Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Sie hätte geschwiegen
nnier | 20. Juli 2015 | Topic Ja nee
Dass sie ehrlich war, spielt keine Rolle. Das hätte sie auch im Privaten sein können. [Q]
Mich stört der Schicksalsboulevard ohnehin, und als vor einigen Jahren die tapfere Rückkehr der Moderatorin nach Aneurysma und monatelangem Koma inszeniert wurde, ging mir das durchaus auf die Nerven: Triumph des Willens, bzw.: Seht ihr, es geht doch, so der Subtext all der Auftritte, Berichte und Interviews damals. Dann noch das Ärgernis eines zu hoch dotierten Werbevertrages für eine Fernsehlotterie und ein unpassender Heiratsantrag vor laufender Kamera - bei aller Sympathie für ihr Schicksal und ihren Kampfeswillen, ich hätte nicht gedacht, dass ich mich mal mit Monica Lierhaus solidarisieren würde.

Da stolpere ich in der Boulevardabteilung meines E-Mail-Anbieters über das Interview mit zwei Vertretern von Behindertenverbänden: "Aussage kommt einem GAU gleich", schallt es mir in der Überschrift entgegen, und ich reibe mir die Augen: Da hat die Frau also gesagt, dass ihr ohne die Hirnoperation "vieles erspart geblieben" wäre - und das ist ein GAU, ein Größter Anzunehmender Unfall?
Auf die Bemerkung, dass sie ohne die Operation tot wäre, entgegnete Lierhaus: "Egal. Dann wäre mir vieles erspart geblieben." [Q]
"Denn die Botschaft, die ankam, ist: Ein Leben mit einer solchen Behinderung ist nicht lebenswert", heißt es natürlich sogleich in dem Interview, und ich bin relativ fassungslos. Jemand sagt: Es geht mir schlecht, jemand sagt: Ich bin unglücklich, ich wäre lieber tot, jemand sagt: Ich würde die Entscheidung heute anders treffen - und es "kommt an", dass "ein Leben mit einer Behinderung nicht lebenswert" sei!?

Mal kurz nachdenken: Was "ankommt", liegt nicht nur beim Absender, es liegt ebenso beim Empfänger - eine Binsenweisheit, doch frage ich mich, ob der Zwang zum "positiven Denken" inzwischen die öffentliche Kommunikation dermaßen beherrscht, dass eine schlichte und subjektive Aussage wie "Es geht mir beschissen" kaum noch getätigt werden kann, ohne sich dem Vorwurf des Defätismus auszusetzen. Denn alles stürzt sich allein auf die (vermeintliche) Wirkung einer solchen Aussage: "Jetzt sieht alles wieder nach Aussichtslosigkeit und ewigem Leid aus. Darum wäre es besser gewesen, sie hätte geschwiegen", heißt es in dem Interview - und Aussichtslosigkeit und langes Leiden darf es nicht geben, die darf man nicht empfinden, vor allem aber nicht äußern. Denn dann verlieren ja alle anderen sofort ihren Mut: "Sie hat aber mit ihrem Interview die Arbeit von vielen zunichte gemacht, die zeigen, dass auch ein Leben mit Behinderung lebenswert ist."

Ganz ehrlich: Ist das so einfach? Tickt ihr so einfach? Wenn jemand sagt: Alles scheiße bei mir, dann gebt ihr auf? Wenn jemand sagt: Alles super trotz Lähmung, dann bringt euch das gut drauf? Muss denn wirklich immer alles Propaganda sein, und sei es gut gemeinte? Fühlt sich das nicht manchmal etwas hohl an?

Ich hoffe, mir passiert so etwas nie. Und ich hoffe, wenn mir so etwas doch passiert, dass ich dann trotzdem unheimlich positiv drauf bin und von allen Seiten ganz doll unterstützt und ermutigt werde. Ich hoffe aber auch, dass ich verzweifelt sein und mein Schicksal verfluchen darf, ohne dass mir jemand vorwirft, dass ich meine Lebenssituation nicht annähme:
Für mich belegen Frau Lierhaus' Aussagen, dass sie ihre jetzige Lebenssituation nicht annimmt, sondern einem immerwährenden Vorher-Nachher-Vergleich unterwirft. Das ist nach einem solchen Einschnitt wie bei ihr normal. Aber nach fünf Jahren sollte diese Sichtweise nicht mehr dominieren.
Schicksalsschläge also bitte normgerecht innerhalb von max. fünf Jahren annehmen und vor allem nicht so laut schreien, das macht die Arbeit von ganz vielen Leuten zunichte. Danke für die Info.

