Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Geht doch alle pleite, ihr Algorithmenschweine
nnier | 24. Mai 2012 | Topic In echt
Gesellschaften brauchen offenbar Seismografen für Verkrustungen.
(Giovanni di Lorenzo)*

Odo Marquard hat das mal "Inkompetenz­kompensations­kompetenz" genannt.
(Frank Schirrmacher)*
Es ist ganz interessant, das Gespräch mit di Lorenzo und Schirrmacher in der aktuellen "Zeit". Einmal geht es darum, dass es von Größe zeugt, mal etwas nicht zu machen, auch wenn es Aufmerksamkeit (bzw. Auflage) bringt, wie z.B. ein bestimmtes Gedicht von Günter Grass abzudrucken. Von der Titelseite schaut einen unterdessen Thilo Sarrazin an. Den hat wahrscheinlich das Leserbarometer dahingespült.



"Sie haben neulich an einer Online-Umfrage zur Qualität der X-Zeitung teilgenommen." - "Nein." - "Spreche ich denn nicht mit Herrn nnier?" - "Doch." - "Ja, aber dann haben Sie neulich an unserer Umfrage im Internet teilgenommen." - "Ne-hein!" - "Aber Sie interessieren sich für die X-Zeitung!?" - "Ich will nicht drüber sprechen."

Die Post ist da. "Sehr geehrter Herr [Vorname], Ihre Entscheidung für die Xtra Card der Telekom ist eine gute Wahl!", steht in dem Brief. Darin liegt eine SIM-Karte ("Ihre Xtra Card"), die ich jetzt "einfach aktivieren" soll. Ich habe eine solche Entscheidung aber gar nicht getroffen, das würde ich jetzt gerne jemandem erzählen, doch eine Telefonnummer steht nicht in dem Anschreiben.

Ich wüsste zu gerne, ihr Schweinepriester von der Telekom, wie ihr dazu kommt, mir unaufgefordert eine SIM-Karte zuzuschicken. Wirklich! Ist das ein Massenmailing, läuft das über eine Datenbank, gehöre ich zur Zielgruppe der Naiven und Treudoofen, mit denen man's mal versuchen kann? Lohnt sich so eine Omabescheißerei, gibt es vielleicht genügend Leute, die den Überblick über ihre Handyverträge nicht haben und dann einfach mal eine neue SIM-Karte "aktivieren"? SPINNT IHR EIGENTLICH, HABT IHR KEINERLEI HEMMUNGEN MEHR, SEID IHR JETZT AUF DEM NIVEAU VON HEIZDECKENVERKÄUFERN AUF DER KAFFEEFAHRT ANGEKOMMEN?

Oh, Shit! Mein Verkrustungsseismograph schlägt aus.

Gut möglich, dass ich bestraft werde, denn ich habe gesündigt. Sie wissen das ja schon, dass Groupon ein ganz übler Laden ist, und ich hätte es mir sicher denken können, hatte aber bis vor kurzem meinen Blick mehr auf das absurde Geschäftsmodell gerichtet - und aus einer perversen Faszination heraus immer öfter hingeschaut und dann auch manchmal etwas bestellt.



Selbst schuld!, mögen Sie nun denken, das kann ja gar nicht anders sein, Wer billig kauft, kauft zweimal etc., danke, bitte, ich will hier auch kein Mitleid, ich will bloß, dass Sie noch rechtzeitig Ihre Aktien verkaufen, denn das kann einfach nicht mehr lange gutgehen. Ich habe ja neulich schon berichtet, dass hinter den Kulissen etwas nicht stimmt, wenn der Putzmann anruft und sagt: Tut mir leid, ich komme nicht, wir zahlen dabei noch drauf. Überlegen Sie mal: Das quält den Kunden und den Putzmann, während der Schweineladen die Verträge sicherlich so gestaltet hat, dass er sich am Putzmann schadlos halten kann, auch wenn der Kunde das Geld zurückbekommt. Trotzdem: Das ist Heuschrecke pur, das hinterlässt Schneisen der Verwüstung, das zeugt von hohem Verkaufsdruck und schlechter Beratung der Geschäftspartner, die offenbar gnadenlos ausgenommen werden, egal was morgen ist.

