit einem Leben, und wir haben viel gelacht damals.

Wir blieben in Kontakt, hatten gleichaltrige Kinder, und vor zehn Jahren sah ich in seinem Garten dabei zu, wie Deutschland bei der WM gegen Italien ausschied, das ist mir gestern wieder eingefallen. Manchmal luden wir uns gegenseitig zum Geburtstag ein.

Es gab nicht genügend Schulplätze im Stadtteil, da hängten wir uns beide rein, er aber hatte diese natürliche Art, den Organisator und Kohortenführer zu geben: Termine und Treffen und Telefonate, das lief alles über ihn, und ich habe sein Engagement bewundert. Schulelternsprecher, Stadtteilbeirat, so brachte er sich ein, und ich schätze Menschen, denen so etwas wichtig ist, ohne dass sie sich selber wichtig tun.

Die Kinder wollten ins Ausland, da setzten wir uns zusammen und besprachen die Möglichkeiten. Sein Sohn war ein Jahr früher dran, jetzt ist mein Mädchen unterwegs. Wenn wir uns trafen, sprachen wir darüber. Er hatte eine riesige Comicsammlung und lieh mir Watchmen, als es noch keiner kannte; ich schenkte ihm Didi & Stulle und begeisterte ihn für Fil, bei dessen Auftritten wir uns seither immer begegneten.

Sie kennen das ja, man nimmt sich vor: Den rufe ich bald mal wieder an, oder man trifft sich auf der Straße: Lass uns doch mal wieder!, und immerhin, das haben wir nie abreißen lassen. Trotzdem musste ich überlegen: Wann haben wir uns eigentlich zuletzt gesehen?

Das war, als mir jemand sagte, dem geht es nicht gut, und ich habe dann noch eine Zeit gebraucht, bis ich mich gemeldet habe. Dann holte ich ihn ab und wir gingen zur Kneipe, blieben stundenlang und rauchten viel. Das Leben ist nicht fair, sagte er, nachdem er fertig erzählt hatte, und du brauchst nichts zu sagen, man kann eh nichts dazu sagen. Von seinen letzten Konzertbesuchen erzählte er und dass er bald zu Fil nach Hamburg fährt, denn in Bremen tritt der erst im Herbst wieder auf. Sudoku konnte er immer gut, sagte er, und jetzt sitzt er stundenlang an einem, über dem steht: "Leicht", und bekommt es nicht hin. Oder eine Excel-Tabelle sortieren: Keine Chance, sagte er, und das als Programmierer.

Da arbeitete er schon nicht mehr, und wir liefen durch die Nacht nach Hause, man musste nebenbei ein wenig auf ihn aufpassen, da ihm das Geradeauslaufen Probleme machte, und trotzdem vergrub er sich nicht zu Hause: Konzertbesuche, Zugreisen und Kneipenabende wollte er sich anscheinend nicht nehmen lassen, das fand ich unglaublich stark, und wir redeten noch über Filme und Musik und dass wir uns bald wieder verabreden wollten.

Beim Markt kamen wir uns entgegen und unterhielten uns ein paar Minuten, da musste ich weiter und sagte, ich melde mich noch vor meinem Urlaub, er ging mit Stock und sagte: Ja, besser du meldest dich, für mich ist das etwas schwer gerade. Ich bin dann in den Urlaub gefahren, schrieb noch eine Mail: "... und melde mich danach", aber das wird nicht mehr passieren.

Er hat hier gerne mitgelesen, das sagte er mir regelmäßig, und ich winkte ab: Doch, meinte er, ist immer eine angenehme Atmosphäre, freundliche Menschen, und als solchen werde ich ihn in Erinnerung behalten.

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Sonntag, 22. Mai 2016
Do the Bartman
nnier | 22. Mai 2016 | Topic In echt
Sie kennen das ja: Bei der wöchentlichen Rasur trägt man die Stoppeln nicht einfach ab, sondern lässt bis zum Schluss einen albernen Kinnbart stehen. Oder man schert nur eine Seite und tut völlig normal, wenn der Paketzusteller eine Unterschrift möchte. Oder man kommt mit einem Lemmy-Kilmister-Sadistenbart zum Frühstück.