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venice_wolf, Dienstag, 21. Juli 2015, 08:39
Ist doch gar nicht einfach, solche Container an Klugheiten und Lebensweisheiten und vermeintlichen Informationen fuer die Welt jeden Tag voll zu bekommen, damit zwischen der Werbung doch mal ein vermeintlicher Inhalt vorhanden ist. Dazu die Hitze, der Sommer, Verdauungsprobleme, eine Delle auf der Autotuer, das Smartphone ins Klo gefallen, die falsche Mondphase, und dann versuchen Sie einen vernuenftigen Artikel zusammenzukriegen

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nnier, Dienstag, 21. Juli 2015, 15:57
Ich vermute, dass der ernstgemeint ist, und die Fragen in dem Interview sind gar nicht mal die falschen.

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mark793, Dienstag, 21. Juli 2015, 16:19
Danke, dass Sie mir die Arbeit abgenommen haben, meine Gedanken zu diesem denkwürdigen Vorgang auszuformulieren. Ich nehme aus dem Interview mit den Behinderten-Lobbyisten nicht zuletzt mit, dass Ehrlichkeit in der Öffentlichkeit nichts verloren hat, Klartext ist nur was für die Privatgemächer. Überall sonstwo bitte nur Weichgespültes und behindertenpolitisch Erwünschtes, sonst gibts Saures und ungefragte/unbezahlte Ferndiagnosen.

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nnier, Mittwoch, 22. Juli 2015, 00:36
Man spricht X aus oder verschweigt Y und bewirkt damit Z: So einfach sind die Welt und der Mensch zum Glück dann doch nicht gestrickt, und es ist ein Denkmuster, das mich in seiner Plumpheit immer wieder überrascht. Ich mag es gar nicht ausbuchstabieren - aber macht jemand, der in ihrer Situation sagt: Ich hätte mir vieles erspart, tatsächlich und ausschließlich die jahrelange Arbeit derjenigen zunichte, die meinen, dass sie für die Anerkennung Behinderter kämpfen? Kann so etwas nicht, nur zum Beispiel, auch Trost spenden: Da, schau, auch einer privilegierten Powerfrau geht es manchmal richtig dreckig, ich bin gar nicht alleine? Kann es nicht Trotz hervorrufen: Soll sie es doch so sehen, ich aber lasse mich nicht unterkriegen! Und so weiter. Was für ein erbärmliches, eindimensionales Menschenbild muss man eigentlich haben, wie sehr seiner eigenen Propaganda auf den Leim gehen, wenn man glaubt, die Wirkung einer schlichten Selbstkundgabe wie "Es geht mir nicht gut" so klar beurteilen zu können. Und dann überhaupt, Wirkung: Es gibt mehr im Leben und in der Sprache als immer nur diese.

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vert, Dienstag, 21. Juli 2015, 16:44
wenns mal nur der schicksalsboulevard wäre... blick zurück nach zon: http://blog.zeit.de/stufenlos/2015/07/18/der-baerendienst-von-monica-lierhaus/

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nnier, Mittwoch, 22. Juli 2015, 00:49
Ach, ja. Bärendienst ... auch hier wieder einzig die Frage nach dem angeblichen Schaden oder Nutzen: "Monica Lierhaus kann über ihr Leben denken, wie sie möchte. Aber indem sie ihre negative Einstellung in die Welt hinausposaunt, transportiert sie ein Bild, das Menschen in einer ähnlichen Situation mehr schadet als nutzt". Danke für die Denkerlaubnis, und haltet mal nicht alle Menschen für so schlicht.

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kid37, Mittwoch, 22. Juli 2015, 01:28
Ich stieß heute zufällig auch auf das Interview und war überrascht, weil die Fragen ziemlich gut waren (die Autorin hat eine ganz gute Agenda, scheint mir), vor allem, wenn man überlegt, daß das jetzt auf dem web/gmx-Portal erschien. Die Antworten der beiden "Interessenvertreter" haben mich befremdet. (Außerdem ist es nicht sehr überzeugend, wenn der eine vorgibt, nichts von Lierhaus' Engagement für die Behindertenarbeit zu wissen.)

Ich kann die Frau verstehen, zumal, wenn man überlegt, daß sie möglicherweise in mehr Dingen eingeschränkt sein wird, als man öffentlich verhandelt. Wer will da richten? Ihr Leben, ihre Meinung.

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nnier, Mittwoch, 22. Juli 2015, 23:33
Ja. Und jeder stülpt seins drauf, da wird nicht zugehört, nicht nachgefragt und schon gar nicht an der eigenen Propaganda gezweifelt: Ein Graus.

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sopravvivere, Dienstag, 28. Juli 2015, 16:33
Typisch Mensch.
Stellt Fragen auf die er keine Antwort erhalten will - und wenn dann bitte auf keinen fall eine ehrliche.

Und alle schlechten Situationen müssen optimistisch und positiv bewertet werden, obwohl die betroffenen die Situationen einfach nur zum kotzen finden und irgendwann nicht mehr die Kraft für die ewigen Lügen aufbringen können.

Zu guter Letzt soll man am Boden liegend und blutend noch auf heiter Sonnenschein machen - anstelle die Dinge einmal beim Namen zu nennen. Als würde das irgendjemandem etwas bringen.

***

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