Wenn ich allerdings Versandprodukte gesehen habe, dachte ich bislang: So ein Putzmann, der schätzt das womöglich falsch ein, oder eine Friseurin, die plötzlich 300 ungeduldige Schnäppchenkunden da stehen hat, aber bitteschön: Versandartikel, das klappt schon.

Bei den Fotobüchern stimmte das auch - mehr oder weniger. Dann bestellte ich zwei Dingse. Das ist fast vier Monate her.

Ich bekomme keine Lieferung, ich bekomme vom Anbieter keinerlei Reaktion, ich bekomme von Groupon irgendwann folgende Antwort:
Selbstverständlich haben Sie auch die Möglichkeit vom Kauf des Gutscheins zurückzutreten. Da dieser jedoch bereits eingelöst wurde, benötigen wir von Ihnen hierzu eine Stornierungsbestätigung Ihrer Bestellung von unserem Kooperationspartner in Kopie
was total prima ist, da dieser sich wie gesagt totstellt, und werde auf erneute Nachfrage folgendermaßen abgekanzelt:
Aufgrund der großen Nachfrage kann der Vorgang bei 2Waction bedauerlicherweise längere Zeit in Anspruch nehmen. Leider haben wir keinen Einfluss darauf, wie viel Zeit dieser Vorgang in Anspruch nehmen kann.
Ich will Sie nicht mit den kleinen Ärgernissen meines Alltags langweilen. Ich erzähle das, damit Sie wissen, worauf man sich einlässt: Einen Laden, der unseriöse oder schlicht überforderte Klitschen als "Kooperationspartner" anwirbt, von den Kunden vorab das Geld kassiert und sich dann darauf zurückzieht, "keinen Einfluss" darauf zu haben, ob und wann die Leistung erbracht wird. Und zwar systematisch. Das sollte man sich klarmachen.

Hallo!? Wo sind Sie? Ach - Sie wollen schnell noch Ihre Aktien verkaufen! Oh, keine Ursache. Danken Sie nicht mir. Danken Sie meiner Inkompetenz­kompensations­kompetenz.

--
*"Die Zeit" No. 22 vom 24.5.2012, Dossier Am Medienpranger, S. 15-17.

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prieditis, Freitag, 25. Mai 2012, 03:33
Der Punk trägt ja nicht mal Sockenhalter!

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 11:33
Roter Irokese schockt heute niemanden mehr. Der echte Punk trägt Anzug mit Bügelfalte und lässt im Sitzen sein bleiches Bein aufblitzen.

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prieditis, Freitag, 25. Mai 2012, 12:20
Sie meinen diesen Sascha Lobo, nicht wahr?

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 13:44
Der hat das mit dem Trademark ganz offensichtlich geschafft. Übrigens: Es gibt eine Zeitschrift "Business Punk". Darin geht es laut Claim um "Typen, die in Unternehmen etwas unternehmen" - Entschuldigung, ich muss mich kurz in meinen Mund übergeben - und die wurde auch schon über das Scnäppchenportal verhökert. But now Punk is finally really dead.

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venice_wolf, Donnerstag, 31. Mai 2012, 16:18
Gutschein-Indikator These: Geht es der Wirtschaft schlecht, nutzen mehr Kunden Gutscheine, die sie aus Zeitungen oder ähnlichem ausschneiden können.
Beweis: Im Jahr 2009 wurden in den USA 3,3 Milliarden Gutscheine eingelöst.

ich sag's ja. weitere anregende Beispiele
http://money.oe24.at/Die-irrsten-Wirtschafts-Indikatoren-der-Welt/67672879

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g., Freitag, 25. Mai 2012, 07:26
"Shopp Dich glücklich, Baby!" Das hat aber was, doch, doch.