"Du musst doch aber auch Rücksicht auf deine Mitmenschen nehmen", sprach vor Jahrzehnten die Mitbewohnerin, als ich mich eines morgens mühsam auf Sportlehrer getrimmt hatte und mit meinem Schimanski-Schnauzer darauf bestand, dass ich so endlich auch Biologie auf Lehramt studieren könne. Und geben Sie's doch zu, als Letztes bleibt immer ein Quadrat unter der Nase und man will irgendwas ausrradierrren. So jedenfalls gestern bei mir, ich bin dann erst mal zum Frühstück gegangen und die kennen das ja, die sagen schon nichts mehr, nur dass ich auf dem Markt an den Salat denken soll.

Alle waren sehr freundlich zu mir, dauernd dachte ich: Da schimpft man immer über seine griesgrämigen und verbitterten Mitbürger, aber schau nur, wie sie lächeln, auch der gute Bekannte, den du noch getroffen hast, und später im Supermarkt die Leute und vor allem die Frau an der Kasse, richtig nett alle!

"Warst du so einkaufen?", und ich dachte: Ist ja Samstag, ist ja schönes Wetter, da kann man doch mal eine kurze Hose anziehen, bei der Arbeit würde ich das ja nicht machen, aber doof ist das schon, dass es für Frauen so schöne Sommersachen gibt, die ganzen Kleidchen jetzt wieder, und Männer können entweder aussehen wie ganz große Grundschüler oder halt schwitzen, also klar war ich so einkaufen, und ich habe gerade noch einen schönen Kopf Salat bekommen.

Abends dann zu Gast bei guten Freunden, da bringt jeder eine Kleinigkeit zu Essen mit und es ist immer zu viel, aber lecker: Suppe, Hirseschnitten, Salate, Hefeteigdinger mit Pilzfüllung, und das hier ist die Lisa und das sind Helga und Klaus, und das ist der nnier, hallo, angenehm. Nach je zwei Partien Mystery oder wie das heißt und Codenames hängt nachts im Bad so ein Spiegel und man schaut rein und lacht, weil keiner was sagt, erst auf dem Heimweg erfährt man, dass die eine gefragt hat, sag mal, hat der eigentlich schon immer einen Bart?

Nachdem ich neulich schon den ganzen Tag eine Primark-Tüte durch die Firma getragen habe, steht mir der Sinn nach weiteren sozialen Experimenten:

- Im Meeting ein T-Shirt "Bier rein / Bier raus" (Pfeil nach oben / Pfeil nach unten) tragen
- Mit einem Hummer zur Arbeit fahren
- Dabei den Chef vom Fahrrad hupen
- Einen "SPD"-Button anstecken
- Samantha Fox als Bildschirmhintergrund einrichten
- Das Lied "Hallo, guten Morgen, Deutschland" von Willy Astor als Klingelton einstellen

Der Rasierer ist vorhin runtergefallen, gleich beim Einschalten, aber ich habe sofort ein neues Scherblatt bestellt, das kommt schon in wenigen Tagen.

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Sonntag, 15. Mai 2016
Unterirdisches mit Condimento
nnier | 15. Mai 2016 | Topic In echt


Es geht so einfach: Ein paar Esslöffel Essig, ein paar Esslöffel Öl, etwas Salz, etwas mehr Zucker miteinander verrühren. Über kleingeraspelte Möhren oder Sellerie schütten, durchmischen und eine Nacht lang im Kühlschrank einwirken lassen. Man kann dann morgens, mittags und abends davon essen, vor allem, wenn auch noch jemand was Feines aus Roter Bete und richtig schmackigen Kartoffelsalat gebastelt hat.

Mjamski. Warum mache ich das nicht öfter?

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Montag, 18. April 2016
T.
nnier | 18. April 2016 | Topic In echt
Aus deinem Zimmer raus nach rechts, den Gang runter, links um die Ecke zum Fahrstuhl. Damit ins Erdgeschoss, rechts raus durch zwei Türen, die nicht automatisch aufgingen: Die musste man dir aufhalten. Nach links am Haus entlang, dann rechts über den Hof. Die Betonplatten um den Baum herum geschlitzt und uneben, aber das ging irgendwie, und bei der Einfahrt raus, vorbei an der alten Braumeistervilla, in der jetzt Physiotherapie angeboten wird: Das alles war ja mal das Brauereigelände. Direkt über die Straße und ein Stück nach rechts auf der Gegenfahrbahn entlang, so ging das am leichtesten mit deinem Wägelchen, und bei der Garageneinfahrt wieder auf den Bürgersteig.