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 13:49
Und aber auch der Markenname!

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venice_wolf, Freitag, 25. Mai 2012, 09:03
Wiewohl der Ausdruck "Lesebarometer" heutzutage fast alles beherrscht.
Jedenfalls: dass der Putzmann draufzahlt sollte er schon selber wissen, wenn er auf sowas eingeht. Er ist schliesslich nicht Minderjaehrig oder Unmuendig. Wenn sonst nix, schon von den Gespraechen mit Mohamed, der Aushilfe der die Fladen mit Yoghurt und scharfem Zeug bestreicht, wenn sie am Feierabend noch ein G-Kebab essen.
Nochwas: in meinen Zukunftstudien habe ich schon vor einiger Zeit vorausgesehen, dass die Autoverkaeufer bald von Tuer zu Tuer gehen und Autos verschenken, eins pro Strasse, wenn man schnell noch mit den Servicepaket einverstanden ist und diese 10 kleine Zeilen da unten noch schnell unterschrieben hat - (Blink, Glitzer, Schwefel-Chemie- und Reifengeruch) machen Sie sich gefasst, Ihr neues Auto koennte schon vor der Tuer stehen.
Jajaaa, ich komme ja schon ( ich muss los, die Kaffefahrt faengt gleich an)

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 14:33
Klar, grundsätzlich sollte jemand, der Geschäfte machen will, auch rechnen können. Man muss aber mal bedenken, unter welchem massiven Druck hier auf Teufel-komm-raus "Deals" abgeschlossen werden: "Alles ist erlaubt, um einen Deal zu holen. Es wird alles versprochen, was der Kunde hören will. Es wird meist verschwiegen, dass eine Deckelung der Deals möglich ist, so dass mehr daran verdient wird. Das führt häufig dazu, dass kleine Unternehmen auf einmal so viele Kunden haben, dass sie diese nicht bedienen können." [Q] - und gerade neulich habe ich wieder gestaunt, als ein Fenster- und Fassadenreiniger aus einer Kleinstadt in über 100 km Entfernung hier in Bremen unschlagbar günstige Pauschalpreise über Groupon angeboten hat. Der würde schon für Benzin und Material draufzahlen. Nun stelle ich mir den vielleicht unbedarften Kerl mal vor, der sich da abrackert und plötzlich angerufen wird: Wir können Ihnen ganz viele neue Kunden verschaffen, und dann wird ihm das Blaue vom Himmel versprochen.

Spielen wir's mal durch: 20 Leute schlagen zu, 20 mal muss er den ganzen Tag fahren, arbeiten und draufzahlen - oder muss eine saftige Vertragsstrafe zahlen, wenn er es eben doch nicht tut. Das kann reichen, um so einen Einmannbetrieb in den Konkurs zu hauen. Ich möchte wirklich nicht der Unmündigkeit das Wort reden, aber der Eindruck, dass hier um jeden Preis und mit unfairen Mitteln irgendwelche "Deals" durchgedrückt werden, ist schon verheerend. Und widert mich wesentlich stärker an als das Thema Ramsch, das es auch gibt.

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venice_wolf, Freitag, 25. Mai 2012, 15:03
Ja und nein - es passt in die Zeit. Als Beobachter und Zufunftstratege sehe ich das schon lange, und halte es fest: es steht fast alles Kopf. Nehmen wir diese Beispiele, nehmen wir zwei Figuren als vergleich:

A) Angestellter/Lehrling/Teilzeitarbeiter mit Niedriglohn
B) Gut- Besser- oder Topverdiener

wie oft sieht man bei uns (besonders in Italien)
- A hat das letzte I-phone für 899 Euro (welches nach 6 Monaten das Vormodell um 499 Euro abloest) B ein 14,99 Nokia Kindermodell
- A hat ein funkelnagelneues Auto, B fährt eine rostige Kiste oder Fahrrad.
- A hat für eine Traumhochzeit 25.000 Euro mit Elefanteparade hingeblättert (auf Raten selbstverständlich), B ist mit 2000 Euro auch weitergekommen (dal lustige: A lässt sich nach 1 Jahr scheiden und muss aber noch 9 Jahre nach Scheidung auch noch zahlen)
- A hat eine Massküche aus Edelholz, B kocht seine Suppe in Minimalset-up aus Schweden
- A bevorzugt zerfetzte Jeans die 220 Euro kosten, Polo 140 Euro und Turnschuhe im selben Preisniveau (Turnschuhe !!! normalerweise zum verschwitzen wenn man im Park läuft) B hat insgesamt 59,90 Euro ausgegeben
(Fortsetzung folgt)

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 17:04
"Von den Reichen kann man das Sparen lernen", das musste ich auch erst mal akzeptieren, denn ich wuchs in einer Welt auf, in der arme Schweine grundsätzlich erst mal besser waren als reiche Schweine. Da kam es schon manchmal zu kognitiven Dissonanzen, wenn bspw. der "arme" Mitschüler, für den vor der Klassenfahrt alle solidarisch ein wenig mehr bezahlten, damit er auch mitfahren konnte, zugleich einer war, der die Markenturnschuhe trug und die Coladosen trank, die für viele eben unerreichbar waren. Dass es jenseits von ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen noch etwas gibt, und dass dazu ganz profane Dinge wie z.B. haushalten oder Bedürfnisse aufschieben zu können gehören, musste ich mühsam in mein Weltbild integrieren, denn es klang so gefährlich nach "Die Armen sind selber schuld".

Von den Reichen kann man aber auch das Arschlochsein lernen, oder das Verbrechersein, oder das Omabescheißen, das kommt ganz drauf an.

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venice_wolf, Freitag, 25. Mai 2012, 17:24
Da muss ich zustimmen. Vor allem weil sie das am wenigsten brauchen (siehe die Lego Geschichte)
So, ab morgen ist wieder der Zaun und der Holzhaufen hinterm Haus dran. Der nächste Winter kommt bestimmt und bald ist Auftrieb.

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jean stubenzweig, Freitag, 25. Mai 2012, 16:29
Aktien? Sie meinen die, die ich kürzlich erworben habe und mit denen man mich reingelegt hat? Von denen die Moderatorin des Aufklärungssenders in der ersten Reihe meinte, auch die würde der «kleine Mann» bezahlen.

Danke, bester, lieber Nnier. Nein, Sie langweilen wahrlich nicht mit Ihren «kleinen Ärgernissen meines Alltags». Denn dieser Alltag kann gar nicht oft genug beschrieben werden. Dennoch schwindet meine Hoffnung zusehends, die Leutchen könnten es endlich mal kapieren, daß sie mit diesen Internettereien fortwährend behumpst werden.

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nnier, Freitag, 25. Mai 2012, 17:19
Die Facebook-Aktien zahlt der kleine Mann vor allem dadurch, dass er sein Leben und seine sozialen Beziehungen in diesen Schlund kippt. Eigentlich war das sogar der Aufhänger für obiges, dazu schreibe ich vielleicht noch etwas, denn die Krake dringt in meine unmittelbare Umgebung vor.

Aber auch der Schnäppchenladen ist vor einer Weile an die Börse gegangen, und für mich war es immer ein Rätsel, wie eine so simple, leicht kopierbare Idee einen solchen Unternehmenswert begründen soll. Die Nachrichten der letzten Zeit und dazu meine eigenen Eindrücke schreien laut: Raus, raus da! Aber mir ist das natürlich wurscht, ich habe weder Aktien noch Ahnung davon - und ich hab's oben schon geschrieben: Sollen sie doch alle pleitegehen.

(Danke. Ich sollte vielleicht öfter mal eine Woche auf dem Bett liegen und den Schrank anstarren. Dann komme ich wenigstens zu etwas.)

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