Noch ein Stück bis zum Gartentor, hier das Wägelchen leicht anheben, und über den gepflasterten Weg zur Haustür. Dort das Wägelchen die Stufe hoch, da musste man dir helfen, dann warst du im Haus. Du hast dich am Geländer festgehalten oder am Türrahmen, während man das Wägelchen zusammengeklappt und in die Ecke gestellt hat. Vier Stufen Steintreppe, nach rechts drehen, dann kommen neun Stufen Holztreppe. Seit wir auf beiden Seiten Geländer haben, hast du das wieder alleine machen können, unglaublich! Noch einmal rechts rum, noch einmal sieben Holzstufen, durch die Wohnungstür. Jemand half dir aus dem Mantel, du musstest dich nicht festhalten, und dann durch die Küche an den Tisch im Wintergarten: Jemand hat dir die Hand gehalten, aber du konntest das noch ohne Stock laufen, und wenn du schließlich auf dem Stuhl gesessen hast, warst du froh über einen Schluck Wasser.



Das war dein Weg in den letzten Jahren, den bin ich jetzt noch mal alleine gegangen und habe mich gefreut, wie viel wir noch voneinander haben konnten. Du hattest umziehen müssen, nach über 90 Jahren, musstest weg von da, wohin man unendlich lange mit dem Auto fuhr, und dorthin, wo ich als Kind aus unserem Fenster den großen Garten der Braumeistervilla sehen konnte: Ausgerechnet da haben sie vor ein paar Jahren ein Heim gebaut. Leicht war das bestimmt nicht für dich, und doch war es gut, glaube ich. Ich bin froh, wie oft wir uns noch sehen konnten, mittagessen, rommeespielen, kaffeetrinken, miteinander sprechen. Das geht jetzt nicht mehr.



"Dann kam schon das elektrische Licht", hast du einmal erzählt, da habe ich mal wieder geahnt, aus welcher Welt du gekommen bist. Dein eigenes Licht ist jetzt erloschen. Schön, dass du da warst.

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Donnerstag, 25. Februar 2016
Mein Herz
nnier | 25. Februar 2016 | Topic In echt
An einen Tag muss ich oft denken, das war im letzten Sommer, nicht lange, bevor du gegangen bist. Ich kam von der Arbeit, nahm einen anderen Weg als üblich, der führte mich beim Kieferorthopäden vorbei. "Da muss sie die Tage auch noch hin, da hat sie die Tage auch noch einen Termin", wollten die Zahnräder in meinem Kopf gerade ineinandergreifen, da hörte ich deine Stimme: "Papa!", und wie wir uns beide gefreut haben, wie du mit deinem türkisblauen Hollandrad auf mich zugefahren bist, wie wir uns um den Hals gefallen sind, das war ein so schöner Moment, den werde ich nie vergessen.

Da war viel los in dieser Zeit, ich kam gar nicht mehr mit, und du kamst also gerade vom Kieferorthopäden, dann sind wir zusammen nach Hause gefahren und haben uns unterhalten und Quatsch gemacht und gelacht. Es gab noch so viel zu regeln und der Abschied rückte näher, das kam mir vollkommen unwirklich vor, nur manchmal nachts bin ich hochgeschreckt und spürte, das wird bald wirklich passieren.

Ich komme hier gut klar, in deinem Zimmer wohnt jetzt der Australier und übt singen für den Domchor. Die Kaninchen füttere meistens ich, und wir haben im Flur umgeräumt. Das geht schon alles, sage ich allen, die fragen: Doch!, gut!, sage ich denen, und dass es dir auch gut geht da drüben, und ausgerechnet dann kriege ich immer diese rauhe Stimme.

Das ist ein interessantes Jahr, das macht mir alles Spaß mit den Gastschülern, und ich hab dir einen Kuchen gebacken, den müssen wir ohne dich essen. An den Tag mit dem Kieferorthopäden denke ich oft, und jeden anderen Tag (von bisher 6210) habe ich mich genau so gefreut, dass es dich gibt. Lass es krachen, feier schön, ich drücke dich! Genieß die Zeit bis zum Sommer. Und wenn du wiederkommst, das wird vielleicht schön!

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